Und jährlich grüßt der Ablasshandel? Fehlerhafte Abrechnungen der Krankenhäuser, der MDK als Jobmaschine und grundsätzliche Fragen an ein hyperkomplexes System

Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) hat sich – wieder einmal – zu Wort gemeldet: »Jede zweite von den Krankenkassen geprüfte Rechnung aus Deutschlands Kliniken ist nicht korrekt … Insgesamt prüfte der MDK 2018 circa 2,6 Millionen Behandlungsabrechnungen. In den meisten Fällen seien mehr Tätigkeiten abgerechnet worden, als notwendig gewesen wären. Unbestätigten Schätzungen von Kassenexperten zufolge handele es sich um vorläufige Schäden im einstelligen Milliarden-Euro-Bereich.« Das kann man diesem Artikel von Hannes Heine entnehmen: Jede zweite kontrollierte Rechnung falsch. Nun kann man an dieser Stelle anmerken, dass die Berichterstattung des Jahres 2019 ein Fortschritt ist, wenn man sie mit der des Jahres 2014 vergleicht.

In dem Jahr wurde beispielsweise dieser Bericht veröffentlicht: Mehr als die Hälfte aller Klinik-Abrechnungen ist zu hoch. Das blieb nicht umkommentiert: »Nun soll hier kein Methodenseminar veranstaltet werden – aber die Überschrift des Artikels ist schlichtweg Unsinn und sie führt den normalen Lesern auf eine falsche Fährte, die da lautet: Jede zweite Rechnung, die die Krankenhäuser ausstellen, sei falsch. Das ist aber bei weitem nicht der Fall. Denn die 53 Prozent beziehen sich nicht auf alle Rechnungen der mehr als 2000 Kliniken, sondern nur auf die geprüften Rechnungen. Und das ist allein deshalb schon ein erheblicher Unterschied, weil eben nicht alle Rechnungen geprüft wurden.«

So meine damaligen Anmerkungen in dem Beitrag Böse Krankenhäuser, rechnungsprüfend-korrekte Krankenkassen und eine Botschaft mit einer gehörigen Portion „Was für eine Sauerei“-Faktor. Oder ist es doch nicht so einfach? vom 10. Juni 2014. Und es wurde dann weiter ausgeführt: »In einem ersten Schritt werden die Abrechnungen auf Auffälligkeiten hin durchgesehen. Dies kann zum Beispiel ein zu langer Aufenthalt im Krankenhaus bei einer leichten Erkrankung sein. In einem zweiten Schritt werden dann bundesweit bis zu zwölf Prozent aller Abrechnungen genau geprüft.« Das bedeutet anders formuliert, dass sich die 53% „Trefferquote“ nur auf eine Auswahl an Rechnungen beziehen und diese ist dann auch noch eine gleichsam vorselektierte, weil nur die mit Auffälligkeiten überhaupt in die Prüfgruppe kommen.
Der „wahren“ Dimension nähert man sich über die andere Zahlenangabe an, die ebenfalls von den Krankenkassen veröffentlicht worden ist: Hochgerechnet beläuft sich der Schaden auf erhebliche 2,3 Milliarden Euro. Die nun aber muss man in Relation setzen zu den Gesamtausgaben der Kassen für die Krankenhausrechnungen und die beliefen sich auf mehr als 66 Mrd. Euro. Wir reden also, wie jeder im Kopf nachrechnen kann, von einem Schadensvolumen in einer Größenordnung von knapp 3,5% – unter der Voraussetzung, dass die Hochrechnung der Kassen stimmig ist.«

Der Hinweis auf den Beitrag aus dem Jahr 2014 verdeutlicht, dass das Thema offensichtlich nicht erst diese Tage vom Himmel gefallen ist, sondern seit Jahren immer wieder und regelmäßig für einen Moment die öffentliche Aufmerksamkeit erheischt. Um dann offensichtlich in der Welt der Wiedervorlage zwischengeparkt zu werden.

