Man könnte durchaus zu dem Ergebnis kommen, dass die Versicherungswirtschaft sehr kreativ ist, wenn es um die Substitution wegbrechender Geschäftsmodelle durch neue Einnahmequellen geht. Wenn man sich die Einbrüche im Bereich der privaten Altersvorsorge anschaut und die Ernüchterung – um das mal vorsichtig zu formulieren – über die staatlich subventionierte Riester-Rente zur Kenntnis nimmt, die bei vielen Menschen auch durch die kritische Berichterstattung eingesetzt hat und das im Zusammenspiel mit dem Wegbrechen des klassischen Lebensversicherungsgeschäfts bilanziert, dann wird verständlich, dass ein Ersatz her muss. Da trifft es sich gut, dass die große Koalition noch eine rentenpolitische Baustelle offen hat, deren Bearbeitung es ermöglichen würde, an neue Versichertengelder zu kommen. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD setzt seinen Schwerpunkt auf die Stärkung der betriebliche Altersvorsorge. Vor allem, so die Vereinbarung, sollen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, Betriebsrenten auch in kleinen und mittleren Unternehmen besser zu verankern – und auch Geringverdiener sollen stärker als bislang einbezogen werden. Da geht was.
Und offensichtlich funktioniert das auch. Schäuble und Nahles einigen sich auf Reform der Betriebsrente, so die FAZ und fast schon euphorisch Schäuble und Nahles wollen Betriebsrente ankurbeln auf ZEIT Online. »Arbeits- und Finanzministerium sind sich über eine Reform der Betriebsrente einig. Es geht um neue Zuschüsse.« Da wird der eine oder andere denken, dass sich das doch sehr nach Riester 2.0 anhört. Schauen wir also genauer hin, was derzeit überhaupt bekannt geworden ist:
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) haben am Dienstag ein Spitzengespräch mit Vertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaften geführt (konkret: DGB, IG Metall, IG BCE und Verdi sowie die Bundesvereinigung BDA für die Arbeitgeber, Gesamtmetall und die Chemie-Unternehmen) und in diesem Rahmen einige „Durchbrüche“ erzielen können:
Kernstück ist ein „Sozialpartnermodell“ für mehr Betriebsrenten per Tarifvertrag. Zudem ist das Finanzministerium für Zuschüsse zugunsten von Geringverdienern offen. »Demnach soll die betriebliche Altersvorsorge (bAV) unter anderem durch neue Zuschüsse und höhere steuerliche Förderung sowie einen Wegfall von Rentengarantien durch den Arbeitgeber gestärkt werden«, kann man dem Artikel Nahles und Schäuble einigen sich bei Reform der Betriebsrenten entnehmen.
Dazu wurden laut Teilnehmern des „vertraulichen“ Treffens folgende Eckpunkte vereinbart, die für sich und in der Summe betrachtet ein durchaus stimmiges Bild ergeben:
Beitrags- statt Rentengarantie: Unternehmen sollen künftig nicht mehr garantieren müssen, dass Betriebsrenten in einer bestimmten Höhe ausgezahlt werden. Stattdessen soll eine reine Zusage über die Höhe der Beiträge reichen – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften sich in einem Tarifvertrag darauf einigen.
Zuschüsse: Arbeitgeber sollen künftig Zuschüsse von 30 Prozent erhalten, wenn sie für Geringverdiener 240 bis 480 Euro pro Jahr in die betriebliche Altersvorsorge einzahlen. Diesen Betrag können sie von der Lohnsteuer einbehalten. Wo die Einkommensgrenze liegen soll, ist noch unklar – angeblich soll Schäuble ein Jahresbruttoeinkommen von 24.000 Euro genannt haben.
Steuervorteile: Finanzminister Schäuble hat angeboten, die bereits bestehende steuerliche Förderung auszuweiten. Arbeitnehmer sollen angeblich künftig bis zu sieben Prozent ihres Lohns steuerfrei in Betriebsrenten umwandeln können. Bislang sind es rund 6,4 Prozent.
