Es ist ein bekanntes Muster in den heutigen Zeiten einer von den Zwängen der Aufmerksamkeitsökonomie formatierten Berichterstattung in den Medien: Es passiert etwas, beispielsweise ein Urteil des höchsten deutschen Gerichts zu einem sozialpolitisch relevanten Sachverhalt wird verkündet und wie eine Flutwelle ergießt sich die Berichterstattung in allen Medien über die Landschaft – um dann kurze Zeit später wie auf einen geheimen Zuruf das Feld zu verlassen und zum nächsten Thema weiterzuziehen. Das führt im Ergebnis dazu, dass natürlich auch die gerade bei komplizierten Sachverhalten notwendige Zeit fehlt, um die mal in gebotener Ruhe und damit verbundener Tiefe zu reflektieren und mögliche Konsequenzen zu durchdenken. Verschärft wird die von nicht wenigen als unbefriedigend wahrgenommene extrem punktuelle Berichterstattung durch den ebenfalls aufmerksamkeitsökonomisch bedingten Anreiz, Aussagen zwangsläufig sehr vereinfachend zuzuspitzen oder zu skandalisieren, in der Hoffnung, damit Klicks und andere reflexhafte Reaktionen bei den Empfängern der Botschaften zu generieren.
Das erleben wir gerade erneut wie in einem Lehrbuch am Beispiel der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen im Hartz IV-System. Nach einer eruptiven Berichterstattung im Anschluss an die Verkündigung der Entscheidung am 5. November 2019 ist die mediale Karawane bereits erneut auf der Straße unterwegs zum nächsten Thema, das an diesem Wochenende die Redaktion beschäftigen wird: Die mehrfach verschobene Einigung (oder Nicht-Einigung?) der GroKo beim Themen- und Minenfeld der sogenannten „Grundrente“ – der Showdown fokussiert (und wird von den Medien mit fokussiert) auf die Frage: Bedürftigkeitsprüfung ja oder nein?
Dabei steht das neue Mega-Thema, das nun am Wochenende und am Anfang der kommenden Woche die Berichterstattung bestimmen wird, gerade bei der aufgerufenen und von manchen gar als Schicksalsfrage die Existenz der Koalition betreffend hervorgehobenen Bedürftigkeitsprüfung in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem, worum es auch bei dem Hartz IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts geht.
Denn die Entscheidung des höchsten Gerichts lässt sich nur verstehen, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die Verfassungsrichter die Weigerung, eine Absenkung des Existenzminimums und damit die Legalisierung eines gleichsam offiziellen Subexistenzminimums verfassungsrechtlich generell zu untersagen, damit begründen, dass wir uns bei Hartz IV in einem bedürftigkeitsabhängigen System bewegen. Es handelt sich eben nicht um ein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern der Zugang (und der Verbleib) im Grundsicherungssystem ist höchst voraussetzungsvoll. Und unauflösbar verknüpft mit den Voraussetzungen sind eben die Mitwirkungspflichten der Leistungsbezieher und die damit verbundene Frage, was denn der Staat machen darf (und soll), um Verletzungen der von ihm statuierten Mitwirkungspflichten zu ahnden, eben zu sanktionieren. Und wenn auch das BVerfG an mehreren Stellen den Durchgriff bzw. den Übergriff der staatlichen Seite begrenzt und eingehegt hat, mithin also der von diesem Gericht auch erwarteten Schutzfunktion entsprochen hat – es bleibt der Tatbestand, dass das BVerfG die grundsätzliche Sanktionsfähigkeit selbst beim Existenzminimum, unter dem ja eigentlich, also bei isolierter Betrachtung nichts mehr kommen kann, vor allem nicht weniger, festgestellt und auch für zulässig und anwendbar erklärt hat, eben nur unter begrenzenden Rahmenbedingungen (vgl. ausführlicher den Beitrag Ein Sowohl-als-auch-Urteil. Das Bundesverfassungsgericht, die Begrenzung der bislang möglichen Sanktionierung und eine 70prozentige minimale Existenz im Hartz IV-System vom 6. November 2019).
