Die ganze Welt und vor allem die Berichterstattung ist gefangen von den sich überschlagenden Ereignissen in den USA. Die ersten Maßnahmen des neuen Präsidenten Donald Trump verheißen tatsächlich den Versuch einer Umsetzung seiner Wahlversprechen auf Kosten „der anderen“ – darunter auch von Menschen, die in den USA Zuflucht suchen wollen. Die sollen draußen bleiben (müssen). Ob das nun über eine Mauer an der mexikanischen Grenze oder aber über ein kollektives Einreiseverbot für Menschen mit einer bestimmten Staatsangehörigkeit erreicht werden soll – die Botschaft bleibt die gleiche: Abschottung. Grenzziehung. Ausschluss. Und immer wieder verweist der neue Präsident auf die angeblich schrecklichen Zustände, die in Europa herrschen sollen wegen der vielen Flüchtlinge.
Dabei wird in Europa die Empörung über die USA selbst als heuchlerisch bezeichnet: Europas unsichtbare Mauer, so ist der Kommentar von Doris Akrap überschrieben: Donald Trump »könnte, wenn er wollte, ja mal nachfragen, wie die EU ihre unsichtbare Mauer an der Mittelmeerküste eigentlich nennt – und wie viele Flüchtlinge die EU dieses Jahr schon im Mittelmeer hat absaufen lassen.«
Und sie erinnert an zwei der zahlreichen – ihrer Meinung nach bizarren – Vorschläge des Bundesinnenministers Thomas de Maizière (CDU): »Aufnahmelager in Afrika nach türkischem Vorbild und die kostenlose Rückführung von im Mittelmeer aufgegriffenen Flüchtlingen nach Afrika, wo sie in Ruhe einen Asylantrag stellen können sollen.«
Ob bizarr oder nicht – genau in diese Richtung bewegt sich zumindest konzeptionell der große schwere Tanker EU. Marcel Leubecher berichtet darüber in seinem Artikel Die Festung Europa nimmt Konturen an:
»Langsam, aber sicher werden die Pläne zum Schutz der europäischen Außengrenzen konkret. Schon in der kommenden Woche könnten die EU-Regierungschefs auf dem Sondertreffen in Maltas Hauptstadt Valletta das Ende der aktuellen Hauptflüchtlingsroute Libyen–Italien einläuten. Mit mehr als 100 Millionen Euro sollen die Südgrenzen des Bürgerkriegsstaates Richtung Zentralafrika abgeriegelt werden, die Vereinten Nationen sollen die Versorgung für Migranten innerhalb Libyens aufstocken.«
Der Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) wird deutlich: Ziel müsse es dann sein, „dass Flüchtlinge gar nicht erst nach Europa gebracht werden, sondern zurückgebracht werden in sichere Orte“. Von diesen sicheren Lagern außerhalb der EU könnten dann „die Schutzbedürftigen – und nur die Schutzbedürftigen – nach Europa“, geholt werden.
Dieser (angestrebte) Paradigmenwechsel scheint auch in anderen europäischen Staaten auf fruchtbaren Boden zu stoßen, so wird der österreichische Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) dahingehend zitiert, er wolle durchsetzen, »dass Asylanträge nicht in Österreich, sondern in Asyl- und Migrationszentren im Niger, in Usbekistan oder Jordanien gestellt werden. Außerdem möchte er eine EU-weite Obergrenze zur Aufnahme dieser Flüchtlinge festlegen.«
Die Südeuropäer wollen die Dublin-Vereinbarung, wonach Migranten dort Asyl beantragen müssen, wo sie nach Europa einreisen, kippen. Zu dieser Vereinbarung (die Flüchtlingsfrage wurde europaweit 1990 im Dubliner Übereinkommen geregelt und 2003 durch die Dublin-Verordnung abgelöst) und ihren Problemen vgl. beispielsweise den Artikel In Europa angekommen – und dann? bereits vom 22.04.2015, also vor der Öffnung der deutschen Grenzen im Herbst 2015. Die Dublin-Vereinbarung hatte (und hat) zwei grundsätzliche Probleme – ein logisches und ein ganz praktisches:
- Durch die Regelung, dass die Flüchtlinge dort ihren Asylantrag stellen müssen, wo sie EU-Boden betreten haben (und falls sie weiter in das EU-Innere vorstoßen, von dort wieder in das Aufnahmeland zurückgeschickt werden können), überlässt man einige wenige Grenzstaaten der EU, vor allem Griechenland und Italien, die Hauptlast der Flüchtlingszuwanderung. Das wäre nur dann nicht der Fall, wenn es ein wie auch immer geregeltes System der Verteilung der Flüchtlinge auf alle EU-Staaten geben würden, so dass man die Menschen, die in den Frontstaaten gestrandet sind, idealerweise gleichmäßig verteilen könnte über den ganzen EU-Raum. Diese Regelung aber gab es nicht und sie gibt es auch heute nicht.
