Wieder eine Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts, die für Diskussionen sorgen wird: Katholische Kirche darf Wiederverheirateten kündigen: »Ein katholisches Krankenhaus darf einen Chefarzt entlassen, weil er nach seiner Scheidung erneut heiratete. Das entschied das Bundesverfassungsgericht.« Das Gericht selbst drückt das natürlich etwas anders aus und hat seine Pressemitteilung überschrieben mit: »Vertraglich vereinbarte Loyalitätsobliegenheiten in kirchlichen Arbeitsverhältnissen unterliegen weiterhin nur eingeschränkter Überprüfung durch die staatlichen Gerichte.« Es geht um die Entscheidung BVerfG, 2 BvR 661/12 vom 22.10.2014. Die Verfassungsrichter bestätigten damit grundsätzlich den Sonderstatus der Kirchen, der die Entlassung von Angestellten aus „sittlich-moralischen“ Gründen erlaubt. Arbeitsgerichte dürften dieses „kirchliche Selbstverständnis“ nur eingeschränkt überprüfen, so der Grundtenor der Entscheidung. Zur Einordnung des neuen Urteils muss man wissen, dass der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts damit ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts aufgehoben, das die Kündigung eines Chefarztes im Krankenhaus eines katholischen Trägers nach dessen Wiederverheiratung für unwirksam erklärt hatte (vgl. hierzu Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 8.9.2011, 2 AZR 543/10).
Schauen wir uns zuerst einmal den Sachverhalt an, mit dem sich das BVerfG beschäftigt hat. Das Gericht führt hierzu in der Pressemitteilung aus:
»Die Beschwerdeführerin ist kirchliche Trägerin eines katholischen Krankenhauses. Seit dem 1. Januar 2000 beschäftigt sie den Kläger des Ausgangsverfahrens als Chefarzt der Abteilung Innere Medizin, der zu diesem Zeitpunkt nach katholischem Ritus in erster Ehe verheiratet war.
Ende 2005 trennten sich die Ehepartner. Zwischen 2006 und 2008 lebte der Kläger mit einer neuen Lebensgefährtin zusammen; dies war dem damaligen Geschäftsführer der Beschwerdeführerin spätestens seit Herbst 2006 bekannt. Anfang 2008 wurde die erste Ehe des Klägers nach staatlichem Recht geschieden. Im August 2008 heiratete der Kläger seine Lebensgefährtin standesamtlich. Hiervon erfuhr die Beschwerdeführerin im November 2008. In der Folgezeit fanden zwischen der Beschwerdeführerin und dem Kläger mehrere Gespräche über die Auswirkungen seiner zweiten Heirat auf den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses statt. Im März 2009 kündigte die Beschwerdeführerin das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30. September 2009.
Hiergegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage. Mit Urteil vom 30. Juli 2009 stellte das Arbeitsgericht fest, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung aufgelöst worden sei und verurteilte die Beschwerdeführerin zur Weiterbeschäftigung des Klägers. Berufung und Revision der Beschwerdeführerin blieben im Ergebnis ohne Erfolg.«
Also zusammenfassend: Die katholische Klinik hatte einem Chefarzt wegen Illoyalität gekündigt, nachdem dieser zum zweiten Mal geheiratet hatte. Die Klage des Arztes gegen seine Entlassung war durch alle Instanzen bis hinauf zum Bundesarbeitsgericht erfolgreich. Bis jetzt das BVerfG eingeschritten ist und die vorgängigen Urteile vom Tisch gewischt hat.
