Es ist mittlerweile ein Allgemeinplatz in der Arbeitsmarktdiskussion geworden, dass gering qualifizierte Arbeitnehmer immer weniger Chancen haben, eine Beschäftigung zu bekommen oder wenn sie eine haben, dann zu schlechten Bedingungen und mit einer überdurchschnittlichen Gefahr versehen, von Entlassungen betroffen zu sein. Und die neuen Daten aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit scheinen das auch eindrucksvoll und für die Betroffenen schmerzhaft zu belegen: Die (registrierte) Arbeitslosigkeit in Deutschland ist 2015 im zweiten Jahr in Folge gesunken. Die Gesamtquote nach Qualifikationen hat mit 6,6 Prozent den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung erreicht.
Und dann kommt ein wichtiger Aspekt: »Je niedriger die Qualifikation, desto höher ist das Arbeitsmarktrisiko. Personen ohne Berufsabschluss sind deshalb von Arbeitslosigkeit besonders betroffen. In dieser Gruppe ist mehr als jeder Fünfte ohne Arbeit. Im Vorjahresvergleich hat ihre Quote im Gegensatz zu den anderen Qualifikationsgruppen zugenommen«, schreiben die Wissenschaftler in ihrem Bericht Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten. Hingegen haben sich die Perspektiven der Akademiker wie auch für Personen mit einer beruflichen Ausbildung verbessert, wenn man das an den rückläufigen Arbeitslosenquoten bemisst. Weiter offensichtlich ist eine arbeitsmarktlicht West-Ost-Spaltung des Landes: Während bei den beruflich Qualifizierten im Westen die Arbeitslosenquote bei 3,8 Prozent liegt, ist sie im Osten trotz eines erneuten Rückgangs mit 7,5 Prozent deutlich höher. Und bei den Geringqualifizierten: Die Arbeitslosenquote ging im Osten im Gegensatz zum Westen leicht zurück, dennoch ist hier fast jeder Dritte ohne Arbeit. Im Westen sind es 18,7 Prozent, im Osten 31,7%. Ganz offensichtlich, so der Blick auf die Zahlen, werden die Geringqualifizierten immer weiter abgehängt, auch in einem ansonsten durchaus positiven Arbeitsmarktumfeld.
Aber dann gibt es auch so eine Aussage: Die »Beschäftigungschancen von formal gering Qualifizierten haben sich keineswegs so ungünstig entwickelt, wie mitunter angenommen wird. Die Arbeitslosigkeit ist leicht rückläufig und es gab zuletzt durchaus Branchen und Tätigkeitsbereiche, in denen formal gering Qualifizierte teils deutliche Beschäftigungszuwächse zu verzeichnen hatten.« Die Einschätzung stammt aus dieser Studie:
Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf (2016): Arbeitsmarktchancen von gering Qualifizierten. IAQ-Report 2016-03, Duisburg: Institut für Arbeit und Qualifikation
Auch diese beiden Wissenschaftler arbeiten sich an der gängigen Argumentation ab:
»Die Beschäftigungschancen von Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung gelten als eher ungünstig. Der deutsche Arbeitsmarkt benötige vor allem Fachkräfte, ist häufig zu hören. Formal gering Qualifizierte hätten nur eine geringe Produktivität, so dass sich ihre Einstellung für Betriebe häufig nicht lohne. Dies gelte umso mehr, als nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 € pro Stunde zumindest keine legalen Optionen mehr bestünden, den geringen Beitrag von formal gering Qualifizierten zur Wertschöpfung durch eine entsprechend niedrige Entlohnung zu kompensieren.«
Immer wieder wird vor diesem Argumentationshintergrund der Mindestlohn als solcher gerade für die Gruppe der Geringqualifzierten kritisiert und neben Ausnahmeregelungen sogar die Abschaffung gefordert. In jüngster Zeit werden die Flüchtlinge pauschal mit ins Boot genommen, und für eine Aufweichung der Lohnuntergrenze instrumentalisiert. An dieser Stelle weisen Kalina und Bosch aber darauf hin:
»Unberücksichtigt bleibt dabei, dass von den Beschäftigten mit Stundenlöhnen unter 8,50 € nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes in den Jahren 2014 und 2015 jeweils nur deutlich weniger als ein Drittel formal gering qualifiziert war. Die große Mehrheit der Beschäftigten mit Stundenlöhnen unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns verfügte über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder sogar einen akademischen Abschluss.«
Die Anteile der formal Geringqualifizierten mit Stundenverdiensten unter 8,50 € lagen im Jahr 2014 knapp unterhalb von 30 Prozent und im Jahr 2015 – nach der Einführung des Mindestlohns – leicht über 30 Prozent. Gleichzeitig ist die Zahl der Beschäftigten mit Stundenlöhnen unter 8,50 € deutlich zurückgegangen: Im Jahr 2014 waren davon 3,973 Millionen abhängig Beschäftigte betroffen, nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ist deren zahl bis April 2015 auf nur noch 1,364 Millionen Beschäftigte gesunken.
