Vermeiden ist gut. Vor allem, wenn es um den Verlust des Arbeitsplatzes geht. Gewerkschaftliche Vorschläge zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM)

Die allermeisten Arbeitnehmer sind auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft und die daraus erzielbaren Einnahmen existenziell angewiesen. Um so härter trifft sie dann der Verlust ihres Arbeitsplatzes. Und bei den personenbedingte Kündigungen geht es am häufigsten um Langzeit-Erkrankungen, die Auslöser für den Jobverlust sind. Insofern ist es mehr als folgerichtig, diese Eskalation wenn es irgendwie geht zu vermeiden. Der Gesetzgeber hat dafür als ein Präventionsinstrument im Jahr 2004 auf Betreiben der Gewerkschaften das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) als § 84 Abs. 2 SGB IX eingeführt. Ein fast schon lehrbuchhaftes Beispiel für einen Regelungsansatz, der wirklich gut gemeint ist, wenn man die existenzielle Bedeutung von Erwerbsarbeit im Hinterkopf hat. Das SGB IX ist das Sozialgesetzbuch, das sich mit der „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ beschäftigt und der § 84 steht unter der allgemein gehaltenen Überschrift „Prävention“.

Ein Auszug aus dem Absatz 2 des § 84 SGB IX:

»Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung …, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung, mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement) … Kommen Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, werden vom Arbeitgeber die örtlichen gemeinsamen Servicestellen*) oder bei schwerbehinderten Beschäftigten das Integrationsamt hinzugezogen. Diese wirken darauf hin, dass die erforderlichen Leistungen oder Hilfen unverzüglich beantragt und innerhalb der Frist des § 14 Abs. 2 Satz 2 erbracht werden.«

*) Mit den Gemeinsamen Servicestellen für Rehabilitation wurde das bereits seit Jahren bestehende umfangreiche Beratungsangebot der Rehabilitationsträger um ein neues trägerübergreifendes Angebot ergänzt. Die Reha-Servicestellen sind zwar organisatorisch immer bei einem bestimmten Rehabilitationsträger (gesetzliche Krankenkassen, gesetzliche Rentenversicherungsträger, gesetzliche Unfallversicherungsträger, Agenturen für Arbeit, Träger der Kriegsopferversorgung und Kriegsopferfürsorge oder öffentliche Jugend- oder Sozialhilfeträger) angesiedelt. Durch Bildung regionaler Beratungsteams stehen jedoch jeder Gemeinsamen Servicestelle jederzeit die Mitarbeiter anderer Rehabilitationsträger für Rückfragen zur Verfügung. Eine Übersicht über diese Stellen findet man auf dieser Seite: www.reha-servicestellen.de

Ganz wichtig: Die Beteiligung des Beschäftigten ist freiwillig. Ohne dessen Zustimmung gibt es kein BEM. Und obwohl das BEM im Schwerbehindertenrecht verankert ist, richtet es sich explizit
Es geht also darum, den worst case einer Entlassung zu vermeiden und das bezogen auf das Problemfeld längerer krankheitsbedingter Ausfälle. Und die Bedeutung dieses Ansatzes kann jeder auch ohne Studien nachvollziehen, der sich die Alterung der Belegschaften aufgrund der demografischen Entwicklung anschaut, denn es ist nun mal so, dass nicht wenige Krankheiten, die zu längeren Ausfallzeiten führen (können), alterskorreliert sind.

Die Vorschriften zum BEM können auch eine Schutzwirkung für die Beschäftigten entfalten, wenn es um eine Kündigung geht. Denn: Erfolgt eine Kündigung ohne Durchführung eines BEM, trägt der Arbeitgeber eine umfängliche Erklärungs- und Beweislast, warum vom Beschäftigten aufgezeigte Alternativen zu den Beschäftigungsbedingungen zu keinem positiven Ergebnis im Sinne einer Fortführung des Arbeitsverhältnisses geführt haben (vgl. z.B. BAG, Urt. v. 10.12.2009 – 2 AZR 400/08). Aber auch hier gilt es wieder einmal, Wasser in den Wein zu kippen: In Fällen, in denen das Kündigungs- schutzgesetz nicht gilt – z.B. in Kleinbetrieben oder bei befristeten Beschäftigungsverhältnis- sen – greift diese Schutzvorschrift jedoch so nicht.

Also an sich ein guter, lobenswerter Ansatz – und wie immer zeigen sich die Probleme in der Praxis der Umsetzung. Vor diesem Hintergrund hat der DGB, auf dessen Impuls dieses Instrumentarium zurück geht, nun ein neues Papier veröffentlicht, das sich mit den Anforderungen an eine Weiterentwicklung des Ansatzes befasst:

DGB: Arbeitsmarktpolitische und arbeitsrechtliche Anforderungen an eine Weiterentwicklung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (= arbeitsmarktaktuell Nr. 1/2016), Berlin 2016

Dort findet man auch einen Hinweis auf die Inanspruchnahme des Instruments: »In 2008 wurde die Umsetzung des BEM durch das BMAS evaluiert. Mit dem Ergebnis, dass circa die Hälfte der Unternehmen BEM durchführt und dies vor allem größere Unternehmen sind.« Hier wird Bezug genommen auf diese Studie:

Niehaus, M. et al.: Betriebliches Eingliederungsmanagement. Studie zur Umsetzung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements nach § 84 Abs. 2 SGB IX, Köln 2008

