Eine Zeit lang war die – nur mit dem Anstieg von Umsatz und Gewinn von Apple vergleichbare – quantitative Expansion des Tafelwesens in Deutschland für die einen offensichtlicher Indikator der zunehmenden Verarmung in unserem Land, so dass man diese moderne Variante einer Suppenküche braucht, während sich die anderen kritisch abarbeiten an der angeblichen oder tatsächlichen Funktionalität der Tafeln im Sinne einer neuen „Abspeisung“ von Menschen, denen man zu geringe Sozialleistungen gewährt und die man dann auf die fast flächendeckende Versorgungsinfrastruktur der Tafeln verweisen kann, bei denen man sich ja das besorgen kann, was nicht über die staatlichen Leistungen abgedeckt werden kann. Kritische Bücher wurden über die Tafeln verfasst – allen voran von dem Soziologen Stefan Selke. In diesem Umfeld entstand eine eigene Website – Tafelforum -, allerdings ist die (wie so viele andere Webseiten auch), seit einiger Zeit in den Ruhemodus übergegangen. Und anlässlich des 20jährigen Bestehens der Tafeln in Deutschland im Jahr 2013 hatte sich sogar ein „Kritisches Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“ gebildet, ebenfalls mit einer eigenen Website, die allerdings eingeschlafen ist. Nur auf der Facebook-Seite dieses Aktionsbündnisses gibt es noch sporadische Aktivitäten.
Aber vielleicht braucht es diese kritische Begleitung der Tafeln gar nicht mehr, denn es häufen sich die Berichte, dass die Tafeln nicht nur an die Grenzen ihrs Wachstums gestoßen sind, sondern dass sie jetzt eintreten werden in eine Phase der Rückabwicklung. Dies nicht deshalb, weil ihnen die Kundschaft ausgeht, ganz im Gegenteil, denn die Nachfrage wächst und wächst. Aber weil ihnen die Lieferanten auszugehen drohen. Sind die Supermärkte hartherziger geworden? Nein, es geht vordergründig um die Folgen einer Effizienzsteigerung in den Supermärkten und hintergründig um die Erledigung des eigentlichen, also ursprünglichen Ziels der Tafeln, das allerdings etwas in Vergessenheit geraten ist. Anders ausgedrückt wird hier behauptet: Hinsichtlich des einen Ausgangsziels der Tafelbewegung werden die Tafeln schlichtweg überflüssig – die möglichst sinnvolle Verwertung von noch-verwertbaren Lebensmitteln, die ansonsten in unserer Überflussgesellschaft in den Abfall geschmissen worden wären. Damit aber wird aber immer offensichtlicher, dass das mittlerweile transformierte zweite Ausgangsziel der Tafelbewegung, die Versorgung der Armen mit Lebensmitteln, nicht mehr wie bislang oder nur bei Erschließung „neuer Quellen“ für den Nachschub aufrechtzuerhalten ist.
Um diese These nachzuvollziehen sei hier ein kurzer Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Tafelbewegung erlaubt. Der Bundesverband Deutsche Tafel schreibt zur Geschichte der Tafeln in Deutschland:
»Die erste deutsche Tafel wurde von der Initiativgruppe Berliner Frauen e.V. 1993 in Berlin gegründet. Nach einem erschütternden Vortrag der damaligen Sozialsenatorin Ingrid Stahmer wollten die engagierten Berlinerinnen vor allem die Situation der Obdachlosen der Stadt verbessern. Ein Mitglied der Gruppe, frisch aus den USA zurückgekehrt, stellte die entscheidende Frage: Warum nicht das Konzept der New Yorker City Harvest auf Deutschland übertragen? Der Gedanke, Lebensmittel einzusammeln, die nach den Gesetzen der Marktlogik „überschüssig“ sind, und diese an bedürftige Menschen und soziale Einrichtungen weiterzugeben, schien einfach und sinnvoll.«
Vgl. dazu auch das im Jahr 2010 veröffentlichte Interview mit Sabine Werth, die 1993 in Berlin die erste Tafel in Deutschland gegründet hat.
Hier sei besonders hervorgehoben, dass man am Anfang der Entwicklungsgeschichte der Tafeln zwei gute und zugleich sehr begrenzte Anliegen miteinander verbinden wollte – eine im wahrsten Sinne des Wortes doppelt gute Absicht: Zum einen Lebensmittelvernichtung zu vermeiden und gleichzeitig obdachlose Menschen, also die ganz unten, davon profitieren zu lassen.