Soweit als Vorbemerkung – und vor diesem Hintergrund nun ein Blick auf einige Reaktionen auf die Entscheidung aus Karlsruhe in der Berichterstattung.
»Die Richter haben ein salomonisches Urteil gefällt«, so Heike Jahberg in ihrem Kommentar Auch die Würde der Arbeitslosen ist unantastbar. »Die Sanktionen können bleiben, aber es gibt Grenzen. Starre Leistungskürzungen von mehr als 30 Prozent und über eine Zeit von drei Monaten sind nicht zumutbar. Wenn der Staat will, dass sich Menschen anstrengen, dann muss er ihnen auch die Möglichkeit geben, das zu tun, meinen die Richter. Ganz besonders kritisch sieht Karlsruhe den völligen Entzug aller Leistungen … Am Prinzip des Arbeitslosengeldes II – dem Fördern und Fordern – ändert das Urteil allerdings nichts. Dazu gehört, dass Menschen versuchen sollen, sich aus dem Transfersystem zu befreien und den Weg zurück in den Arbeitsmarkt finden sollen. Das ist richtig. Dass Menschen wieder einen Job finden, liegt im Interesse der Gesellschaft. Und es dürfte auch der Wunsch der allermeisten Leistungsempfänger selbst sein, das System hinter sich zu lassen und möglichst bald auf eigenen Füßen zu stehen.«
Und Jahberg referiert die gespaltene Wahrnehmung des Themas: »Dass Leistungsempfänger, die wiederholt Termine versäumen oder Jobangebote nicht annehmen, mit Leistungskürzungen bestraft werden, ist insofern auch eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber denen, die sich anstrengen. Vor allem, wenn die Verweigerer die gewonnene Zeit dazu nutzen, ihr Einkommen mit Schwarzarbeit aufzubessern, was gelegentlich vorkommt.« Auf der anderen Seite: »Sanktionen machen aber nur dann Sinn, wenn sie angemessen sind. Es kommt auf den Menschen an. Nicht jeder ist in der Lage zu funktionieren, einige brauchen mehr Zeit als andere. Und nicht jede Maßnahmen, die die Job-Center anordnen, ist sinnvoll. Man kann durchaus nachvollziehen, dass sich ein Langzeitarbeitsloser fragt, ob das dritte Bewerbertraining wirklich sinnvoll ist, wenn schon die ersten beiden nichts gebracht haben.« Und sie erwähnt in ihrer Kommentierung zumindest auch die Ebene der Jobcenter: »Die Diskussion über Fördern und Fordern sollte daher auch die Job-Center nicht verschonen. Eine kritische Evaluierung der Weiterbildungsangebote, aber auch der behördeninternen Organisation ist dringend geboten. Viele Arbeitslose beklagen sich darüber, dass sie Briefe mit Terminen erst spät finden oder ihre Berater nicht erreichen. Mit der Sanktionskeule sollte man daher erst dann kommen, wenn diese wirklich angemessen ist.«
Jahbergs Fazit: »Sanktionen ja, aber in Maßen … Ein totaler Abschied von Forderungen und Sanktionen wäre ein Systemwechsel. Letztlich würde das zum bedingungslosen Grundeinkommen führen. Man kann das wollen, aber nicht jeder teilt diese Idee. Klar wäre: Auch das wäre eine Zerreißprobe für die Gesellschaft. Diese Diskussion erspart das Urteil aus Karlsruhe jetzt erst einmal der Gesellschaft.«