Nun wurde diese erste Evaluierung bereits 2008 veröffentlicht und damit relativ kurz nach dem Inkrafttreten des neuen Instruments. Wie hat sich das seitdem entwickelt? Die in der Studie angedeutete Strukturierung der (Nicht-)Inanspruchnahme hat sich offensichtlich verfestigt und damit sehen wir eine weitere der vielen Spaltungen entlang der Scheidelinie große und kleine Unternehmen. Der DGB dazu:

»Nach einer längeren Anlaufphase hat sich das BEM bislang in größeren Unternehmen mit betrieblichen Interessenvertretungen halbwegs etabliert. Hier gibt es geschulte und mittlerweile erfahrene BEM-Teams, die sich meistens aus betrieblicher Interessenvertretung und Arbeitgeberbeauftragtem zusammensetzen und ggf. externen Sachverstand des Betriebsarztes, der Sozialversicherungsträger oder des Integrationsamtes einbeziehen.
BEM funktioniert dort, wo sich Interessenvertretungen darum kümmern, wenn es Betriebsver- einbarungen gibt, wenn die Beschäftigten Vertrauen haben und die Unternehmen es ehrlich wollen.« (DGB 2016: 2)

Die Gewerkschaften benennen an dieser Stelle aber auch gleich das Hauptproblem, das sie identifiziert haben:

»Derzeit fehlt es aber an klaren gesetzlichen Rahmenbedingungen, welche die Rechte und Pflichten der Beteiligten benennen. Wenn BEM als notwendige Vorstufe zur Kündigung vom Arbeitgeber gesehen wird, dann ist das Ziel der Wiedereingliederung in der Regel schwer zu erreichen. Fehlende Mindeststandards und Rahmenbedingungen sind ein Problem bei Neueinführung des BEM im Unternehmen. Dies erfolgt meistens nach dem Prinzip ausprobieren und lernen, mit entsprechender Fehlerquote. Dies ist angesichts des drohenden Verlusts des Arbeitsplatzes für den Beschäftigten nicht optimal.«

Sie machen aber auch lösungsorientierte Vorschläge, wie man es besser machen könnte. Darüber berichtet auch Thomas Öchsner in seinem Artikel So gelingt die Jobrückkehr. Er zitiert Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand, die das Dilemma auf den Punkt bringt: „Es gibt Unternehmen, die sich ehrlich Mühe geben, ihre Beschäftigten zu halten. Andere machen gar nichts oder werden nur zum Schein aktiv. Sie sehen das betriebliche Eingliederungsmanagement lediglich als notwendige Vorstufe zur Kündigung“.

Die zentrale Forderung der Gewerkschaften: Ein Rechtsanspruch auf das BEM mit gesetzlich definierten Mindeststandards. Ohne ernst gemeinte und kompetent umgesetzte Wiedereingliederungsangebote sollen Arbeitgeber den betroffenen Mitarbeitern künftig nicht mehr krankheitsbedingt kündigen können, wünscht sich der DGB. Auch stufenweise mit reduzierter Stundenzahl wieder mit der Arbeit anfangen zu können sollte als Rechtsanspruch ausgestaltet werden.

Und was ist mit den vielen kleinen und mittleren Unternehmen, die sich bislang nicht an dem BEM beteiligen? Auch hier zeigt der DGB Ansatzpunkte auf:

»Der DGB macht sich … für professionelle Begleithilfe stark, auf die gerade kleine und mittlere Unternehmen angewiesen sind. Er schlägt vor, Fallmanager der Rentenversicherung bei kleinen Firmen ohne Betriebsarzt und Interessenvertretung der Arbeitnehmer zwingend zu beteiligen«, so Öchsner in seiner Zusammenfassung.

Die Vorschläge des DGB kommen natürlich nicht zufällig zum jetzigen Zeitpunkt, offensichtlich will man einen stockenden Prozess befördern. Hintergrund: Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode verpflichten sich die Koalitionspartner, im Sinne eines ganzheitlichen Arbeitsschutzes das Betriebliche Eingliederungsmanagement zu stärken und mehr Verbindlichkeit zu erreichen. Bislang sind hierzu noch keine konkreten Vorschläge der Bundesregierung bekannt.

Und wie stehen die Chancen, dass die Vorschläge der Gewerkschaften aufgegriffen werden? Eher schlecht, vor allem angesichts der mit ihrer Umsetzung verbundenen deutlich stärkeren Verbindlichkeit für die Arbeitgeber, die sicher wieder an dieser Stelle die Klage führen werden, dass sie erneut belastet werden sollen. Auch der Hinweis von Thomas Öchsner stimmt nicht gerade hoffnungsvoll:

»Das Bundesarbeitsministerium hält die Beschäftigten hingegen aufgrund der bestehenden Rechtslage für gut genug geschützt. „Ein Regelungsbedarf besteht daher nicht“, so eine Sprecherin. Sie wies darauf hin, dass laut Rechtsprechung ein fehlendes BEM dem Arbeitgeber bei einer krankheitsbedingten Kündigung schaden und ihn womöglich sogar schadensersatzpflichtig machen könne. Nach Angaben des Ministeriums wurde das betriebliche Eingliederungsmanagement bereits verbessert: In einem Modellprojekt hätten Mitarbeiter der Deutschen Rentenversicherung (DRV) kleine und mittlere Unternehmen beraten. Seit Mitte 2015 bietet die DRV den telefonischen „Arbeitgeberservice BEM“ an.«

Da sind sie wieder, die berühmten Modellprojekte. Mit denen kann man eine Menge auf die lange Bank schieben.