Unvermeidbar ist es so, dass in der Sozialpolitik die Trennung zwischen der reinen Analyse und der Bewertung und normativen Einordnung oftmals schwer fällt und die Ebenen vermischt werden. Nicht selten analysiert man etwas, um die eigene Position zu fundieren – oder noch schlimmer man schreibt denen nach dem Maul, von denen man finanziert wird oder denen man sich aus welchen Gründen auch immer verpflichtet fühlt. Und wir haben gerade in der Sozialpolitik immer wieder den Mechanismus sehen müssen, dass man sich – angeblich – „wissenschaftlicher“ Expertise bedient hat und bedient, um bestimmte Vorhaben als „alternativlos“ zu brandmarken und darüber zu legitimieren. Von größter Bedeutung für ganz unterschiedliche sozialpolitische Themenfelder ist dabei die immer gerne verwendete Bezugnahme auf „die“ demografische Entwicklung, deren scheinbare Unausweichlichkeit dann immer herhalten muss für ebenso unausweichliche sozialpolitische Konsequenzen des Um- und nicht selten nur Abbaus bestehender sozialer Sicherungssysteme oder Leistungen dieser Systeme. Das ist angesichts der tatsächlich äußerst vertrackten Folgen aus der demografischen Entwicklung nicht zulässig (vg. dazu meinen Beitrag Die demografische Entwicklung ist eine große Herausforderung. Aber sie taugt nicht wirklich als Schreckgespenst zur Rechtfertigung der sozialpolitischen Planierraupe. Wenn man ein wenig rechnet vom 6. Mai 2015 oder als Beispiel für die angedeutete Instrumentalisierung des Demografie-Themas den Beitrag Leider erwartbare Folgeschäden des schnellen Konsums der neuen Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes: „Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen“ vom 28. April 2015).
Das Pfund an der demografischen Entwicklung, mit der man bei Interesse wuchern kann, ist die Tatsache, dass sich viele und ganz unterschiedliche sozialpolitische Themenfelder einpassen lassen in die Spurrillen des negativen Demografie-Diskurses, der uns seit vielen Jahren zu beherrschen versucht. Also nicht nur die Altersversorgung, also vor allem die gesetzliche Rente, oder die Gesundheitsausgaben und damit das duale System aus gesetzlichen und privaten Krankenkassen bis hin zu dem wahrscheinlichen Mega-Thema der vor uns liegenden Jahre: Die Pflege und die Pflegeversicherung, die einen wichtigen Finanzierungsbaustein darstellt. Und die ist mal wieder ins Schussfeld der Apologeten der Finanzindustrie geraten. Angesichts der gewaltigen Geschäftspotenziale, die sich ergeben (würden), wenn man die umlagefinanzierte gesetzliche Pflegeversicherung nur schlecht genug redet (übrigens ein Mechanimus, der bei der Rentenversicherung hervorragend geklappt hat), ist es verständlich, wenn man immer wieder versucht ist, einen oder mehrere Miet-Professoren in Anspruch zu nehmen, denn wenn das direkt aus den Unternehmen kommt, dann ist den meisten klar, dass es hier nur um Verkaufe geht.
Da greift man dann beispielsweise gerne auf Bernd Raffelhüschen zurück.
»… Bernd Raffelhüschen ist nicht unumstritten und wird von Kritikern als Lobbyist der privaten Versicherungswirtschaft bezeichnet. So ist Raffelhüschen Mitglied im Aufsichtsrat der ERGO Versicherungsgruppe sowie der Volksbank Freiburg. Des Weiteren ist er als wissenschaftlicher Berater für die Victoria Versicherung AG in Düsseldorf tätig. Für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), eine wirtschaftsliberale Lobby-Organisation der Metall-Arbeitgeber, tritt er als Markenbotschafter in Erscheinung«, kann man einem Beitrag auf der Seite des Versicherungsboten entnehmen. Weitere Aktivitäten kann man einem Beitrag über ihn auf der Lobbypedia-Seite entnehmen.
Der nun wurde interviewt zum Thema Pflegeversicherung in seiner für die meisten Menschen gültigen und relevanten Ausgestaltung als eigener Zweig des (umlagefinanzierten) sozialen Sicherungssystems: „Größter Fehler der Nachkriegsgeschichte“, so hat der Deutschlandfunk das Interview mit ihm überschrieben.
Darin findet sich dann der folgende Passus mit Blick auf die Einführung der Pflegepflichtversicherung Mitte der 1990er Jahre:
»Wir haben aus der Wissenschaft immer ganz, ganz vehement davor gewarnt, diesen Weg zu gehen. Das war der größte sozialpolitische Fehler der Nachkriegsgeschichte, den wir dort gemacht haben. Den hat uns im Übrigen auch keiner nachgemacht. Alle haben auf Deutschland gezeigt und gesagt, so geht es halt nicht!»
Gleichsam en passant streut er hier „die“ Wissenschaft ein, um den damit verbundenen Nimbus für seine Bewertung zu nutzen. Schon recht dreist, wenn man sich die differenzierten wissenschaftlichen Diskurse zu diesem Thema anschaut. Aber mehr als eine Frechheit, nämlich schlichtweg eine Lüge ist die Aussage des Herrn Professors, der sich offensichtlich nicht auskennt in der internationalen Entwicklung der Absicherung der Pflegebedürftigkeit (das wäre die nette Variante) oder der das einfach fälschlicherweise umdeuten will zugunsten seiner negativen Bewertung: »Alle haben auf Deutschland gezeigt und gesagt, so geht es halt nicht!« Haben sie eben nicht.