Und mit Blick auf die Gegenwart muss man zum einen nur die Zahlen etwas aktualisieren. So berichtet Hannes Heine in seinem Artikel: »Der MDK hatte 16 Prozent der Abrechnungen geprüft.« Aus bis zu zwölf Prozent der Abrechnungen sind nun also 16 Prozent geworden. Dazu auch: Zahl der MDK-Prüfungen zu Krankenhaus­abrechnungen steigt weiter an: »Zwischen 2014 und 2018 habe sich die Anzahl der Prüfungen von 1,9 Millionen auf 2,6 Millionen erhöht.« Das muss nun natürlich auch jemand machen und vor diesem Hintergrund überrascht es dann auch nicht, wenn sich der MDK als eine Art Jobmaschine darstellt: „Die Medizinischen Dienste haben darauf kontinuierlich mit Personalsteigerungen rea­giert. Im Bereich der gesetzlichen Kran­ken­ver­siche­rung hat der MDK bundesweit in den vergangen fünf Jahren 109 neue Stellen für ärztliche Gutachter sowie über 200 für zusätzliche unterstützende Codierkräfte geschaffen“, wird der Geschäftsführer des MDK Sachsen, Ulf Sengebusch, zitiert.

Allerdings lohnt wie immer ein genauerer Blick auf die Zahlen. Dazu hat sich der Verband der Krankenhausdirektoren Deutschlands (VKD) zu Wort gemeldet. Die sind natürlich Partei und sitzen auf der anderen Seite des Prüfschreibtisches, aber interessant und relevant sind die Zahlen schon, die hier vorgetragen werden. Der VKD weist darauf hin, »dass eine Analyse von kürzlich veröffentlichten Daten des MDK Nordrheins durch Kaysers Consilium ergeben habe, dass nicht jede zweite geprüfte Kran­kenhausrechnung falsch sei, wie vom Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen behauptet, sondern 3,6 Prozent.
2018 sind laut VKD 17 Prozent der Krankenhausfälle geprüft worden. Rund die Hälfte davon, genauer: 8,6 Prozent, wurden demnach zugunsten der Krankenkassen gekürzt, wobei von diesen wiederum knapp 60 Prozent, das sind insgesamt fünf Prozent aller Krankenhausfälle, deswe­gen gekürzt wurden, weil der Patient nicht ambulant versorgt wurde oder zu lange im Krankenhaus verblieb. Für diese fünf Prozent lag somit keine Falschabrechnung vor, sondern eine aus Sicht des MDK falsche Versorgungsform, so der VKD.
Insgesamt seien weniger als vier Prozent der stationär behandelten Fälle falsch codiert worden. Und auch diese nicht einmal vier Prozent seien in ihrer Mehrzahl keine bewuss­ten Falsch- sondern Fehlkodierungen gewesen. „Sie beruhten auf unklaren Regelungen und Definitionen. Der Mangel klarer Definitionen und Regelungen öffnet also Tür und Tor für alle möglichen Interpretationen“, erklärte der VKD.« Das kann man diesem Artikel entnehmen: Krankenhaus­direktoren wünschen sich unabhängige Prüfer für Krankenhaus­abrechnungen.

Nun muss man wissen, dass der MDK nicht aus eigenem Antrieb heraus mehr Rechnungen der Kliniken unter die Lupe nimmt, sondern er wird von den Krankenkassen mit den Prüfungen – und damit auch einem Mehr an Prüfungen – beauftragt. Und das machen die Kassen natürlich nur, wenn sich das irgendwie rechnet, also für sie lohnt: »Sengebusch räumte ein, dass die Höhe der Rückerstattungen, die die Kran­ken­kassen von den Krankenhäusern erhalten, mit der Zahl der Prüfungen korreliert … „Daher beauftragen die Krankenkassen beim MDK immer mehr Abrechnungsprüfungen – auch wenn sie im Falle einer korrekten Rechnung dem Krankenhaus eine Aufwandspau­schale in Höhe von 300 Euro zahlen müssen.“ Unter dem Strich führten mehr Prüfungen dennoch auch zu mehr Rück­erstattungen zugunsten der Kran­ken­ver­siche­rung.«