Als Investition in den sozialen Frieden sieht Simone Schmolllack die Entscheidung des BVerfG: »Endlich hat das Bundesverfassungsgericht dem Sanktionsirrsinn bei Hartz IV Grenzen gesetzt, teilweise zumindest … Das Urteil ist auch aus psychologischer Sicht zu begrüßen. Aus zahlreichen Studien ist seit Jahren bekannt: Druck bewirkt eher das Gegenteil dessen, was er erzeugen soll.« Und Schellack wirft die Frage auf: Darf der Staat »eine neue Ungerechtigkeit aufbauen, indem er eine andere abbaut – und nichts anderes tut er, indem er die Hartz-IV-Sanktionen abmildert?« Ihre Antwort: Ein Sozialstaat »muss das aushalten. Es ist eine Investition in den sozialen Frieden.« Und auch hier taucht die Systemfrage wieder auf, anders als bei Jahberg aber deutlich positiver konnotiert: »Eine echte sozialstaatliche Konsequenz – und das Ende aller Sanktionsdebatten – wäre indes das bedingungslose Grundeinkommen. Eine finanzielle Zuwendung in Höhe des Existenzminimums für alle hat vor allem einen Effekt: Ohne Behördendruck und Angst vor drohendem Existenzaus ist nun tatsächlich jede und jeder selbst dafür verantwortlich, wie gut es einer und einem geht. Wer nicht arbeiten will, muss das nicht tun – und dafür mit weniger auskommen.«
»Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist eine gute Nachricht für alle, die ALG II beziehen«, meint Christian Baron in seinem Beitrag unter der Überschrift Ein existenzieller Erfolg, um sogleich anzuhängen: Einen menschenwürdigen Sozialstaat garantiert es aber noch nicht. Baron versucht seine offensichtlich positive Sicht auf die Entscheidung des BVerfG so zu begründen: »Das Urteil des BverfG könnte das Bewusstsein vieler Betroffener in eine Richtung stärken, nach der es sich bei Hartz IV nicht um eine milde Gabe des Staates handelt, sondern um einen Rechtsanspruch. Im besten Fall wird das Urteil die Zahl der Klagen gegen Sanktionen entscheidend in die Höhe treiben. Ebenso wichtig wäre, dass es manchen Jobcenter-Mitarbeiter vom hohen moralischen Ross herunterholt. Im Gegensatz zum Einwohnermeldeamt oder der Aktenhauptverwertungsstelle Nord kommt beim Jobcenter nämlich zur reinen Pflichterfüllung noch eine ideologische Komponente hinzu: Wenn ein Sachbearbeiter das Mittel der Sanktion nutzt, dann tut er das meist in der Überzeugung, gerecht zu handeln. Denn seit der Einführung von Hartz IV hat sich das soziale Klima in eine Richtung entwickelt, die jeden Transferleistungsempfang von vornherein kriminalisiert und hinter jedem Antrag auf Arbeitslosengeld II die Absicht vermutet, dass sich da jemand auf Kosten der Steuerzahler in die „soziale Hängematte“ legen will.«
Baron verweist auch auf die andere Seite, auf die Argumente der grundsätzlichen Kritiker des bestehenden Systems: »Natürlich ist der Regelsatz noch immer viel zu niedrig, und Hartz IV ist grundsätzlich mit einem sozialen Rechtsstaat nicht vereinbar, weil ein Existenzminimum nicht gekürzt werden kann, eben weil es ein Minimum ist … Auch das regressive Sozialstaatsmodell findet in der Begründung des BverfG eine Bestätigung. Darin wiederholen die Richter die neoliberale Erzählung, die Entstehung von Armut sei den Betroffenen anzulasten und zur Überwindung der Armut sei jeder Einzelne selbst verantwortlich.«
Dennoch bleibt er aus pragmatischer Sicht bei seiner positiven Bewertung des Urteils: »Allerdings macht es aus Sicht der Betroffenen einen existenziellen Unterschied, ob der Regelsatz „nur“ von 424 Euro auf 296,50 Euro gesenkt werden darf oder auf 169,60 Euro. Ganz zu schweigen von einer Vollsanktion – was nicht nur den Wegfall aller Geldleistungen bedeutet, sondern auch der Kosten für die Miete. Wer im Fall einer Vollsanktion die Lebensmittelgutscheine ablehnt, fliegt sogar aus der Kranken- und Pflegeversicherung heraus. Dass das bald nicht mehr möglich sein wird, ist eine gute Nachricht auf dem langen Weg zu einem menschenwürdigen Sozialstaat.«