Da so eine Entscheidung des Verfassungsgerichts nur auf der Grundlage verfassungsrechtlicher Bedenken gegen die bisherige Rechtsprechung erfolgen kann, ist es hilfreich, sich den Leitsatz der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 8.9.2011, 2 AZR 543/10) in Erinnerung zu rufen, denn auch dort wird auf Grundrechte Bezug genommen:
»Auch bei Kündigungen wegen Enttäuschung der berechtigten Loyalitätserwartungen eines kirchlichen Arbeitgebers kann die stets erforderliche Interessenabwägung im Einzelfall zu dem Ergebnis führen, dass dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zumutbar und die Kündigung deshalb unwirksam ist. Abzuwägen sind das Selbstverständnis der Kirchen einerseits und das Recht des Arbeitnehmers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens andererseits.«
In der Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts zum damaligen Urteil findet man einen entscheidenden Passus, der bei der Bewertung auch des Urteils des BVerfG eine Rolle spielen wird. Zur Begründung, warum die Abwägung der konkurrierenden Rechte zugunsten des Chefarztes und gegen den kirchlichen Krankenhausträger ausgefallen ist, schreibt das Bundesarbeitsgericht (Beklagte ist hier der kirchliche Krankenhausträger und Kläger der gekündigte Chefarzt):
»Dabei fällt in die Waagschale, dass die Beklagte selbst sowohl in ihrer Grundordnung als auch in ihrer Praxis auf ein durchgehend und ausnahmslos der katholischen Glaubens- und Sittenlehre verpflichtetes Lebenszeugnis ihrer leitenden Mitarbeiter verzichtet. Das zeigt sich sowohl an der Beschäftigung nichtkatholischer, wiederverheirateter Ärzte als auch an der Hinnahme des nach dem Arbeitsvertrag an sich untersagten Lebens in nichtehelicher Gemeinschaft von 2006 bis 2008. Zu berücksichtigen war ferner, dass der Kläger zu den Grundsätzen der katholischen Glaubens- und Sittenlehre nach wie vor steht und an ihren Anforderungen nur aus einem dem innersten Bezirk seines Privatlebens zuzurechnenden Umstand scheiterte. Bei dieser Lage war auch der ebenfalls grundrechtlich geschützte Wunsch des Klägers und seiner jetzigen Ehefrau zu achten, in einer nach den Maßstäben des bürgerlichen Rechts geordneten Ehe zusammenleben zu dürfen.«
Wie nun begründen die Verfassungsrichter ihre gegenteilige Entscheidung? In einer einfachen, verständlichen Form kann man es so auf den Punkt bringen: Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts »verletze die Kirche in ihren verfassungsrechtlich garantierten Sonderrechten, hieß es. Jetzt muss das Bundesarbeitsgericht den Fall komplett neu überprüfen. Denn es hat den Verfassungsrichtern zufolge die „Bedeutung und Tragweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts“ nicht genügend beachtet.« Das BVerfG formuliert das natürlich weitaus elaborierter. Siehe hierzu bereits die drei Leitsätze der Entscheidung (2 BvR 661/12).
Besonders relevant, man möchte sagen: brisant, ist diese Formulierung im ersten Leitsatz:
Das BVerfG weist darauf hin, »dass Art. 4 Abs. 1 und 2 GG die korporative Religionsfreiheit vorbehaltlos gewährleistet und insofern dem Selbstbestimmungsrecht und dem Selbstverständnis der Religionsgesellschaften besonderes Gewicht zuzumessen ist.«
Damit signalisiert das BVerfG, um das mal umgangssprachlich zu übersetzen: Das Recht der Kirchen, in eigener Autonomie zu handeln und dabei auch Grundrechte, die „normalen“ Menschen selbstverständlich zustehen, außer Kraft zu setzen, ist per se höher zu bewerten als der Verfassungsrang eines individuellen Grundrechts. Die Botschaft erkennen Kirchenfunktionäre natürlich sofort und hören sie gerne. So wird der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki zitiert: „Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt uns Rechtssicherheit“. Der Beschluss bestätige das kirchliche Selbstbestimmungsrecht bei der Auswahl der kirchlichen Mitarbeiter und bei deren Beschäftigungsbedingungen.
