Fünf Sterne – oder weg bist du? Der „Bewertungskapitalismus“ als Chance und Bedrohung

In einem vor kurzem veröffentlichten Essay hat Christian Stöcker unter der Überschrift Der Fünf-Sterne-Kapitalismus mit einem interessanten, ambitionierten Begriff operiert: „Bewertungskapitalismus“. Was muss man sich darunter vorstellen? Dazu Stöcker: »In dem neuen Wirtschaftszweig, den man im Silicon Valley Share Economy getauft hat, geht es ohne Bewertungen gar nicht mehr. Unternehmen wie Airbnb, 9Flats oder Uber verkaufen keine Dienstleistungen mehr an Kunden, sondern vermitteln lediglich zwischen Anbieter und Abnehmer, so wie Ebay. Hier haben Bewertungen eine ganz neue Wucht … Nach dieser Logik werden alle, die mitmachen beim Bewertungskarussell, zu einer Art kollektiver Gewerbeaufsicht: Wenn wir alle der Meinung sind, dass leere Burgerpackungen im Fußraum eines Taxis nicht akzeptabel sind, dann können wir gemeinsam dafür sorgen, dass sie verschwinden. Wir müssen nur oft genug unseren Unmut kundtun. Die Dienstleistungen, die Uber, Airbnb und Co. vermitteln, müssten mit jeder bewerteten Transaktion immer besser und besser werden, ganz ohne staatliche Einmischung. Gegen uns alle als Kontrolleure sind die paar Beamten von den Aufsichtsbehörden ein Witz.«

Mit diesen Ausführungen deutet sich an, in welche spezielle Richtung die Plattform-Betreiber die Debatte zu lenken versuchen: Man will gewachsene und überhaupt staatliche Regulierung zurückdrängen und meint, diese substituieren zu können über ein auf der Seite der Nachfrager bzw. Konsumenten implementiertes System der Bewertungen, weil die doch viel besser wissen, was gut ist bzw. war und was nicht. Daraus lassen sich mindestens zwei Fragen ableiten: Zum einen die nach der Verlässlichkeit und der Sicherheit der Kontrollfunktion im Zuge der tatsächlich beobachtbaren Machtverschiebung zugunsten der (bewertenden) Kunden. Zum anderen, gleichsam als oftmals immer noch unterschätzte „dunkele Seite“ der neuen Welt des Bewertungskapitalismus, die Frage nach den Auswirkungen nicht nur auf die Anbieter generell, sondern vor allem auf deren Art und Weise, die Arbeit erledigen zu müssen, mithin also auch auf die Beschäftigungsbedingungen. Ein genuin sozialpolitisches Thema.

Der Blick auf die erste Frage kann an dieser Stelle nur sehr skizzenhaft erfolgen. Grundsätzlich, um mit den positiven Aspekten zu beginnen, muss man natürlich konzedieren, dass die heutige Welt der möglichen Kundenbewertungen der Konsumentenseite eine ganz neue Macht im Gefüge zwischen Angebot und Nachfrage eröffnet. Und viele Anbieter haben diese Macht auch schon schmerzhaft zu spüren bekommen. Wenn man sich anschaut, wie stark die Geschäfte bestimmter Anbieter mittlerweile abhängig geworden sind von den vorliegenden Bewertungen ihrer Produkte und Dienstleistungen, dann wird klar, dass es hier um existenzielle Angelegenheiten geht. Allerdings reagiert eine kapitalistische Ökonomie auf diese Machtverschiebung in den Angebots-Nachfrage-Beziehungen systemimmanent mit dem Versuch, diese Verschiebung, wenn sie denn schon nicht mehr zu vermeiden ist, zu „gestalten“. Man kann und muss davon sprechen, dass zwischenzeitlich eine ganze „Bewertungsindustrie“ entstanden ist, deren Geschäftsmodell darin besteht, den immer bewertungsabhängiger werdenden Unternehmen Bewertungen in die gewünschte Richtung zu generieren oder aber auch – als eine besonders maligne Ausformung – Konkurrenten negativ zu treffen. Zur überaus komplexen Thematik der „Bewertungsindustrie“ nur zwei Beispiele:

  • An der Fachhochschule Worms wurde am Beispiel der Hotel-Bewertungen eine empirische Studie über die Bedeutung sogenannter „Customer Review Sites“ durchgeführt. Alles ist käuflich, so zumindest eine der Aussagen der Studie, in dem die Autoren die Marktpreise zusammengestellt hat: » Weblog-Einträge kosten zwischen 5 und 500 Euro je nach Umfang und Qualität, Twitter-Follower sind zwischen 8 und 17 Cent je nach Anbieter und Leistungspaket zu haben, und Bewertungen kosten ca. 5 Euro (oder 5 Dollar) je nach anbietender Person.«
  • Stefan Krombach hat in seinem Artikel Gekaufte Bewertungen: Wie HRS seine iPhone-App promotet darüber berichtet, dass das Hotelbuchungsportal HRS Studenten für positive Rezensionen bezahlt, um im riesigen Angebot des App Stores mit guten Bewertungen herauszustechen. Konkret sollten die Studenten die HRS-iPhone-App testen und eine Rezension im App Store schreiben. Dafür wurden sie mit 3,20 Euro vergütet. HRS forderte, in der Rezension vor allem die positiven Aspekte hervorzuheben und auch eine entsprechende Bewertung abzugeben. Krombach hat in seinem Artikel auf einen der Anbieter dieser Dienstleistungen hingewiesen: “Beauftragen Sie qualifizierte Studenten online”. Mit diesem Satz wirbt das Studentenjob-Portal Mylittlejob.de auf seiner Startseite um Auftraggeber. Ergänzend könnte es wohl heißen: “Studenten bewerten Ihre App mit fünf Sternen!” Doch dieser Satz fehlt. »Bei der zu “testenden” App handelt es sich um die “Hotel Suche” des Buchungsportals HRS. HRS kauft sich also für 3,20 Euro eine Bewertung im App Store, bei der “vor allem die positiven Aspekte hervorgehoben werden” sollen.« Offensichtlich gibt es einen generellen Markt für diese Dienstleistungen: »Es gibt Marketing-Agenturen, die sich rein auf “ASO”, die “App Store Optimization” spezialisiert haben. Die gratizzz GmbH aus Mainz beispielsweise bietet 50 App-Bewertungen zum Preis von 290 Euro an und verspricht “die Pole-Position für Ihre App“«, so Krombach in seinem Beitrag.

Von grundsätzlicher, aber empirisch überaus schwer zu fassender Bedeutung ist die Frage nach der Korrektheit der Bewertungen – und das nicht nur für die Nutzer, die sich verlassen (wollen) auf die Bewertungen, sondern auch für die Anbieter, die teilweise in existenzielle Nöte gestoßen werden können, wenn beispielsweise zahlreiche falsche Bewertungen andere potenzielle Kunden vom Kauf abhalten. Die Datenlage ist naturgemäß unsicher. Zum Anteil gefälschter Bewertungen gibt es immer nur Schätzwerte. Die rangieren aber alle zwischen 20 und 30 Prozent. Beispielsweise hat das Bewertungsportal Yelp angegeben, dass es 20% bis 25% der abgegebenen Bewertungen als “suspicious,” einstuft. Entfernt werden diese Beiträge dann aber übrigens nicht. Häufig zitiert werden der Informatiker Bing Liu der Universität Illinois und der  Social-Media-Experte Krischan Kuberzig, die ebenfalls von 20 bis 30 Prozent ausgehen. Wie immer bei solchen Entwicklungen gibt es sogleich eine Gegenentwicklung: In den USA entwickeln mehrere Institute Detektoren für Opinion Spam, darunter beispielsweise die Cornell University in New York mit einem Angebot namens Review Skeptic).

Mit der Thematik hat sich auch das Deutschlandradio Kultur-Magazin „Breitband“ in der Sendung am 13.12.2014 aus unterschiedlichen Perspektiven beschäftigt: „Top-Verkäufer, netter Kontakt, gerne wieder“. Wie der Bewertungskapitalismus Handel und Konsum verändert. Die Sendung ist auch als  Audio-Datei verfügbar.

Aus einer sozialpolitischen Sicht besonders relevant und brisant ist die Frage, was dieser um sich greifende „Bewertungskapitalismus“ für die Beschäftigungsbedingungen der Menschen bedeutet. Beginnen wir auch diesen Teil mit einem positiv daherkommenden Aspekt: »Der bewertungsbasierte Kapitalismus sorgt nicht nur für höfliches Personal, saubere Autos und Hotelzimmer, er schafft auch ganz von selbst, crowdbasiert sozusagen, Qualitätsstandards. Was viele Kunden als gut genug bewerten, ist es auch.« So Christian Stöcker in seinem bereits zitierten Artikel Der Fünf-Sterne-Kapitalismus. Ganz unabhängig von der Frage, ob das bei komplexen Produkten oder Dienstleistungen überhaupt stimmt – in dem Zitat verbirgt sich  eine große Problematik für den Art und Weise der zu erledigenden Arbeit unter den Bedingungen des modernen Bewertungskapitalismus. Stöcker macht das am Anfang seines Artikels anhand einer anekdotischen Beschreibung aus der gar nicht so schönen neuen Bewertungswelt deutlich:

»Ein Kollege aus der Redaktion von SPIEGEL ONLINE hatte kürzlich ein für ihn unangenehmes Erlebnis im Taxi. Er hatte den Wagen per App bestellt. Als der Kollege sich angeschnallt hatte, begann der Fahrer, um Lob zu bitten. Ob man denn mit der Fahrt zufrieden sei, fragte der Mann, man werde ihm doch hoffentlich eine gute Beurteilung zuteil werden lassen. Das einzige, was der Kollege am Ende der Fahrt tatsächlich zu bemängeln hatte, war das fortgesetzte Betteln.«

Nicht ohne Grund sind wir wieder einmal bei Uber gelandet. Denn die haben tatsächlich ein einfaches und vielleicht gerade deshalb so wirkkräftiges „Feedback“-System aufgebaut, das einen enormen Druck ausübt auf die Fahrer dieses Unternehmens. Wie problematisch die Arbeitsbedingungen der Uber-Fahrer mittlerweile im Heimatland dieses Konzerns sind, kann man der Reportage Unter dem Mindestlohn – Fahrer protestieren gegen Uber von Wolfgang Stuflesser aus den USA entnehmen – dort wird darauf hingewiesen, dass die Fahrer vor allem das rigide Bewertungssystem der Fahrer durch die Kunden als ungerecht empfinden. Sie weisen darauf hin, dass vielen Kunden möglicherweise gar nicht bewusst ist, dass Fahrer vom Unternehmen aussortiert werden, wenn sie nicht im Schnitt auf fünf Sterne bei der Bewertung kommen. Auch Stöcker erwähnt das Uber-Beispiel hin: »Lob oder Tadel haben einen monetären Wert, sie können unmittelbare Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wohl und Wehe Einzelner haben. Ins Auto eines Fahrers, in dessen Profil zwei Sternchen stehen, wird kaum noch jemand einsteigen. Bei Uber dürfte er gar nicht mehr fahren. Das Magazin „Wired“ warnte vor einiger Zeit schon einmal, man müsse schon gute Gründe haben, einem Uber-Fahrer weniger als fünf Sternchen zu geben, denn dessen wirtschaftliche Existenz hänge von seiner Punktzahl ab.«

Aber es gibt noch ganz andere Bereiche, wo über die personenbezogene Bewertung der Arbeitsleistung nach dem Muster Daumen hoch oder runter gewirkt wird. Nehmen wir als Beispiel der Handwerker-Vermittlungsplattform MyHammer. Dort werden die anbietenden Handwerker ebenfalls bewertet von den Kunden – und das übt einen gewaltigen Druck aus auf diese Anbieter. Dazu beispielsweise aus der Forschung den Beitrag „Soloselbstständige Internet- Dienstleister im Niedriglohnbereich: Prekäres Unternehmertum auf Handwerksportalen im Spannungsfeld zwischen Autonomie und radikaler Marktabhängigkeit“, ein Vortrag von Philipp Lorig von der Universität Trier auf der 2. Tagung der Initiative 3sR „Tertiarisierung der Gesellschaft“. Zum Bewertungssystem von MyHammer führt Lorig aus: Für Soloselbstständige sind die Bewertungen Werbung und Information für potenzielle Neukunden. Aufgrund der Wichtigkeit positiver Bewertungen wird das Auftreten instrumentell darauf ausgerichtet. Die Bewertungen, so Lorig, haben eine disziplinierende Funktion: Der stumme Zwang radikaler Markt- und Kundenabhängigkeit reicht weit über vertragliches Abkommen hinaus in den Alltag der Anbieter hinein. Die Angst vor negativer Bewertung führt zu unentgeltlichem Entgegenkommen, Arbeit auf Materialkostenpreis, ständiger Erreichbarkeit. Lorig zitiert einen der befragten Handwerker:


„Sobald du schlechte Bewertungen hast, hast du schlechte Karten. Die Leute gucken wirklich drauf. Die gucken sich die letzten Bewertungen an, wie die Leute beschrieben sind, ob sie sauber gearbeitet haben, die Qualität stimmt, ob sie zuverlässig und ob sie preiswert waren. Das steht alles drin. Aber du steckst da nicht drin, du weißt nicht, warum die Leute dich plötzlich schlecht bewerten, warum sie so einen Quatsch schreiben. Es ist doch kein Problem, mich anzurufen und zu sagen, was eventuell schief gelaufen ist. Aber einfach so Kritik rauszuhauen, das ist vielleicht kein Rufmord, aber es ist ’ne Wertung, die andere Leute lesen! Ich sag den Kunden immer, wenn etwas sein sollte, wenn sie nach der Abnahme nicht ganz zufrieden sind und wenn noch etwas zu tun ist: lieber anrufen als direkt öffentlich abzuwerten. Wenn irgendwas dreckig sein sollte oder wenn die Farbe nicht gedeckt hat, dann komm ich da gerne nochmal hingefahren, ist doch kein Thema, dann arbeite ich nochmal nach. Aber so ne negative Bewertung, die kann dir das Genick brechen“. (Lorig 2014, Folie 12).