Niedrigere Sozialbeiträge bei Rentenbezug: Bislang müssen bei der Auszahlung von Betriebsrenten Krankenkassen- und Pflegeversicherungsbeiträge bezahlt werden, und zwar zum vollen Beitragssatz. Hier sollen Betroffene künftig entlastet werden – sofern sie betriebliche Altersvorsorge und private Riester-Rente kombinieren.
Betriebsrenten sollen gerade für Niedrigverdiener attraktiver werden, indem sie bei der Auszahlung nicht mehr vollständig auf die Grundsicherung im Alter angerechnet werden. Unklar ist, wie hoch der Anteil sein soll, den Betroffene behalten dürfen.
Der höhere (aus Steuermitteln zu finanzierende) Förderrahmen und die Variante einer Beitragszusage mit geringeren Haftungsrisiken für Betriebe sind die beiden zentralen Punkte in dem Modell.
Bisher gab und gibt es in der betrieblichen Altersvorsorge drei unterschiedliche Arten von Zusagen: Leistungszusage, beitragsorientierte Leistungszusage und Beitragszusage mit Mindestleistung. Bei allen drei Zusagearten besteht arbeitsrechtlich eine subsidiäre Haftung des Arbeitgebers für die Erfüllung der zugesagten Leistung. Genau das soll geändert werden mit der Einführung einer reinen Beitragszusage: Der Arbeitgeber hätte nur noch für die korrekte Ermittlung und Abführung der zugesagten Beiträge zu sorgen („pay and forget“-Prinzip) – das Erfüllungs- und Haftungsrisiko ginge vollständig auf einen externen Versorgungsträger über.
Für diesen Entlastungsvorstoß zugunsten der Arbeitgeber gibt es einen handfesten Hintergrund, auf den beispielsweise Nadine Oberhuber in ihrem Beitrag Versprochen und gebrochen hingewiesen hat:
»Das Loch ist riesig: 30 Milliarden Euro fehlen derzeit, um all die Pensionszusagen zu erfüllen, die deutsche Betriebe Mitarbeitern gegeben haben. Das hat die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen festgestellt. Vor allem in den neunziger Jahren garantierten viele Betriebe hohe monatliche Auszahlungen, sie machten sogenannte Direktzusagen – im Vertrauen auf gute Gewinne und anhaltend hohe Zinsen.
Die Niedrigzinsphase jedoch „bringt die Arbeitgeber zunehmend in Bedrängnis“, stellt die Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung fest. Laut einer Umfrage der Unternehmensberatung Willis Towers Watson denkt mehr als die Hälfte der Mittelständler darüber nach, ihre betriebliche Altersvorsorge (bAV) anzupassen, jeder dritte will sogar sein Versorgungswerk schließen.«
Und Stefan Sauer berichtet in seinem Artikel Betriebsrenten werden zur Last von einem krassen Beispielsfall:
»Die Lasten waren untragbar geworden. Das Unternehmen zählte nur noch 33 Beschäftigte, denen mehr als 600 ehemalige Belegschaftsmitglieder mit betrieblicher Altersversorgung gegenüber standen. Das konnte nicht gut gehen. Und das tat es auch nicht. Nach 128 Jahren meldete der traditionsreiche Modelleisenbahnhersteller Fleischmann mit Sitz im bayerischen Ansbach im August 2015 Insolvenz an. Die Pensionsverpflichtungen übernahm der Pensions-Sicherungs-Verein. Er war 1975 von den großen Arbeitgeberdachverbänden BDA und BDI gegründet worden, um im Fall der Fälle einzuspringen.« Und: »Die Firma Fleischmann übrigens existiert immer noch. Befreit von den Pensionslasten konnte das Insolvenzverfahren für das Unternehmen, das sich seit sieben Jahren im Besitz einer österreichischen Holding befindet, im Januar mit Erfolg abgeschlossen werden.«
Die Arbeitnehmer sollen motiviert werden mit der Inaussichtstellung geringerer Sozialabgaben in der Auszahlungsphase, ein Thema, das die heutigen Betriebsrentner aufregt und frustriert (vgl. dazu beispielsweise Für die Altersrücklage doppelt zur Kasse gebeten). Allerdings ist es schon perfide, dass die damit verbundene Entlastung angeblich nur dann gelten soll, wenn die Betroffenen die betriebliche Altersvorsorge mit einer Riester-Rente kombiniert haben. Warum diese Koppelung, außer es geht um die Schaffung eines Arguments für das für viele tote Pferd Riester?