Und der MDK beklagt, dass es derzeit keine Strafzahlungen seitens der Krankenhäuser gibt, wenn Abrechnungen als fehlerhaft beanstandet werden. Derzeit gingen Krankenhäuser, die überhöhte Rechnungen stellten, nur das Risiko ein, dass die Rechnung auf den „sachlich korrekten Betrag“ gekürzt wird. Durch Strafzahlungen würden Fehlanreize zu „erlösorientiertem Up- und Falschcoding“ reduziert.

Man kann sich an dieser Stelle gut vorstellen, dass das die Kliniken ganz anders sehen „Die Kranken­häuser werden in den letzten Jahren von einem massiven Anstieg der Einzelfallprüfungen heimgesucht“, so wird der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Georg Baum, zitiert. Und weiter: „Diese haben sich längst von der gesetzlichen Vorgabe, dass nur Auffälligkeiten Prüfun­gen auslösen, abgekoppelt.“ »Inzwischen sei die Einzelfallprüfung von den Kassen miss­bräuchlich zu einer einzelfallunabhängigen Systemprüfung umfunktioniert worden. Gegenstand der Prüfverfahren sei in der Regel auch nicht die Qualität der Behandlung und das Wohl des Patienten. „Es geht vielmehr um formale Kriterien“, betonte Baum. Die DKG kritisiert in diesem Zusammenhang auch „ein asymmetrisches Rechts- und Ab­hängigkeitsverhältnis“ der Krankenhäuser. Denn die Krankenkassen könnten durch die Einleitung von Rechnungsprüfungen Verrechnungen mit laufenden Leistungen der Kran­kenhäuser beliebig vornehmen, erklärte Baum.«

Man muss bei dieser Gemengelage nur noch wissen, dass wir uns a) ganz grundsätzlich in einem „Haifischbecken“ befinden (in den 1980er Jahren hat der CDU-Politker und langjährige Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm die deutsche Gesundheitspolitik mit einem „Wasserballett im Haifischbecken“ verglichen) und b) allein die Gesetzliche Krankenversicherung mehr als 75 Mrd. Euro pro Jahr nur für Krankenhausleistungen in den großen Topf wirft, um zu ahnen, dass es hier um das große Geld geht. Und es überrascht dann auch nicht, wenn die Schilderung des Ist-Zustandes noch erweitert werden muss um eine betriebswirtschaftlich konsequente, allerdings von außen betrachtet mehr als diskussionswürdige „Kompromiss“-Variante zwischen den beiden Seiten, die sich hier gegenüberstehen. Und die wird vom Bundesrechnungshof schon seit längerem harsch kritisiert. Darum geht es:

»Krankenkassen hätten individuelle Vereinbarungen mit Krankenhäusern über pauschale Rechnungskürzungen in Millionenhöhe geschlossen und im Gegenzug auf Abrechnungsprüfungen verzichtet. Sie ermöglichten es Krankenhäusern, sich von Prüfungen durch die Krankenkassen „freizukaufen“. Die Krankenhäuser könnten Abzüge im Vorfeld einkalkuliert und überhöhte Rechnungen ausgestellt haben, heißt es.« Das findet man in dieser Meldung: Kliniken können sich „freikaufen“. Und weiter: »Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) … bestätigte, dass es solche pauschalen Kürzungen gebe. „Sie sind das Ergebnis eines asymmetrischen Rechts- und Abhängigkeitsverhältnisses der Krankenhäuser gegenüber den Krankenkassen“ … „Dabei sind die Krankenhäuser in einer systematischen Verliererposition. Denn die Krankenkassen können durch die Einleitung von Rechnungsprüfungen Verrechnungen mit laufenden Leistungen der Krankenhäuser beliebig vornehmen. Nicht die Krankenhäuser kaufen sich von Prüfungen frei. Vielmehr handelt es sich um erzwungene Rabattverträge zu Gunsten einzelner Krankenkassen.“«