Wolfgang Janisch sieht die Entscheidung so: Das Urteil der Verfassungsrichter ist ein Auftrag zur Reform. »Eine salomonische Lösung? Schaut man genauer hin, dann ist das 74-Seiten-Urteil eher ein halber Gesetzentwurf.« Der wird von der Politik erwartet als Konsequenz aus dem Urteilsspruch. Aber: »Der Erste Senat will seine eigene Übergangsregelung zudem unbefristet weitergelten lassen, sollte der Gesetzgeber keine eigene Lösung hinbekommen. Das zeugt nicht unbedingt von großem Vertrauen in die Reformfähigkeit der Politik; ihr Scheitern ist im Urteil bereits eingepreist. Ab wann das Ganze gilt? Sofort, unverzüglich. Wer derzeit noch mit dem Jobcenter wegen einer 60-Prozent-Kürzung im Clinch liegt, der kann sich direkt auf Karlsruhe berufen.« Und auch bei Janisch finden wir wieder den Hinweis auf die Systemfrage: »Dass die Leistungen gleichwohl unter das Minimum abgesenkt werden dürfen, wenn Arbeitslose zumutbare Angebote ausschlagen, rechtfertigt das Gericht mit dem „Nachrangprinzip“: Wer erwerbsfähig ist, muss zuerst alle Möglichkeiten ausschöpfen, um seine Hilfsbedürftigkeit selbst abzuwenden. Das staatliche Netz wird erst aufgespannt, „wenn Menschen ihre Existenz nicht vorrangig selbst sichern können“, heißt es in dem Urteil.«
Und gleichsam als Korrektiv zum „Nachrangprinzip“ und den daraus abgeleiteten Mitwirkungspflichten: »Zugleich überzieht das Gericht das gesamte System mit einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung, die umso strenger ausfällt, je stärker Leistungen gekürzt werden sollen … Verhältnismäßigkeit ist … ein Begriff mit sehr konkreten Folgen. Das Verfassungsgericht will sich im Jahre dreizehn der Verschärfung der Hartz-IV-Regeln nicht mehr damit begnügen, dass der Gesetzgeber seine Sanktionen schon für irgendwie tauglich hält. Es will sich auch nicht damit abspeisen lassen, dass die Forschungslage zur Wirkung der Sanktionen immer noch recht dünn ist, obwohl doch im Sozialgesetzbuch II eine regelmäßige und zeitnahe Untersuchung der Tauglichkeit von Hartz IV versprochen worden war.«
Durchaus positiv ist auch die Bewertung bei Alina Leimbach, hier unter der Überschrift Wenn Karlsruhe den Feuerlöscher spielt. Sie stellt dabei vor allem auf die konkreten Begrenzungen des Sanktionsregimes ab, die vom Gericht erlassen wurden. Und sie zitiert Stimmen aus der Aktivistenszene: »Das Team um den Erwerbslosenaktivsten Ralph Boes bewertet das nun gefällte Urteil dennoch als Einschnitt für die verbleibenden Sanktionen.« Oder: »Der Sozialrechtsexperte und Anti-Hartz-IV-Aktivist Harald Thomé sagte …: »Vorher hieß es: Das Existenzminimum ist streichbar. Kulturelle und soziale Teilhabe können ein paar Monate warten. Das geht nun nicht mehr. Das ist eine sehr erfreuliche Klarstellung.« Das ganze werde nun Folgen haben für die politische und juristische Landschaft.« Selbst die Parteivorsitzende der Linken, Katja Kipping, zeigte sich »positiv gestimmt über die Klarstellung des Verfassungsgerichts.«
