Es kommt offensichtlich Bewegung in ein Themenfeld, über das seit Jahren immer wieder und dabei oft auch sehr kritisch berichtet wurde: »Familiengerichte müssen viele Entscheidungen von großer lebenspraktischer Bedeutung treffen. Kann ein Kind in der Familie bleiben, wenn die Eltern Probleme mit der Erziehung haben? Soll ein Kind aus der Pflegefamilie zurück zu den leiblichen Eltern? Welches Umgangsrecht hat nach einer Trennung jener Elternteil, der nicht mit dem Kind zusammenlebt?«, so Christian Rath in seinem Artikel Qualitätsoffensive für Familiengutachter. Diese Fragen werden in nicht wenigen Fällen vom Gericht an einen Gutachter weitergereicht. Bis zu 10.000 solcher Gutachten werden jährlich erstellt. Aber mit diesen Gutachten bzw. den sie verfassenden Gutachtern gibt es immer wieder Probleme:
»Die Qualität der Gutachten ist allerdings schon lange in der Kritik. Als wichtigster Beleg hierfür gilt eine Untersuchung der Psychologie-Professoren Christel Salewski und Stefan Stürmer aus dem Jahr 2014. Die Professoren prüften 116 familiengerichtliche Gutachten aus Nordrhein-Westfalen und kamen zum Schluss, dass mindestens ein Drittel nicht wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Die Gutachter hätten, so Salewski und Stürner, methodisch problematische Verfahren wie „unsystematische Gespräche“ und „ungeplante Beobachtungen“ angewandt. Viele der Testverfahren, etwas das Malen der Familie als Tiere, seien wissenschaftlich umstritten und erlaubten nur „spekulative“ Ergebnisse.«
Rath bezieht sich hier auf die Studie Qualitätsstandards in der familienrechtspsychologischen Begutachtung von Christel Salewski und Stefan Stürmer. Das Ergebnis der Studie ist ernüchternd: In 56 Prozent der Gutachten fehlen fachpsychologische Arbeitshypothesen, in 85,5 Prozent der Fälle werden die eingesetzten Verfahren gar nicht dargelegt und bei 35 Prozent der Arbeiten wurden Verfahren eingesetzt, die in der Wissenschaft als problematisch gelten.
Eine mediale Aufarbeitung der Thematik hat der WDR im vergangenen Jahr in der Dokumentation Wenn Gerichtsgutachten Familien zerstören ausgestrahlt. »Gutachter an Familiengerichten können über die Zukunft ganzer Familien entscheiden – über die Frage, ob ein Kind beim Vater oder der Mutter lebt, wie oft ein Elternteil es sehen darf oder ob es sogar in einem Heim leben muss. Der Film … erzählt von Fällen, bei denen Gutachten nachgewiesenermaßen gravierende Mängel aufweisen, die zu hanebüchenen Urteilen führen und ganze Familien zerstören … die Gutachter haben vor Gericht viel Macht. Doch ob sie überhaupt für diese wichtige Aufgabe qualifiziert sind, ist gesetzlich nicht vorgeschrieben. Auch kontrolliert werden die Gutachter von niemandem. Der Film geht dramatischen Fällen nach, erzählt die Leidensgeschichten betroffener Eltern und Kinder und zeigen, dass unser Justizsystem hier dringenden Reformbedarf hat.«
Selbst das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dem Thema beschäftigen müssen. Besonders markant ein Fall aus dem vergangenen Jahr. Ein besonders krasser Fall wurde im November 2014 durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bekannt. Dazu Christian Rath:
»Dabei ging es um das Sorgerecht eines ghanaischen Asylbewerbers für sein Kind. Eine Gutachterin hatte dem Mann unterstellt, er bevorzuge „afrikanische Erziehungsmethoden“, die auf die Unterwerfung des Kindes zielten. Die Verfassungsrichter fanden jedoch keine Belege dafür. Die „Sachverständige“ war eine Heilpraktikerin mit esoterischer Ausrichtung.«
Über diese Entscheidung des BVerfG wurde am 29.11.2014 auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ berichtet. Das Gericht selbst hat seine Pressemitteilung zu der Entscheidung (Beschluss vom 19. November 2014 – 1 BvR 1178/14) unter die Überschrift Sorgerechtsentziehung setzt eingehende Feststellungen zur Kindeswohlgefährdung voraus gestellt. Bei dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss man zwei in sich höchst problematische konfigurierte Ebenen unterscheiden.
Zuerst die Ebene der Begutachtung – hier findet das Gericht klare Worte:
»Im Sachverständigengutachten wird die verfassungsrechtlich gebotene Frage nach einer nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls weder explizit noch in der Sache gestellt. Stattdessen prüft es die Erziehungsfähigkeit der Eltern in einer Weise, die nicht geeignet ist, das rechtliche Merkmal der Kindeswohlgefahr in tatsächlicher Hinsicht aufzuklären. Als Kriterien zieht es unter anderem heran, ob die Eltern dem Kind vermittelten und vorlebten, dass es „sinnvoll und erstrebenswert ist, zunächst Leistung und Arbeit in einer Zeiteinheit zu verbringen, sich dabei mit anderen messen zu können und durch die Erbringung einer persönlichen Bestleistung ein Verhältnis zu sich selbst und damit ein Selbstwertgefühl aufbauen zu können“, ob die Eltern der „geistigen Entwicklung ihres Kindes größtmögliche Unterstützung und Hilfe zukommen lassen, damit die Kinder hier nach ihrem geistigen Vermögen auf eine persönliche Bestleistung hin gefördert werden und diese erbringen können“ und ob die Eltern den Kindern ein „adäquates Verhältnis zu Dauerpartnerschaft und Liebe vorleben“.