Und genau hier liegt das Problem: Höchstrichterlich wird den (zugelassenen) Kirchen garantiert, bei den Beschäftigungsbedingungen teilweise fundamental abweichen zu können von elementaren Arbeitsrechten, die allen anderen „normalen“ Arbeitnehmern selbstverständlich zugestanden und die von denen wiederum auch selbstverständlich eingeklagt werden können. Damit aber – und das ist neben der grundsätzlichen Problematik einer Verweigerung elementarer Rechte für hunderttausende Arbeitnehmern besonders kritisch zu sehen – öffnet man ganze Arbeitsfelder der Willkür der kirchlichen Arbeitgeber. Ich schreibe hier ganz bewusst Willkür. Denn wenn wenigstens die Anwendung der kirchlichen Vorstellungen von einer „ordnungsgemäßen“ Lebensführung einheitlich und die eventuelle Sanktionierung flächendeckend und ausnahmslos praktiziert werden würde, dann könnte man bei aller grundsätzlichen Abneigung argumentieren, hier wird ein praktiziertes Sonderrecht geschützt. Aber wie sieht denn die Realität aus? Vielleicht sollten die Medien mal eine Abfrage machen, wie viele Chef- und sonstige Ärzte, die in Kliniken mit einer katholischen Trägerschaft arbeiten (die übrigens aus Steuer- und vor allem Sozialversicherungsmitteln finanziert werden), ein Leben führen, das nicht im Einklang steht mit dem „Selbstverständnis“ der katholischen Kirche. Also ich kenne zahlreiche Fälle, in denen – grundsätzlich sehr sympathisch – katholische Träger sagen, es interessiert sie nicht, wie ihre Ärzte (oder andere Fachkräfte) ihr Privatleben verbringen. Aber das bedeutet eben auch: Willkür, denn der eine hat Glück bei diesem Träger, der andere Pech bei jenem Träger. An dieser Stelle darf dann erneut der Satz des Bundesarbeitsgerichts in Erinnerung gerufen werden, die genau diesen Tatbestand erkannt haben: »Dabei fällt in die Waagschale, dass die Beklagte selbst sowohl in ihrer Grundordnung als auch in ihrer Praxis auf ein durchgehend und ausnahmslos der katholischen Glaubens- und Sittenlehre verpflichtetes Lebenszeugnis ihrer leitenden Mitarbeiter verzichtet.« Aber das BVerfG setzt sich über solche widersprüchlichen Realitäten hinweg und gibt einer lebensfremden Dogmatik seinen „Segen“. Wie es aussieht, soll es auch in Zukunft katholische und andere Menschen geben.
Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass das konkrete Verfahren mit der Entscheidung nicht beendet wurde, sondern man hat es zurückverwiesen an das Bundesarbeitsgericht, das den Fall neu bewerten muss, allerdings vor dem Hintergrund der restriktiven Auffassung aus Karlsruhe.
Fazit: Eine unendliche Geschichte hat ein weiteres Kapitel bekommen. Es ist jetzt an der Zeit, endlich Schluss zu machen mit dieser nur historisch zu verstehenden Verquickung von Kirche und Staat, wenn es um die Grundrechte der Menschen geht. Das kann nur der Gesetzgeber. Wir brauchen endlich eine Verfassungskonkretisierung, mit der die Trennung von Kirche und Staat eindeutig und unabweisbar festgeschrieben wird. Und das bedeutet: Die Kirchen können ihr kirchliches Personal, also den Prediger oder andere, die im Kernbereich der Verkündigung arbeiten, gerne nach ihren Sonderwünschen behandeln. Aber die vielen Menschen, die in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Kindertageseinrichtungen arbeiten, die mittlerweile überwiegend oder im Regelfall sogar vollständig aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, sollen gefälligst so behandelt werden wie Arbeitnehmer in einer kommunalen oder privaten Einrichtung. Man muss an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass in nicht wenigen Regionen unseres Landes gerade im Bereich der Sozial- und Gesundheitseinrichtungen eben keine Wahlfreiheit für Menschen besteht, sich ihren Arbeitgeber auszusuchen, denn dort verfügen kirchlich getragene Einrichtungen oftmals über ein Monopol als Arbeitgeber. Insofern würde hier das Argument, die Menschen müssen ja nicht in einer kirchlich getragenen Einrichtung arbeiten, ins Leere laufen.
Übrigens: Auch die Kirchen, vor allem die katholische Kirche, sollte im eigenen wohlverstandenen Interesse für eine Veränderung sein. Schon heute haben wir in Teilbereichen des Sozial- und Gesundheitswesens einen erheblich wachsenden Fachkräftemangel und wenn man dann auch noch auf eine Lebensführung besteht, die nicht einmal viele Pfarrer selbst durchhalten, dann wird es irgendwann vielleicht einmal heißen: Kirche allein zu Haus.