Mit Blick auf die Anfänge dieser Bewegung sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: Die Berliner Tafel konzentrierte sich die ersten zehn Jahre ausschließlich auf die Belieferung sozialer Einrichtungen und betrieb keine eigene Ausgabestellen. Und zweitens kam hinzu, dass man anfangs die Obdachloseneinrichtungen bedient, allerdings wurde dieser Ansatz bereits sehr frühzeitig erweitert auf andere soziale Einrichtungen: »Schnell wurden die Medien und somit die Bevölkerung aufmerksam, schnell sprach sich die gute Idee herum und schnell wurde klar: Die Lebensmittelspenden werden nicht nur von Obdachloseneinrichtungen benötigt, sondern auch von anderen sozialen Organisationen der Stadt. Egal ob Frauenprojekte, Kinderzentren, Frühstücks- oder Mittagsangebote für Arbeitslose«, so die Formulierung in einem Abriss der Geschichte der Berliner Tafel.
»Die ursprüngliche „Zielgruppe“ der Tafeln hat sich inzwischen gewandelt: Obdachlose stellen mittlerweile nur noch einen geringen Anteil an Tafel-Kunden. Heute unterstützen die Tafeln in Deutschland vor allem Arbeitslose und Geringverdiener, Alleinerziehende und Rentner mit Lebensmitteln«, so die Beschreibung des Bundesverbands Deutsche Tafel. Und mit Blick auf den aktuellen Rand müsste man ergänzen – immer mehr Flüchtlinge, die Leistungen der Tafeln in Anspruch nehmen. Das alles ist nicht immer konfliktfrei und schafft bei begrenztem Verteilungsspielraum natürlich auch Verteilungskonflikte, die an der einen oder anderen Stelle dann angereichert werden um grundsätzliche Konflikte, wenn die Helfer von denen vor den Kopf gestoßen werden, denen sie doch helfen wollen.
Hierzu ein Beispiel aus dem Ruhrgebiet: Jürgen Stahl berichtet in seinem Artikel Ruppige Flüchtlinge vertreiben Tafel-Helfer: »Die Tafel in Bochum-Wattenscheid beklagt zunehmende Anfeindungen gegen ihre Helfer bis hin zu gewalttätigen Übergriffen. „Seit Mitte letzten Jahres sind 300 unserer 430 ehrenamtlichen Mitarbeiter ausgeschieden. Sie wollten diese Respektlosigkeiten nicht länger ertragen“, sagt Tafel-Gründer und Leiter Manfred Baasner (71) und kündigt weitere Einschnitte bei der Verteilung an … „Unsere Helfer werden aufs Übelste beleidigt und angepöbelt. Wir werden beschimpft, weil einige Bananen braune Flecken haben. Alte und Kinder werden weggehauen. Da herrscht eine Aggressivität und ein Anspruchsdenken, das mich zur Weißglut bringt.“ Es tue ihm „sehr leid, das zu sagen. Aber es sind fast ausschließlich Aussiedler aus Südosteuropa und zunehmend auch Flüchtlinge, die sich so benehmen.“ … Die Tafel hat die Zahl ihrer Ausgabestellen nun von 36 auf 20 gesenkt. Die Polizei bestätigt die Darstellung von Tafel-Chef Manfred Baasner. Zum Schutz der Tafel-Helfer und Kunden seien die Beamten nun regelmäßig vor Ort. Bei einer Umfrage bei anderen Tafeln an Rhein und Ruhr ergaben sich keine vergleichbaren Klagen.« Dazu auch der Artikel Beleidigungen, Angriffe – Tafel klagt über aggressive Kunden.
Mit dem hier nur angedeuteten Zuwachs an bedürftigen „Kunden“ einher geht die quantitative Expansion der Tafeln wie auch der dort tätigen Menschen. Und auch eine zunehmende „Professionalisierung“ hinsichtlich Fuhrpark oder der Beschäftigung von Festangestellten bis hin zum Einsatz von „Ein-Euro-Jobbern“.
Verdeutlichen kann man diese Entwicklung exemplarisch am Beispiel der Tafel in Duisburg, über die Eva Adler in ihrem Artikel Ein Leben von der Tafel berichtet: Mittlerweile werden 4.000 Menschen über die Tafel unterstützt in Duisburg. »Insgesamt 90 Freiwillige und elf Festangestellte helfen tatkräftig mit.« Da hat sich eine Menge verändert im Vergleich zu den Anfängen: »Als im März 1995 ein paar Duisburger den Duisburger Tafel Obdachlosenhilfeverein gründeten, wollten sie das Problem der Wohnungslosigkeit vieler Jugendlicher lösen. Sie kümmerten sich um eine Hand voll Bedürftiger. Aus fünf wurden zehn, 20, 40 Leute.« Und heute wie gesagt: 4.000. Die werden zum einen versorgt über die Ausgabestellen der Tafel, zum anderen: »Außerdem sind sechs Transporter unterwegs, die täglich zehn Tonnen Nahrungsmittel und Mittagessen an andere soziale Einrichtungen, wie Schulen und Kindergärten liefern.« Auch in anderen Tafeln lässt sich diese Mischung aus Ehrenamt und mehr oder weniger festangestellten Mitarbeitern beobachten, einige greifen konsequent auf die staatlich finanzierten bzw. subventionierten Beschäftigungsformen zurück. Beispiel Tafel Bottrop: Dort arbeiten elf 1,50-Euro-Jobber, drei Bundesfreiwilligendienstler und 50 Ehrenamtliche. Für die Tafel in Mülheim vgl. den Artikel Am Ende der Nahrungskette. Generell zur Bedeutung der Tafeln in Nordrhein-Westfalen Tafeln in NRW – „Entweder hungern oder hier hin gehen“.