Lorig interpretiert das, was auf MyHammer abläuft, als Beispiel für die Entwicklung eines neuartigen „Internet-Dienstleister-Tagelöhnertums“ (Folie 18). Das trifft sicher nicht für alle Anbieter zu, aber es scheint schon ein Strukturmerkmal bei vielen Angeboten zu sein. Die Verschiebung der Marktmacht hin zu den Verbrauchern hat – wie jede Medaille – eben zwei Seiten.

Und das, was einige Anbieter im Bereich der handwerklichen Dienstleister erleben (müssen), kennen wir schon seit längerem auch in der vielzitierten hochqualifizierten Wissensarbeit. 2012 haben Markus Dettmer und Frank Dohmen in ihrem Artikel Frei schwebend in der Wolke die damaligen konzeptionellen Überlegungen des Software-Konzerns IBM für eine Radikalreform seiner Belegschaft beschrieben: »Die meisten Mitarbeiter der Zukunft sitzen dagegen nicht mehr in den Zentralen und Niederlassungen des IT-Spezialisten. Sie sind von Nigeria über Finnland bis Chile weltweit in einer sogenannten globalen Talent Cloud verstreut und werden in sich verändernden Verbünden für einige Tage, Wochen, Monate oder Jahre für bestimmte Projekte angeheuert. Sie sollen, so das Papier, „die Dienstleistungen für unsere Kunden erbringen“. Anbieten können die Fachkräfte ihre Arbeitskraft auf einer Internetplattform nach dem Vorbild von Ebay. Dort sollen Firmen aus aller Welt über „virtuelle Kioske“ Zugriff auf das Personal erhalten. Damit die Auswahl der Arbeitskräfte funktioniert, will IBM ein „Zertifizierungsmodell“ erarbeiten. Die Menschen, die ihre Arbeit auf der Plattform anbieten, würden etwa mit Farben (Blau, Silber oder Gold) gekennzeichnet – je nach Grad ihrer Qualifizierung und Befähigung.«
Mit Blick auf die hier interessierenden Bewertungssystem erfahren wir:

»Zum entscheidenden Faktor für den Erfolg von Arbeitnehmern wird künftig aus Sicht des Konzerns deren sogenannte digitale Reputation. Gemeint ist damit ein System, mit dem Menschen bewertet und gleichzeitig motiviert werden sollen, eine beängstigende Mischung aus Freiheit und totaler Kontrolle.«

Die Betroffenen müssen ihren beruflichen Werdegang, ihre Stärken, Schwächen und Qualifikationen zur Schau stellen. Kernbestandteil wären »detaillierte Beschreibungen über die Leistung in bestimmten Projekten. Sie reichen von positiven Einträgen wie „Sofortbonus“ für besondere Leistung bis hin zu negativen Bemerkungen wie etwa „Termin für Projekt x nicht gehalten“ oder „letzte Woche keinen Beitrag geleistet“. All dies soll in einer Art elektronischem Arbeitslebenslauf verankert werden. Dieser Lebenslauf samt Bewertungen ist die Grundlage für Bewerbungen und kann von freigegebenen Firmen oder Freunden ähnlich wie bei Facebook eingesehen und bewertet werden.« Die beiden Autoren merken an: »Für Firmen wäre ein solches System paradiesisch.« Aber sicher für viele Betroffene, die mit einigen Klicks aussortiert werden können, sicher nicht.
Und das sind nicht nur konzeptionell-übergriffige Gedankenspielereien. Portale wie Odesk, Elance oder Twago vermitteln „Freelancer“, darunter nicht nur IT-Leute, sondern auch Übersetzer, Journalisten und andere mehr. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Auch hier stellt sich letztendlich eine Aufgabe, die man generell hinsichtlich der Bewertungsportale im Internet für Produkte und Dienstleister an die staatliche Ebene stellen kann und muss: Ein gewisser Schutz der Anbieter-Seite. Aber dazu gibt es derzeit – noch – kaum Konzepte.