Seit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns wird die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt u.a. vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit beobachtet. Das IAB hat nun neue Zahlen aus dieser Beobachtung veröffentlicht: Philipp vom Berge et al. (2016): Arbeitsmarktspiegel: Entwicklungen nach Einführung des Mindestlohns (Ausgabe 2). IAB-Forschungsbericht Nr. 12/2016, Nürnberg. Aus der Zusammenfassung nur zwei interessante Befunde: »Ausgabe 2 des Arbeitsmarktspiegels zeigt erstmals, dass der Großteil der Übergänge aus ausschließlich geringfügiger in ausschließlich sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im selben Betrieb erfolgt. Für beschäftigte SGB-II-Leistungsbezieher zeigt sich, dass nach Abklingen der ersten Reaktion auf die Einführung des Mindestlohns im Verlauf des Jahres 2015 die Anzahl der Übergänge in Beschäftigung ohne Leistungsbezug weiter zunimmt. Den Sprung aus der Bedürftigkeit von staatlichen Leistungen schaffen dabei vor allem sozialversicherungspflichtig beschäftigte Leistungsbezieher.«
Wieder zurück zur IAQ-Studie: Der Anteil der Geringqualifizierten in der Bevölkerung ab 18 Jahren ist von gut 24 Prozent im Jahr 1992 auf 17 Prozent 2014 zurückgegangen. Der Anteil an den abhängig Beschäftigten ist im gleichen Zeitraum von 17,5 Prozent auf 10,8 Prozent im Jahr 2009 gesunken, seitdem aber wieder auf 12,1 Prozent gestiegen. (Kalina/Weinkopf 2016: 3).
Der Anteil der gering Qualifizierten an den abhängig Beschäftigten in Deutschland ist langfristig zurückgegangen. Der stärkste Rückgang erfolgte allerdings schon in den 1970er und 1980er Jahren.
Interessant sind die Ergebnisse hinsichtlich der Beschäftigung: »Im Zeitraum 2011–2014 waren die meisten gering qualifizierten Beschäftigten im Bereich Metall-, Elektro-, Fahrzeug- und Maschinenbau, im Handel, im Gesundheitswesen, im Sonstigen Verarbeitenden Gewerbe, im Gastgewerbe, in unternehmensnahen Dienstleistungen und im Bereich Verkehr und Nachrichtenübermittlung tätig.« Es hat aber auch Verschiebungen gegeben: »An Bedeutung gewonnen haben … vor allem das Gastgewerbe, Verkehr und Nachrichtenübermittlung sowie unternehmensnahe und sonstige Dienstleistungen« (S. 9).