- Diese Einseitigkeit wurde in der Vergangenheit dadurch „gelöst“, dass die Aufnahmeländer eine irreguläre Weiter-Migration in die anderen EU-Staaten gefördert haben, in dem sie die Menschen haben ziehen lassen. Die Flüchtlinge wurden also gleichsam „durchgereicht“. Das nun ist seit den turbulenten Ereignisse im Gefolge der Grenzöffnung in Deutschland im Herbst 2015 nicht mehr möglich auf einer der beiden Hauptrouten, also von Griechenland aus über den Balkan weiter nach Österreich, Deutschland oder nach Schweden. Diese Route ist bekanntlich abgeriegelt oder zumindest doch weitgehend geschlossen werden. So dass die betroffenen Menschen in Griechenland hängen bleiben. Wie so oft ist alles auch eine Frage der Quantitäten – wenn, wie das seit 2015 offensichtlich der Fall geworden ist, zu viele Flüchtlinge kommen und an einige wenige EU-Staaten weitergereicht werden, dann ist klar, dass das über kurz oder lang nicht gut geht, sondern in den betreffenden Ländern zu Abschottungsversuchen führen muss.
Um wenigstens den menschlichen „Nachschub“ nach Griechenland verringern zu können, hat die EU bekanntlich einen Deal mit der Türkei geschlossen, der allerdings äußerst fragil ist und unter die Mühlsteine der Ereignisse in der Türkei nach dem angeblichen Putschversuch sowie des vor unseren Augen ablaufenden Umbaus des Landes zu einer Autokratie zu geraten droht.
So ist in den Monaten des vergangenen Jahres nur noch die Mittelmeerroute nach Italien geblieben. Und die „funktioniert“ – wenn auch auf Kosten von mehreren tausend Toten, die den Versuch, Italien zu erreichen, nicht geschafft haben. Im vergangenen Jahr haben es mehr als 180.000 Flüchtlinge geschafft, nach Italien zu gelangen. »Anders als in früheren Jahren bleiben aber inzwischen viele von ihnen dort, weswegen das Land 2016 nach Deutschland die meisten Asylanträge und -entscheidungen verzeichnete«, so Marcel Leubecher in seinem Artikel.
Von der rechtlichen Möglichkeit, über sichere Drittstaaten – Deutschland ist ausschließlich von solchen umgeben – einreisende Ausländer an der Grenze abzuweisen, macht die Bundesrepublik nur ausnahmsweise Gebrauch. Aber das kann und soll sich ändern, weil man ansonsten zu Recht davon ausgehen muss, dass viele der Flüchtlinge innerhalb der EU in die Länder (weiter)ziehen werden, in denen es ihnen besser ergeht als in den ärmeren Südstaaten.
Damit verlagert man aber das Problem, wie bereits erwähnt, in die letzten Außenposten der EU, also Griechenland und Italien vor allem, (wieder) zurück. Was dann dort die Stimmung nach unten treiben wird (gegen die Flüchtlinge), denn die südeuropäischen Staaten leiden ja immer noch unter den Folgen der „Euro-Krise“ und sie verfügen nicht einmal für die eigene Bevölkerung über ausreichende soziale Sicherungssysteme. Vor diesem Hintergrund sind sie gezwungen, so lange wie irgendwie möglich einen Teil der Flüchtlinge in andere EU-Staaten zu „exportieren“. Wenn die sich aber immer stärker oder gar vollständig weigern, das Spiel mitzuspielen, dann kollabiert das System insgesamt.