Dazu die Hinweise in meinem durchaus kritischen Beitrag 20 Jahre Pflegeversicherung. Eine – wie immer in der Sozialpolitik – unvollständige Erfolgsgeschichte jenseits der Festveranstaltungen vom 17. Januar 2015. Dort wird aus dem BARMER GEK Pflegereport 2014 zitiert:
»… die deutsche Pflegeversicherung (wurde) Vorbild für die Einführung der Pflegeversicherung in Luxemburg, Japan und Korea und für viele aktuelle Debatten zur Pflegesicherung in anderen Teilen der Welt« (Rothgang et al. 2014: 27).«
Aber Raffelhüschen schießt eine weitere Nebelkerze ab, wenn er auf die Frage, wie man denn die Pflegekosten in die Griff bekommen könne ohne Pflegeversicherung, antwortet:
»Wir haben das vor 95 ja auch in den Griff bekommen! Vor 95 musste halt der Mensch – es sei denn, er war arm, dem haben wir geholfen! –, aber vor 95 musste man entsprechend selbst vorsorgen. Und das ging, ohne weiteres. Nach 95 haben alle was bekommen. Die Armen dasselbe wie vorher, die haben nichts dadurch gewonnen, und die Reichen, na, die wurden bereichert. Die Pflegeversicherung ist nichts anderes als so eine Art groß angelegtes Erbschaftsbewahrungsprogramm für den deutschen Mittelstand gewesen.«
Das ging eben nicht ohne weiteres – die strukturelle Überforderung des Einzelnen und vor allem der Kommunen mit ihren aus der Sozialhilfe zu bestreitenden Ausgaben der „Hilfe zur Pflege“ haben doch in einem langjährigen und quälenden Prozess der Suche nach einer Lösung zu der dann eingeschlagenen beitragsfinanzierten Sozialversicherungslösung geführt. Dazu aus dem Beitrag über 20 Jahre Pflegeversicherung:
So waren vor Einführung der Pflegeversicherung etwa 80 % der Pflegeheimbewohner auf die bedürftigkeitsabhängige Hilfe zur Pflege angewiesen, heute sind es weniger als die Hälfte. Die Versorgungssituation war damals eine ganz andere und durch erhebliche Defizite, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Zahl der Einrichtungen, sondern auch im Hinblick auf das konkrete Leistungsangebot gekennzeichnet. Qualität war kein Thema. Hier hat es nach Einführung der Pflegeversicherung erhebliche Veränderungen gegeben: Im Bereich der Pflegeinfrastruktur kam es zu einer dramatischen Expansion des Angebots an formeller Pflege. Im Pflege-Versicherungsgesetz wurde erstmals die ganze Bevölkerung obligatorisch in eine gesetzliche Versicherung einbezogen. Vor allem aber wurde das Pflegerisiko mit Einführung der Pflegeversicherung als allgemeines Lebensrisiko anerkannt, das einer sozialrechtlichen Bearbeitung bedarf.
Die wirklichen Schwachstellen und Herausforderungen, die es hier zu diskutieren gilt, interessieren den Herrn Raffelhüschen überhaupt nicht. Sie finden sich beispielsweise in dem von Rothgang et al. verfassten BARMER GEK Pflegereport 2014:
»Gleichzeitig enthält das Pflege-Versicherungsgesetz einige Geburtsfehler dieses neuen Sozialversicherungszweig, die bis heute nachwirken und aktuelle Reformvorhaben und -debatten prägen. Hierzu zählt der (zu) enge Pflegebedürftigkeitsbegriff, der im für 2017 geplanten zweiten Pflegestärkungsgesetz erweitert werden soll, die fatale Eingrenzung der Beitragspflicht auf Löhne, Gehälter und Lohnersatzleistungen ebenso wie das duale System von Sozialer Pflegeversicherung und Privater Pflegepflichtversicherung, das normativ nicht gerechtfertigt werden kann. Auch produziert das Nebeneinander von einer Krankenversicherung mit Kassenwettbewerb und einer Pflegeversicherung ohne Kassenwettbewerb Fehlanreize an den Schnittstellen.«
Nein, was Raffelhüschen hier betreibt, das ist plumper Lobbyismus für die private Finanzindustrie und das par excellence. Hier soll ein Teilfinanzierungssystem zur Absicherung der Pflegebedürftigkeit diskreditiert und sturmreif geschossen werden, um dann in die erzeugte Lücke mit privaten Absicherungsmodellen hineinstoßen zu können.
So was muss man schlicht und einfach „junk science“ nennen:
»Junk Science … bzw. Minderwissenschaft ist Forschung, mit deren Ergebnissen Vertreter wirtschaftlicher, religiöser oder politischer Interessen versuchen, hoheitliche Entscheidungen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Die Interessenvertreter sind dabei zugleich die Geldgeber der Forschung (gewöhnlich erfolgt die Finanzierung indirekt über eine Denkfabrik), wobei dieser Zusammenhang verschleiert oder zumindest nicht offenkundig gemacht und ausdrücklich angesprochen wird. Auf diese Weise erwecken die Forschungsergebnisse den Eindruck der Objektivität und wissenschaftlichen Unabhängigkeit. «