Diese moderne Ausprägung des Ablasshandels wurde hier bereits am 24. August 2018 in dem Beitrag Warum prüfen, wenn man sich auszahlen lassen kann. Über einen modernen Ablasshandel bei Krankenhausrechnungen beschrieben: Es geht um die Praxis mancher Krankenkassen, auf die Prüfung von Klinikrechnungen zu verzichten, wenn sich die Krankenhäuser im Gegenzug verpflichten, ihnen Abschläge von bis zu 50 Prozent zu gewähren. In einem Bericht hatte der Bundesrechnungshof moniert, dass viele Krankenkassen bereits seit Jahren „freiwillig“ auf die Rechnungsprüfung verzichten. Sie haben Verträge mit den Kliniken abgeschlossen, in denen diese quasi als Gegenleistung einer pauschalen Kürzung der Rechnungen zustimmen. Die machen das ohne eine entsprechende gesetzliche Grundlage. „Der Bundesrechnungshof sieht in den Sondervereinbarungen einen Verstoß gegen die gesetzliche Verpflichtung der Krankenkassen, bestimmte Abrechnungen einer Prüfung zu unterziehen. Im Ergebnis führt dieser Verzicht zu einer systemwidrigen Vergütung der Krankenhausleistungen“, heißt es wörtlich in dem Bericht. Diese vereinbarten Kürzungen liegen laut Rechnungshof zwischen einem und 50 Prozent. Ein Beispiel: »So sieht ein besonders ausgefeilter Vertrag vor, dass die erste bis zur 285. Rechnung um 22 Prozent, die 286. bis zu 350. um 50 Prozent gekürzt wird. Ab der 351. Rechnung wird gar nicht mehr gezahlt. Schwer vorstellbar, dass das betreffende Krankenhaus nicht versucht, den Honorarverzicht durch „optimierte“ Rechnungsstellung zumindest auszugleichen.«

An dieser Stelle der Vollständigkeit halber ein „historischer“ Hinweis: Die Problematik ist wahrlich nicht neu oder vor kurzem vom Himmel gefallen: »Die Abrechnungen der Krankenhäuser an die Krankenkassen sind häufig fehlerhaft und nach Schätzungen des Bundesrechnungshofes jährlich um 875 Mio. Euro zu hoch. Einfachere Abrechnungen, Anreize für ein korrektes Abrechnungsverhalten und effektive Prüfverfahren könnten Fehler vermeiden und bürokratischen Aufwand verringern«, so der Bundesrechnungshof bereits am 12.04.2011 unter der Überschrift 2010 Bemerkungen – Weitere Prüfungsergebnisse Nr. 05 „Fehlerhafte Krankenhausabrechnungen belasten die Krankenkassen mit 875 Mio. Euro“.

Erst 2016 versuchte das Bundesversicherungsamt (BVA) die Verträge zu stoppen, indem es einzelne Krankenkassen anschrieb – ohne Ergebnis. Wir sind jetzt ganz tief inmitten des Strudels eines Systems der organisierten Unverantwortlichkeiten angekommen. Im August 2018 musste hier berichtet werden: »In einer Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linken kündigt das Ministerium lediglich an, es werde sich „weiterhin dafür einsetzen, dass dem Abschluss unzulässiger Sondervereinbarungen aufsichtsrechtlich begegnet wird“. Zugleich weist das Ministerium darauf hin, dass sich dazu die für regionale Kassen wie die AOK zuständigen Landesaufsichten erst mit dem Bundesversicherungsamt (BVA) verständigen müssten. Es ist für bundesweit geöffnete Kassen wie Barmer und DAK zuständig. Aber genau diese Verständigung gelingt seit Jahren nicht bzw. das Anliegen wird seitens der Landesaufsichten am ausgestreckten Arm vor sich hergetragen.«

Und heute? »Derzeit warten Kliniken und Kassen gespannt auf ein MDK-Gesetz, das Gesundheitsminister Jens Spahn für dieses Jahr angekündigt hat«, so der Artikel Kliniken können sich „freikaufen“. Mit Ankündigungen in diesem Bereich hat man ja so seine Erfahrungen.