Vor diesem Hintergrund scheinen die Bemühungen auf der EU-Ebene, soweit sie in den Medien beschrieben werden, durchaus rational. »Die EU arbeitet derzeit allerdings an Plänen, das Asylhopping zu beenden, indem sie die nationalen Standards und Systeme angleicht. Derzeit weichen Anerkennungsquoten, Chancen auf Einbürgerung und Sozialleistungen stark voneinander ab«, so Marcel Leubecher.
Dazu passt dann dieser Hinweis auf den Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU): Er brachte »eine Angleichung der Sozialstandards in der Europäischen Union (EU) ins Gespräch – unter anderem auch, um eine gleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge unter den EU-Staaten zu erleichtern. „Wir haben bei den sozialen Leistungen viel höhere Standards als die meisten europäischen Länder. Deswegen wollen so viele nach Deutschland“ … dann müssen wir gucken, ob wir mit den anderen EU-Ländern auf einen gemeinsamen, einheitlichen Sozialstandard kommen. Bisher ist das in Deutschland ein Tabu“, sagte Schäuble.«
Schäuble will hier allerdings als Tabu-Brecher fungieren – die damit verbundene mögliche Dimension der Konsequenzen erscheinen allerdings auslegungsbedürftig: Wenn man die Logik zu Ende denkt, die nur angedeutet wird, dann müsste das bedeuten, dass die Flüchtlinge nicht mehr die Leistungen in der Höhe bekommen, die sie derzeit in Deutschland erhalten – oder aber nicht mehr die niedrigen (oder gar keine) Leistungen wie in anderen EU-Staaten. Nun ist es praktisch gesehen kaum wahrscheinlich, dass man Flüchtlinge, die in Rumänien leben müssen, deutlich höhere Leistungen zusprechen wird, nur um das Gefälle zu Deutschland oder anderen reichen Ländern in der EU zu verringern. Also bliebe nur die Option, dass es Schäuble um eine deutliche Absenkung der Leistungen für Flüchtlinge in Ländern wie Deutschland geht. Wie aber soll das wirklich funktionieren? Das erscheint doch alles mehr als wackelig konzipiert zu sein.
Letztendlich aber wäre das schon der zweite oder dritte Schritt vor dem eigentlich ausstehenden ersten Schritt – also ein System zu finden, die Flüchtlinge über welchen Verteilungsschlüssel auch immer über alle EU-Mitgliedsstaaten zu verteilen, um eine Überlastung einiger weniger Länder zu vermeiden. Das wird ja nicht erst seit kurzem diskutiert und eingefordert – aber bislang nicht ansatzweise, auch nicht für kleine Kontingente, umgesetzt worden. Man denke an dieser Stelle an den vehementen Widerstand der osteuropäischen EU-Länder, die sich jeglicher Umverteilung der Flüchtlinge verweigern und das mit Sicherheit auch in der vor uns liegenden Zeit machen werden. Die EU müsste also bei diesen Verweigerern die Daumenschrauben anlegen, beispielsweise bei der Mittelverteilung. Dass sie das tun würde, kann man zum jetzigen Zeitpunkt mit ganz großer Sicherheit verneinen, auch dadurch bedingt, dass sich die EU und deren Kommission derzeit in einer substanziellen Infragestellung befinden, wofür der Brexit nur ein Mosaikstein darstellt.
Vor diesem Hintergrund muss man zu dem Prüfergebnis kommen, dass es derzeit und absehbar nur sehr geringe Chancen für eine europäische Lösung geben kann. Wenn das aber so ist, dann muss man auch angesichts der vielen Menschen, die ihr Glück über das Mittelmeer versuchen wollen, bei der Abwehr zusätzlicher Flüchtlinge ansetzen und möglichst verhindern, dass die überhaupt die Überfahrt nach Europa wagen und – wenn sie in Not geraten – von Rettungsschiffen aufgesammelt und nach Italien gebracht werden, womit sie am ersten Ziel angekommen sind.