Da darf eine eher kritische Anmerkung nicht fehlen: »Wolfgang Nešković, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof, ist generell zufrieden mit dem Urteil, hätte sich jedoch eine konsequentere Bestätigung des Existenzminimums erhofft. „Das Bundesverfassungsgericht hat das sprachliche Kunststück fertiggebracht, das Minimum eines Minimums zu kreieren“ … Das Verfassungsgericht habe zuvor schon geurteilt, dass Hartz IV das absolute gesetzliche Minimum sei. „Nun sind Voraussetzungen definiert worden, wie das noch einmal um 30 Prozent unterschritten werden kann. Das finde ich vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtssprechung nicht plausibel.“«
Auch Barbara Dribbusch reiht sich ein in das Lager derjenigen, die wohlwollend auf die Entscheidung aus Karlsruhe schauen: »Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Begrenzung der Hartz-IV-Sanktionen ist erfreulich und fortschrittlich, und man merkt beim Studium des über 70 Seiten langen Papiers (AZ1BvL7/16), dass die RichterInnen bemüht waren, die alten Debatten über „Sozialmissbrauch“ zumindest ansatzweise zu befrieden«, schreibt sie unter der Überschrift Näher dran am Leben. Sie führt beispielsweise diese Argumentation an: »Zu begrüßen ist daher im Urteil die Vorgabe, dass die Minderung nicht mehr „zwingend“ ist und SachbearbeiterInnen „außerordentliche Härten“ und „erkennbare Ausnahmekonstellationen“ bei ihren KlientInnen berücksichtigen sollen. Das heißt, die SachbearbeiterInnen im Jobcenter können zum Beispiel auch von einer Kürzung absehen, wenn ein depressiver Hartz-IV-Empfänger eine Trainingsmaßnahme nach einer Woche abbricht, weil er die Gruppe dort nicht mehr aushält.« Das kann man positiv sehen, aber auch mit Sorge: Die Sachbearbeiter „können“ absehen – genau da liegt einer der ganz großen Baustellen der praktischen Umsetzung der Vorgaben des Verfassungsgerichts offen vor unseren Augen.
Und Dribbusch weist selbst im nächsten Absatz darauf hin: »Hartz IV ist eine Arche Noah voller Menschen mit unterschiedlichsten Schicksalen. Die meisten können nicht mithalten in der Erwerbsgesellschaft – und natürlich gibt es auch jene, die aus den vielfältigsten Gründen immer genau jene Angebote nicht wollen, die ihnen offenstünden. Um den Unterschied zwischen nicht können und nicht wollen, zwischen Hilfsbedürftigen und Vermeidern tobt seit jeher die Sozialstaatsdebatte. Der Unterschied ist in der Praxis aber oft schwer zu definieren. SachbearbeiterInnen sind damit im Grunde überfordert. Die RichterInnen stellen in ihrem Urteil etwa fest, dass die einzelnen Jobcenter vor Ort sehr unterschiedlich umgehen mit psychischen Störungen ihrer KlientInnen.«
»Berlins Landespolitiker reagieren verhalten auf das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts.Die Regelungen gehen ihnen nicht weit genug«, berichtet Erik Peter aus dem Lager der Skeptiker in seinem Artikel Kein Grund zum Feiern: »Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) bedauerte …, „dass nicht alle Sanktionen einkassiert worden sind“. Sie sagt: „Die Richtwerte der Hartz-Gesetze bilden das Existenzminimum ab. Ich hätte mir gewünscht, dass das anerkannt wird und man da nicht herankann. Darüber bin ich sehr enttäuscht.“ Andererseits sei das Urteil sehr wohl eine „Verbesserung“ im Vergleich zur bisherigen Praxis.«