Und hinsichtlich der Beschäftigungsentwicklung bilanzieren die beiden Wissenschaftler:
»Im Gastgewerbe hat die Beschäftigung gering Qualifizierter zugenommen, im Zeitraum 1995-1998 bis 2003-2006 sogar stärker als für die Beschäftigten insgesamt. Auch im Bereich Verkehr und Nachrichtenübermittlung stieg die Beschäftigung gering Qualifizierter stärker als für die Beschäftigten insgesamt. Generell verlief die Beschäftigungsentwicklung nach 2003/06 deutlich besser als vorher, sowohl für die gering Qualifzierten als auch für die Beschäftigten insgesamt … Dies ist zunächst überraschend, da es der These widerspricht, dass gering Qualifizierte am Arbeitsmarkt immer seltener gebraucht werden.« (S. 11)
Nicht überraschend: Gering Qualifizierte arbeiten mit fast 21% deutlich häufiger in Minijobs als formal Qualifizierte mit nur gut 10%. Allerdings: »Immerhin ist aber auch die deutliche Mehrheit der gering Qualifizierten (gut 58%) in Vollzeit beschäftigt, was nur etwa zehn Prozentpunkte unter dem Vollzeitanteil aller Beschäftigten liegt.« Und auch die Werte zur Beschäftigungsstabilität überraschen auf den ersten Blick, denn »mit 45,7% (ist) fast die Hälfte der gering Qualifizierten sechs und mehr Jahre im selben Betrieb tätig, was nur etwa zehn Prozentpunkte weniger sind als bei den Beschäftigten insgesamt mit 56,2%.« (S. 13)
Gering Qualifizierte üben keineswegs immer nur Tätigkeiten mit einfachen Anforderungen aus – und umgekehrt werden einfache Tätigkeiten auch häufig von beruflich Qualifizierten ausgeübt. Das Problem: In den einfachen Tätigkeiten werden die gering Qualifizierten häufig von höher Qualifizierten verdrängt. Das, aber auch eine möglicherweise einsetzende Trendumkehr verdeutlicht dieses Zitat aus der IAQ-Studie:
»Anfang der 1990er Jahre wurden jeweils etwa 49% der einfachen Tätigkeiten durch Beschäftigte mit und ohne abgeschlossene Berufsausbildung ausgeübt. Der Anteil der berufsfachlich Qualifizierten in einfachen Tätigkeiten hat bis 2009 deutlich auf rund 63% zugenommen, während der Anteil der gering Qualifizierten auf gut 32% stark zurückging. Seitdem werden einfache Stellen wieder häufiger mit gering Qualifizierten besetzt.« (S. 14)
Die in der Vergangenheit beobachtbare Substitution der Geringqualifizierten durch berufsfachlich Qualifizierte im Bereich einfacher Tätigkeiten ist am aktuellen Rand offensichtlich gestoppt, sicher auch aufgrund der veränderten Angebots-Nachfrage-Relationen bei den qualifizierten Arbeitskräften.
Umgekehrt sind auch gering Qualifizierte keineswegs nur in einfachen Tätigkeiten zu finden. Am aktuellen Rand war mehr als ein Drittel der gering Qualifizierten auf Arbeitsplätzen tätig, die mindestens eine Berufsausbildung voraussetzen, so die IAQ-Forscher.
Das Beschäftigungsbild für die Geringqualifizierten ist also differenzierter als es der erste Blick nahelegt. In diesen weiter gefassten Kontext muss man dann auch die Empfehlungen einordnen:
»Eine deutliche Ausweitung von Maßnahmen zur abschlussbezogenen Aus- und Weiterbildung sowohl auf betrieblicher Ebene als auch im Rahmen der öffentlich geförderten Arbeitsmarktpolitik sind zweifellos wichtige Eckpfeiler. Dabei sollten besondere Anstrengungen darauf gerichtet werden, die Aufstiegsmobilität von Beschäftigten, die unterwertig eingesetzt sind, gezielt zu fördern, um mehr Einstiegspositionen für gering Qualifizierte und Langzeitarbeitslose zu erschließen. Erweiterte Ausnahmen vom Mindestlohn wären u.E. diesbezüglich eher kontraproduktiv. Sie würden die Preiskonkurrenz im Bereich einfacher Tätigkeiten verschärfen, ohne nachhaltige Perspektiven zu bieten.« (Kalina/Weinkopf 2016: 16)