Mit diesen Fragestellungen wird die Erziehungsfähigkeit des Beschwerdeführers an einem Leitbild gemessen, das die von Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG geschützte primäre Erziehungszuständigkeit der Eltern verfehlt. Eltern müssen ihre Erziehungsfähigkeit nicht positiv „unter Beweis stellen“; vielmehr setzt eine Trennung von Eltern und Kind umgekehrt voraus, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht. Außerdem folgt aus der primären Erziehungszuständigkeit der Eltern in der Sache, dass der Staat seine eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Kindererziehung grundsätzlich nicht an die Stelle der elterlichen Vorstellungen setzen darf. Daher kann es keine Kindeswohlgefährdung begründen, wenn die Haltung oder Lebensführung der Eltern von einem von Dritten für sinnvoll gehaltenen Lebensmodell abweicht und nicht die aus Sicht des Staates bestmögliche Entwicklung des Kindes unterstützt.«
Aber die zweite Ebene, die das Kind bzw. den Jugendlichen selbst betrifft, ist höchst ambivalent hinsichtlich der Hürden, die damit aufgebaut werden für die Jugendämter, einzugreifen. Zugleich hat das Gericht in diesem Zusammenhang einen mehr als denkwürdigen Satz in die Welt gesetzt, der hier aus dem Urteil selbst zitiert werden soll (Beschluss vom 19. November 2014 – 1 BvR 1178/14, Randziffer 38):
»Die Eltern und deren sozio-ökonomische Verhältnisse gehören grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes.«
Das muss man erst einmal sacken lassen. Und sie schieben hinterher:
»Zwar bedarf es danach etwa bei einer unzureichenden Grundversorgung der Kinder keiner ausführlichen Darlegung, dass Kinder derartige Lebensbedingungen nicht ertragen müssen. Stützen die Gerichte eine Trennung des Kindes von den Eltern jedoch – wie hier – auf Erziehungsdefizite und ungünstige Entwicklungsbedingungen, müssen sie besonders sorgfältig prüfen und begründen, weshalb die daraus resultierenden Risiken für die geistige und seelische Entwicklung des Kindes die Grenze des Hinnehmbaren überschreiten. Dies ist hier nicht geschehen.«
Besonders die bereits zitierte Grenzziehung, dass Voraussetzung für eine Trennung von Eltern und Kind sei, »dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht«, wird dazu führen, dass man sehr lange abwarten muss, bevor man zu entziehenden Maßnahmen greifen darf. Vielleicht und wahrscheinlich in dem einen oder anderen Fall so lang, bis das Kind leider „in den Brunnen“ gefallen ist.
Aber hier interessiert besonders der Umgang mit den Gutachten und den Gutachtern. Christian Geyer-Hindemith hat das in seinem Artikel mit der Überschrift Warum ohne seine Tochter? anlässlich der bereits dargestellten Entscheidung des BVerfG so eingeordnet:
»Mehr als ein halbes Dutzend Mal haben die Karlsruher Richter in diesem Jahr Jugendämter und Gerichte gerügt, weil sie Eltern ohne tragfähige Begründung das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen haben. Dabei geht es selbstverständlich nicht um jene vergleichsweise wenigen, aber stark beachteten Fälle von schlimmer Verwahrlosung, bei denen das Jugendamt zu Recht und mitunter bedauerlicherweise auch zu spät einschreitet. Nein, stattdessen geht es um die vielen Fälle alltäglicher Denormalisierung, in denen der Staat unbotmäßig in private Lebensverhältnisse eingreift. Im Detail werden hier die Ansichten einer Sachverständigen dekonstruiert, welche maßgeblich dafür verantwortlich war, dass einem um Asyl ersuchenden Afrikaner zu Unrecht das Sorgerecht für seine Tochter aberkannt wurde. Zumal die beiden Fachgerichte werden gerügt, die ohne Wenn und Aber das fragliche Gutachten zur Grundlage ihrer nun aufgehobenen Entscheidung gemacht haben.«
Aber nun soll es besser werden. Denn der Bundesjustizminister hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, nach dem ein Fall wie der, der in Karlsruhe gelandet ist, wo also eine Heilpraktikerin das Gutachten verfasst hat, nicht mehr möglich wäre, denn: Laut Gesetzentwurf des Justizministeriums „soll das Gutachten durch einen Sachverständigen mit einer geeigneten psychologischen, psychotherapeutischen, psychiatrischen, medizinischen, pädagogischen oder sozialpädagogischen Berufsqualifikation erstattet werden“.
Also endlich (nur noch) Profis ans Werk, wenn denn der »Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Sachverständigenrechts und zur weiteren Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit«, wie die wortmäandernde Bezeichnung offiziell heißt, Gesetzeskraft erlangen wird.
So einfach ist es dann am Ende aber auch wieder nicht. Denn mit Blick auf die Ergebnisse der Studie zu den Gutachten: Mehr als 90 Prozent der von Salewski/Stürner geprüften Gutachten stammen von studierten Psychologen. Der Studienabschluss allein scheint also nicht zu genügen.
Rath weist in seinem Artikel darauf hin, dass es sehr wohl eine an einer bestimmten Qualifikation gebundene Verbesserung des Gutachtenwesens geben kann: „Nachweislich höher“, so Salewski/Stürner, war die Qualität der Gutachten nur, wenn sie von zertifizierten „Rechtspsychologen“ erstellt wurden. Das sind Psychologen, die speziell für die Mitwirkung in gerichtlichen Verfahren ausgebildet sind.
Und denen einen oder anderen wird es jetzt nicht wirklich überraschen:
Im Gesetzentwurf des Bundesjustizministers tauchen die „Rechtspsychologen“ überhaupt nicht auf.