Stephan Hebel hat seinen Kommentar unter diese Überschrift gestellt: Es bleibt ein Hauch von Obrigkeitsstaat: »Die Sanktionen für Hartz-4-Empfänger sind zum Teil verfassungswidrig. Zu einem grundsätzlichen Nein hat sich das Verfassungsgericht zwar nicht durchringen können. Aber auch so ist das Karlsruher Urteil eine schallende Ohrfeige für die Politik.«
»Sicher: Das Urteil beendet nicht die Sanktionen. Es vertreibt damit nicht den starken Hauch von Obrigkeitsstaat, der Hartz 4 von Anfang an angehaftet hat. Es macht nicht vollständig Schluss mit der autoritären Idee, die „Mitwirkung“ arbeitslos gewordener Menschen bei ihrer „Wiedereingliedereung“ in den Arbeitsmarkt mit „staatlicher Gewalt“ erzwingen zu müssen. Es beendet damit auch nicht den populistisch grundierten, ins Hartz-4-System eingeschriebenen Pauschalverdacht, dass Menschen sich massenweise auf die faule Haut legen würden, wenn man sie nicht notfalls zwingt zum „Glück“ eines Billiglohn-Jobs unter ihrer eigenen Qualifikation«, so Hebel. Um dann das „Aber“ aufzurufen, denn das Urteil »geht bedeutende Schritte hin zu einer Neujustierung des Verhältnisses zwischen „Fordern“ und „Fördern“. Der Staat dürfe verlangen, dass Arbeitslose über „Brücken“ gehen, die er ihm baut, heißt es zwar. So weit bleibt die „Mitwirkungspflicht“ bestehen. Aber wenn es ums Strafen für „Pflichtverletzungen“ geht, erteilen die Richter den Regierenden eine krachende Lektion in Menschenwürde.«
Und beenden wir die Rundreise durch die Kommentierungen des Urteils des BVerfG mit den Ausführungen von Heribert Prantl, der unter der Überschrift Sozial schwach offensichtlich unzufrieden schreibt: »Das Urteil aus Karlsruhe zu Hartz IV ist eine vertane Chance. Man hätte sich ein Urteil gewünscht, das die gesellschaftliche Spaltung nicht hinnimmt.«
Prantl beginnt seine Ausführungen und streut Salz in bekannt offene Wunden: »Hartz IV ist für die Sozialdemokraten das, was einst für die Römer die Schlacht im Teutoburger Wald war, nur noch schlimmer. Bei dieser Schlacht im Jahre 9 nach Christus vernichteten germanische Aufständische unter ihrem Anführer Arminius drei römische Legionen; das war etwa ein Achtel des gesamten römischen Heeres. Mit Hartz IV vernichtete sich die SPD selbst; sie verlor die Hälfte ihrer Wähler, viele ihrer Mitglieder und ihre Glaubwürdigkeit. Der römische Feldherr Publius Quinctilius Varus stürzte sich seinerzeit angesichts der Katastrophe in sein Schwert. Bei den Sozialdemokraten stürzt angesichts der Katastrophe ein Parteivorsitzender nach dem anderen.« Nun wird sich der eine oder andere fragen, was denn diese Geschichte mit dem Urteil des BVerfG zu tun hat. »Es gehört zur Tragik der Sozialdemokratie, dass sie als Partei, geschwächt von den parteipolitischen Folgen von Hartz IV, nicht mehr die Kraft und nicht mehr die politische Potenz hatte, Hartz IV entscheidend zu korrigieren«, so Prantl. Um daran anschließend beim neuen Urteil zu landen: »Die wichtigsten Korrekturen hat nicht die Politik, sondern, viele Jahre nach dem Inkrafttreten der Hartz-IV-Gesetze, das Bundesverfassungsgericht initiiert.«