Ganz offensichtlich hat sich hier ein sehr punktuelles Hilfesystem im Laufe der Jahre verselbständigt und nach einem außergewöhnlichen Wachstum zeigen sich nun alle generellen Probleme, die solche verselbständigte und expandierenden Systeme haben, vor allem die zunehmende Last der Existenzsicherung angesichts der Notwendigkeit, mit ausreichend Lebensmittel versorgt zu werden, von denen man immer mehr braucht angesichts des rasanten Wachstums (das ja auch auf der Nachfrageseite entsprechend gestützt wird).
Aber die Angebotsseite wird jetzt zunehmend zum Problem – eigentlich ist das vor dem Hintergrund des konzeptionellen Kerns der Tafelidee keine schlechte Nachricht, die so formuliert wird: »Die Tafeln schaffen einen Ausgleich: Sie sammeln diese überschüssigen Lebensmittel im Handel und bei Herstellern ein und verteilen sie an sozial und wirtschaftlich benachteiligte Menschen, kostenlos oder gegen einen symbolischen Betrag.« Es darf hier nochmals darauf hingewiesen werden, dass am Anfang die Idee stand, die Verschwendung von Lebensmittel – bei gleichzeitiger Existenz von Hunger bzw. Lebensmittelknappheit – zu bekämpfen bzw. zu verhindern. Wenn jetzt aber mittlerweile berichtet wird, dass die Tafel zunehmend Schwierigkeiten haben, von den Supermärkten Lebensmittel zu bekommen, die sie dann weiterreichen können, weil die Supermärkte – und das ist hier der Punkt – immer effizienter mit ihren Waren umgehen, also eine ansonsten wie bisher fällige Entsorgung noch genießbarer Lebensmittel vermeiden, dann wäre das ja insofern eine gute Nachricht, als dass ein Ausgangsziel der Tafelbewegung jetzt immer besser an der Quelle erfüllt wird. Supermärkte unter Druck – weniger Lebensmittel für Tafeln, so ist ein Artikel in der Online-Ausgabe der WAZ überschrieben.
Was passiert hier? »Supermärkte haben die Logistik verfeinert. Das merken auch Tafeln: Bei ihnen kommen weniger überschüssige Lebensmittel an. Tafeln suchen neue Quellen.« Etliche Tafeln im Ruhrgebiet darüber, aus Supermärkten nicht mehr so viele überschüssige Lebensmittel zu bekommen wie früher. Die Ursache für diese Entwicklung ist erst einmal ein trivial betriebswirtschaftliche: Der wirtschaftliche Druck für Supermärkte wird immer größer, daher kaufen sie heutzutage wesentlich genauer ein, kalkulieren so, dass so wenig wie möglich übrig bleibt. Die Geschäfte ordern ihre Waren nicht mehr wie früher einmal in der Woche, sondern sie werden jeden Tag beliefert. Die Folge: Es gibt nicht mehr so viele Waren, die sie abschreiben. Hinzu kommt: »Geschäfte gehen zusehends dazu über, Ware kurz vor dem Ablauf der Mindesthaltbarkeit selbst billiger zu verkaufen, auch die Preise für Ware vom Vortag herabzusetzen oder sie sogar zu verschenken.« Das wächst sich offensichtlich zu einem veritablen Nachschubproblem aus: »Mit der steigenden Zahl der Bedürftigen, darunter viele Flüchtlinge, halte der Nachschub nicht mehr mit. In Gladbeck und anderen Städten mangelt es jetzt auffällig oft an Jogurt, Butter, Käse, Quark, Fleisch.« Und das hat Verteilungskonsequenzen: Bedürftige in Bottrop beispielsweise dürfen nun nur noch einmal pro Woche zur Lebensmittelausgabe kommen, kann man dem Artikel Warenengpass wird zum Problem für die Tafel in Bottrop entnehmen.
Was die Kritik am expandierenden Tafelwesen in Deutschland nicht in Ansätzen geschafft hat, das schafft der Markt? Sollte es am Ende so kommen? Wir stehen offensichtlich an einem interessanten Wendepunkt. Was aber nichts ändert an den offensichtlichen Versorgungsproblemen derjenigen, die es angeblich nicht gibt bzw. geben darf. Die Armen in unserem Land.