Nun kann und muss man die beschriebene Praxis zwischen einigen Krankenkassen und einigen Kliniken aus gutem Grund kritisieren, wie das auch der Bundesrechnungshof getan hat, der vor allem auf diese drei Punkte hingewiesen hat, die zeigen, dass sich die Kapriolen, die hier geschlagen werden, auf das ganze System auswirken:

➞ Solche Manipulationen wirken wettbewerbsverzerrend zu Lasten kleinerer Krankenkassen, die solche Verträge nicht schließen können, weil es ihnen an Verhandlungsmacht fehlt.
➞ Außerdem komme es auch zu systematischen Fehlern bei der jährlichen Weiterentwicklung des diagnosebezogenen Vergütungssystems, die ja nur auf der Basis realer Diagnoseangaben funktioniert.
➞ Und die systematische Fehlerfortschreibungsproblematik gilt ebenso für die krankheitsorientierten Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds. Auch hierfür bedürfe es „einer einheitlichen Datengrundlage, die auf ordnungsgemäßen Abrechnungen von Krankenhausleistungen beruht“.

Aber man sollte sich nicht damit begnügen, innerhalb des verworrenen und sich in vielerlei Hinsicht selbst paralysierenden Systems einzelne Optimierungsmaßnahmen zu verlangen und auf deren Durchsetzung zu drängen – was an sich schon nicht selbstverständlich wäre. Für solche Ansätze im bestehenden System vgl. beispielsweise das im September 2018 vorgelegte Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Medizincontrolling (DGfM) zur Neuordnung des Prüfverfahrens für stationäre Abrechnungen. Es gibt angesichts der verfahrenen Situation zahlreiche Gründe, die (eigentliche) Grundsatzfrage aufzurufen.

Nur eine grundsätzliche Überprüfung des Abrechnungssystems werde helfen, das Problem nachhaltig anzugehen – sagt nicht irgendjemand, sondern der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU). Der Meldung Laumann fordert MDK-Reform kann man weiter entnehmen: Laumann kritisiert, dass sowohl das Volumen der überprüften Rechnungen als auch die Höhe der Korrekturbeträge für die Krankenhäuser eine erhebliche Belastung seien. Zudem würden durch die Auseinandersetzung um die Abrechnungen erhebliche Personalressourcen gebunden. „Insgesamt erfolgt ein hoher ‚Personalverbrauch‘, ohne dass die Patienten einen Nutzen hiervon haben oder die Finanzierung der Krankenhausversorgung besser wird. Gerade im Hinblick auf einen möglichen Einsatz ärztlichen Personals erscheint das in Zeiten akuten Ärztemangels gesundheitspolitisch unvertretbar.“

Aber man muss noch eine Stufe weiter runter gehen, in den Maschinenraum des Krankenhausfinanzierungssystems, denn dort findet man die Quelle für diese (und andere) merkwürdigen Wucherungen des bestehenden Abrechnungssystems. Denn das basiert auf der Fallpauschalen-Finanzierung der Krankenhäuser auf der Basis von DRGs.

»Seit Einführung des DRG-Systems wurden die Fallpauschalenkataloge immer kleinteiliger: Die Zahl der diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRGs) stieg von 664 im Jahr 2003 auf 1.255 im Jahr 2017. Heute sind sowohl in den Krankenhäusern als auch bei den Krankenkassen zahlreiche Mitarbeiter, darunter auch Ärzte, mit den Abrechnungen beziehungsweise deren Beanstandung beschäftigt.« So Falk Osterloh im Deutschen Ärzteblatt unter der Überschrift Krankenhausabrechnungen: Streit um ein komplexes System. Man kann sich das, was hier angedeutet wird an Hyperkomplexität, auch so verdeutlichen: „Der Terminus Komplexität beschreibt das System nur noch unzureichend“, wird DKG-Hauptgeschäftsführer Georg Baum zitiert.