Prantl hebt hervor: Es geht um die Konkretisierung von Artikel 1 Grundgesetz, in dessen Absatz 1 bekanntlich steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Diese zunächst einmal sehr allgemeine Formulierung wird von Prantl so gefüllt: »Dazu passt es nicht, dass Hartz IV die Schuld an der Arbeitslosigkeit an diejenigen abschiebt, die arbeitslos sind. Dazu passt es nicht, dass die Hartz-IV-Gesetze die Arbeitslosen kontrollieren und sanktionieren und mit Unterstützungsleistungen unglaublich knausern. Dazu passt es nicht, dass Hartz IV, trotz Mindestlohn, hilft, die Löhne zu drücken.« Darüber kann und wird man sicher streiten, aber Prantl ist einer der wenigen, der auf den Unterschied zwischen dem Hartz IV-Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2010 (vgl. hierzu Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09) und der neuen Entscheidung aus dem Jahr 2019 (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 – 1 BvL 7/16) hinweist:
»… das Bundesverfassungsgericht (hat) im Jahr 2010, in seinem ersten Urteil zu Hartz IV, ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums formuliert – und dem Staat aufgegeben, die Armutsgrenze in Deutschland neu festzusetzen, die Leistungen an Arbeitslose und, dies vor allem, an ihre Kinder deutlich zu erhöhen. Der Gesetzgeber folgte dem aber nicht elanvoll, sondern nur sehr zögerlich und sehr mürrisch.«
Und mit Blick auf die neue Entscheidung bilanziert Prantl: »In seinem zweiten Urteil zu Hartz IV folgte sich nun das Bundesverfassungsgericht selbst nur noch zögerlich und mürrisch. Es nahm nämlich, neu besetzt und mit dem ehemaligen CDU-Politiker Stephan Harbarth als Vorsitzendem (der mit Hartz IV im Bundestag vorbefasst gewesen war), sein eigenes Urteil aus dem Jahr 2010 zum Existenzminimum nicht richtig ernst: Das Verfassungsgericht erlaubte nämlich die Minimalisierung dieses Existenzminimums zwar nicht in der bisherigen Höhe, aber doch dem Grundsatz nach. Das Karlsruher Urteil lässt das kalte Herz von Hartz IV weiterschlagen, nach Implementierung von ein paar Stents.«
Was das bedeutet? »Es bleibt dabei, dass Elemente des Strafrechts im Sozialrecht eine große Rolle spielen: Wer sich nicht konform verhält, wer echt oder angeblich zumutbare Arbeit nicht annimmt, nicht zur gemeinnützigen Arbeit antritt, Termine nicht wahrnimmt oder Dokumente nicht beibringt – dem werden die Leistungen bis weit unter das Existenzminimum gekürzt, wenn auch nicht mehr ganz so brutal und pauschal wie bisher; er kann aber womöglich auch künftig seine Stromrechnung nicht mehr bezahlen. Karlsruhe hat dazu nicht Nein, sondern nur Jein gesagt«, so Prantl.
Ja, so ist das – und genau das werden sicher nicht wenige ganz anders sehen, nämlich als völlig in Ordnung, dass man das von den Menschen, die bedürftigkeitsabhängige Leistungen beziehen, auch erwarten darf und muss. Und sie werden diese Position durchaus auch mit Gerechtigkeitsargumenten begründen können.
Man kann es auch so bilanzieren, wie in diesem Beitrag: Fallbeil, leicht entschärft: »Fazit: Das höchste Gericht hat ein Urteil gefällt, das die Systemfrage einerseits erkennbar umschifft, also die Letztfrage der Bedingungslosigkeit eines existenziellen Minimums. Auf der anderen Seite hat es die Systemfrage eindeutig geklärt, denn im bestehenden System der bedürftigkeitsabhängigen Sozialhilfe darf der Staat ein Sub-Existenzminimum installieren. Für viele Menschen wird es pragmatisch nun darum gehen müssen, dass das, was in den Jobcentern passiert, rechtlich möglichst klar normiert und zugleich eine zivilgesellschaftliche Anwaltsfunktion installiert wird, die Hilfestellung leisten kann, wenn man im letzten Außenposten unseres Sozialstaates unter die Räder kommt.«