Und auch der Punkt, dass Betriebsrenten bei der Auszahlung nicht mehr vollständig auf die Grundsicherung im Alter angerechnet werden sollen, hört sich – unabhängig von der derzeit wohl noch nicht festgelegten anteiligen Höhe der Nicht-Anrechnung – zwar gut an, öffnet aber zugleich ein neues, sozialpolitisch systematisches Problem, auf das Johannes Steffen auf dem Portal Sozialpolitik hingewiesen hat:
»Bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung handelt es sich um ein subsidiäres Sicherungssystem (Fürsorge), das unabhängig von den Ursachen (Kausalität) einer Notsituation sowie ohne das Erfordernis irgendwelcher Vorleistungen (wie etwa Beitragszahlungen in der Sozialversicherung) Hilfebedürftigkeit im Einzelfall beseitigen will (Finalprinzip). Bevor die Grundsicherung (aufstockende) Leistungen erbringt, kann und muss sie daher im Gegenzug verlangen, dass Hilfesuchende zunächst ihre eigenen Kräfte und Mittel einsetzen, um Hilfebedürftigkeit zu vermeiden, zu vermindern oder zu beseitigen. Dies betrifft bei Älteren und voll Erwerbsgeminderten vor allem den Einsatz grundsätzlich sämtlicher Einkünfte und zumutbar verwertbarer Vermögensteile (Anrechnung). Der voraussetzungslosen Bedarfsdeckung auf der einen Seite entspricht also die Bedürftigkeitsprüfung auf der anderen Seite … Einkommensfreibeträge in der Fürsorge führen allerdings c. p. zu einem (evtl. deutlichen) Anstieg des leistungsberechtigten Personenkreises, damit zu steigenden öffentlichen Ausgaben und statistisch schließlich auch noch zu einem höheren Ausweis der Grundsicherungsquote … Davon abgesehen ginge mit einer Privilegierung von Alterseinkommen aus betrieblicher bzw. privater Vorsorge ein tragender Grundsatz der Fürsorge über Bord: Die ausnahmslos final orientierte und von Vorleistungen unabhängige Leistungsbemessung. Ergebnis wäre eine »vorleistungsabhängige Fürsorge«. Mit der Privilegierung ausgewählter, vorleistungsbasierter Einkommen (-steile) in der Grundsicherung käme es wieder – wie in den historischen Anfängen der (staatlichen) Fürsorge – zu einer (sozial- / gesellschaftspolitischen) Unterscheidung zwischen bzw. Separierung in »würdige« und »unwürdige« (Alters-)Arme.«
Bereits in dem Beitrag Die nächste rentenpolitische Baustelle mit der Noch-Hoffnung auf einen großen Wurf ante portas: Betriebliche Altersvorsorge vom 20. Juli 2016 wurde diese Prognose als Fazit in den Raum gestellt, die sich nun zu bewahrheiten scheint – auch mit den angesprochenen Folgen für die Arbeitnehmer:
Um den Verbreitungsgrad der betrieblichen Altersvorsorge vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen zu erhöhen, wird es die Einführung der reinen Beitragszusage und die vollständige Enthaftung des Arbeitgebers hinsichtlich der Versorgungsleistungen („pay and forget“) geben. Aus Sicht der Arbeitgeber ist das zentral. Wahrscheinlich wird auch der Betrag für die abgabenfreie Entgeltumwandlung deutlich angehoben. Und damit wird eines sicher eintreten – eine weitere deutliche Erhöhung des Finanzierungsanteils der Beschäftigten an ihren „Betriebsrenten“.
Diese ersten Hinweise mögen verdeutlichen, dass wir es mit einem hoch konfliktären Thema zu tun haben. Und wir haben an dieser Stelle noch gar nicht die grundsätzlichen Anfragen an alle kapitalgedeckten Wege der Altersvorsorge angesprochen.