An dieser Stelle muss sich eine brutale Mechanik entfalten. Bildlich gesprochen muss man die Zugbrücke richtig hochziehen und nicht nur wie bislang „halb“. Praktisch würde das bedeuten, dass die Menschen, die man im Mittelmeer aufgegriffen hat, konsequent vom europäischen Boden ferngehalten werden müssen. Man muss sie also wieder zurückschieben nach Afrika. Insofern ist die angesprochene Lager-Idee in Libyen die derzeit absehbar realistische Variante für das, was vor uns liegt.
Wenn man diesen Gedankengang mitgegangen ist (und das sei hier deutlich herausgestellt: unabhängig davon, wie man diese Entwicklung bewertet) – dann wird man mit den Niederungen der Wirklichkeit in den angedachten Frontstaaten außerhalb der EU und von uns aus betrachtet jenseits des Mittelmeers konfrontiert. Denn die Lager würden in Ländern errichtet und betrieben werden, die weit weg sind von jeden Maßstäben einer humanitären Gestaltung dieser „Wartehallen“ vor der Festung Europa.
Nehmen wir als Beispiel diesen Artikel: Auswärtiges Amt sieht „KZ-ähnliche Verhältnisse“. Und wo genau sehen die das? In Libyen, dem wichtigsten Stopp-Land in der angesprochenen Strategie. Während die EU einen Flüchtlingspakt mit Libyen berät, kritisieren deutsche Diplomaten »die Menschenrechtslage in dem Land laut einem Medienbericht scharf: Exekutionen und Aussetzungen in der Wüste zählten zum Alltag.« Die deutsche Botschaft in Nigers Hauptstadt Niamey habe von „allerschwersten, systematischen Menschenrechtsverletzungen“ berichtet, die in den zahlreichen Privatgefängnissen stattfinden würden:
»Schlepper und Migranten würden in solchen Privatgefängnissen häufig eingesperrt. „Exekutionen nicht zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste sind dort an der Tagesordnung“ … „Augenzeugen sprachen von exakt fünf Erschießungen wöchentlich in einem Gefängnis – mit Ankündigung und jeweils freitags, um Raum für Neuankömmlinge zu schaffen, das heißt den menschlichen ,Durchsatz‘ und damit den Profit der Betreiber zu erhöhen.“«
Das ist nicht nur auf Libyen begrenzt, sondern man wird damit auch in den anderen Ländern in Afrika konfrontiert, die man benutzen müsste, um die Abwehr-Strategie erfolgreich werden zu lassen. Für eine aktuelle Auseinandersetzung mit dem, was da zwischen der EU und afrikanischen Staaten am Entstehen ist, vgl. auch diese Arbeit:
Florian Koch (2017): Zuckerbrot und Peitsche? Der neue Takt in der EU-Migrationspolitik gegenüber Afrika, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Januar 2017
Auf der anderen Seite: Was für Alternativen bieten sich denn den Verantwortlichen – nicht nur, aber auch – angesichts des multimorbiden Gebildes EU derzeit, wenn es das Ziel sein soll, die Zuwanderung der Flüchtlinge zu reduzieren oder gar einen Massenexodus armer Afrikaner zu verhindern?
Und selbst wenn man davon ausgehen kann und muss, dass die EU die am Horizont immer deutlicher erkennbar Lager-Bildung in Nordafrika damit garnieren muss, dass es das im Doppel mit einem „geregelten Verfahren“ zur legalen Einreise in die EU geben wird – auch ein „geregeltes Verfahren“ steht a) vor dem Selektions- und b) vor dem Mengenproblem, denn die innere Verfasstheit der meisten europäischen Länder würde eine die Grenzen überschaubarer Flüchtlingszahlen übersteigende offene Zuwanderung hilfebedürftiger Menschen nach Europa gar nicht zulassen aufgrund der entsprechend daraus resultierenden Reaktionen auf Seiten der Inländer.
Es ist so ein fürchterliches Dilemma.