»Wenn 15.000 mögliche Krankheiten, gemessen in ICD-Codes, mittels 30.000 möglichen Behandlungsschritten, dargestellt in OPS-Codes, in 1.200 Fallpauschalen gepresst würden, dabei noch sechs Schweregrade zu berücksichtigen seien, gebe jede Abrechnung Spielraum für Beanstandungen. „Wir haben mittlerweile ein Level erreicht, das es für den Praktiker vor Ort schier unmöglich macht, das System noch zu händeln“, kritisierte Baum. „Zugleich bietet die Unterschiedlichkeit der Regelungsbereiche den Krankenkassen die Möglichkeit, willkürliche Kürzungen vorzunehmen.“ OPS-Komplexkodes, DRG-Regeln oder Anforderungen aus Strukturvorgaben durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundes­aus­schusses stellten additive, manchmal auch widerstreitende Anforderungen.«

Es ist das auf DRGs basierende Fallpauschalensystem zur Finanzierung der Krankenhäuser, das nicht nur wegen der in diesem Beitrag erneut beschriebenen Fehlanreize grundsätzlich auf den Prüfstand gehört, verbunden mit der Suche nach einem grundlegend anders aufgestellten Finanzierungssystem. Man muss hier daran erinnern, dass es auch gerade aus gesundheitspolitischer Sicht und mit Blick auf die dem System ausgelieferten Patienten seit Jahren immer wieder die Kritik gibt, dass die Fallpauschalensystematik dazu führt, dass bestimmte, weil erlösträchtige Eingriffe weitaus öfter praktiziert werden, als es aus medizinischen Gründen geboten sei (vgl. nur als ein Beispiel den Beitrag Kaufleute mit Skalpell? Gesundheitskarte mit Lesegeräte-Monopol? Aus dem monetischen Schattenreich der Gesundheitswirtschaft vom 19. Juni 2017).

Wenn man die mittlerweile vorliegende Evidenz über die negativen Auswirkungen des sich immer mehr ausdifferenzierenden Fallpauschalensystems zur Kenntnis nimmt und daraus abgeleitet echten Reformbedarf formulieren will, dann kommt selbst (oder vielleicht angesichts der Don Quichotterien im bestehenden System gerade) ein Vertreter des MDK zu einer solchen Schlussfolgerung:

Die Krux liege im DRG-System. Und das bedeute: „Eigentlich müsste man die Politik bitten, ein einfacheres Abrechnungs­system auf den Weg zu bringen.“ (Ulf Sengebusch, Geschäftsführer des MDK Sachsen). Genau das ist der Punkt. Das wäre der Edlen Schweiß mehr als wert.

Gibt es Hinweise, dass dieser notwendige Pfad in absehbarer Zeit beschritten wird? Man würde sich eine andere Auskunft wünschen angesichts der zahlreichen negativen Ökonomisierungseffekte in der Krankenhauslandschaft, aber derzeit ist auf diesem Feld nichts zu sehen oder hören. Und deshalb kann und muss im April 2019 dieser Abschluss des Beitrags Böse Krankenhäuser, rechnungsprüfend-korrekte Krankenkassen und eine Botschaft mit einer gehörigen Portion „Was für eine Sauerei“-Faktor. Oder ist es doch nicht so einfach? vom 10. Juni 2014 wiederbelebt werden:

»Je komplizierter ein System ausgestaltet wird, vor allem wenn es um die Abrechnung von Geldern geht, desto größer werden die zahlreichen Schnittstellen zu auffälligem bzw. illegalem Verhalten. Was wieder einmal für die Devise sprechen würde: Keep it simple. In den allermeisten Feldern der Sozialpolitik ein hoffnungsloser Traum.«