Viele haben die Absicht, Tarifverträge in der Altenpflege allgemeinverbindlich zu erklären (wenn es welche geben würde)? Feuer frei von Seiten der privaten Arbeitgeber

Man muss erneut daran erinnern, dass es da noch einige Passagen im Koalitionsvertrag der GroKo gibt, die auf Bearbeitung und Realisierung warten. Beispielsweise dieser Auftrag: »Wir wollen die Bezahlung in der Altenpflege nach Tarif stärken. Gemeinsam mit den Tarifpartnern wollen wir dafür sorgen, dass Tarifverträge in der Altenpflege flächendeckend zur Anwendung kommen.« So steht es im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD aus dem Jahr 2018.

Das müsste eigentlich schon seit längerem auf den Weg sein. »So behauptete die frühere Bundesarbeitsministerin, jetzige Fraktionschefin der SPD im Bundestag und designierte SPD-Parteivorsitzende Andrea Nahles in der Maybrit Illner-Sendung vom 22.02.2018, bezüglich der Tarifbindung in der Altenpflege habe man das Problem gelöst, denn man würde die „tarifvertragsähnlichen Regelungen“ der beiden Kirchen und der von ihnen getragenen Einrichtungen und Dienste berücksichtigen und dann könne man mit einer Allgemeinverbindlicherklärung arbeiten. Fazit: Die Tarifentlohnung werde kommen.« Das wurde diesem Beitrag vom 24. Februar 2018 entnommen: Tariflohn für alle Pflegekräfte in der Altenpflege: SPD und Union sagen: kommt. Die anderen fragen sich: wie denn? Und dort findet man dann auch diese Kommentierung der Nahles-Behauptung: »Da reibt sich jeder, der sich etwas auskennt in der Materie, erstaunt die Augen.« In dem Beitrag findet man eine detaillierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Möglichkeiten, um Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären – und den Hindernissen, mit denen man speziell in der Altenpflege konfrontiert wird. Der Beitrag endete mit dieser Frage: »Wie soll das beschriebene Wollknäuel genau aufgelöst werden?«

Und am 1. Juli 2018 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Die einen wollen Tariflöhne in der Altenpflege, die anderen die Arbeitgeber genau davor bewahren. Der Weg wird kein einfacher sein. Dort wurde besonders darauf hingewiesen, dass selbst wenn man als eine Art „Umgehungsstrategie“ den Weg über das Arbeitnehmerentsendegesetz zu gehen versucht, um eine Allgemeinverbindlichkeit herzustellen, sich die Frage stellt: Welcher Tarifvertrag soll und kann es denn sein?

Man braucht ein Tarifwerk, mit dem man gegen den Block der privaten Pflegedienstleister antreten kann, so auch die Sichtweise des zuständigen Bundesarbeitsministeriums. Um das hinzubekommen, müssen kirchliche und weltliche Anbieter zusammenwirken. Eine wahrhaft herkulische Aufgabe, wenn man berücksichtigt, dass zum einen Tarifverträge in der Altenpflege kaum vorhanden sind, so etwas ähnliches wie Tarifverträge in Form der Arbeitsvertragsrichtlininien bei den kirchlich gebundenen Trägern, wo aber die Gewerkschaften keine relevante Rolle spielen (können) und auch von Seiten der Arbeitnehmer wird aus diesem Bereich ein Organisationsgrad gemeldet, der bei (vermutlich) unter zehn Prozent liegt.

Schon im Sommer des vergangenen Jahres wurde mit Bezug auf den Artikel Gewerkschaften und Kirchen kämpfen für höhere Löhne in der Pflege zum weiteren Vorgehen berichtet:

Die Parlamentarische Staatssekretärin im Arbeitsministerium, Kerstin Griese (SPD), machte auf einer Caritas-Veranstaltung deutlich: „Wir müssen einen Weg finden, der kirchliche und nichtkirchliche frei-gemeinnützige Träger zusammenführt, damit eine belastbare Mehrheit der Einrichtungen vorhanden ist, um allgemeinverbindliche Regelungen auf die privaten Anbieter auszuweiten.“ Das hört sich einfacher an, als es praktisch ist, denn wenn auch AWO & Co. die Idee eines gemeinsamen Tarifvertrags unterstützen (vor allem, wenn der dann auch noch über eine Allgemeinverbindlichkeit auch für die privatgewerbliche Konkurrenz bindend wäre), gibt es u.a. drei große Herausforderungen:

➞ Zum einen müssen sich AWO, Paritätischer und andere freigemeinnützige nicht-kirchlich gebundene Träger zu einem Arbeitgeberverband zusammen finden und mit der Gewerkschaft überhaupt erst einmal einen Tarifvertrag aushandeln, den man dann als Grundlage nehmen könnte für ein allgemeinverbindlich zu erklärendes Regelwerk, denn es soll ja um eine flächendeckende Tarifbindung gehen. Derzeit wird berichtet, dass die Arbeiterwohlfahrt, das Deutsche Rote Kreuz und der Paritätische einen neuen Arbeitgeberverband von insgesamt 23 Fachverbänden und Organisationen gründen wollen. Insbesondere die Einbeziehung des Paritätischen in den Flächentarif wäre ein Novum, denn bisher hat die Gewerkschaft Verdi mit diesem Verband nur wenige regionale Tarifverträge. Aber selbst wenn das gelingen sollte: Die drei gemeinnützigen Verbände bringen lediglich etwa zehn Prozent der Beschäftigten ein. Die kirchlichen Träger sollen quasi in einer „Hotel-Lösung“ angedockt werden.

➞ Zum anderen ist die Akzeptanz der angestrebten Tarifbindung trotz aller Verlautbarungen von Seiten der Verbandsspitzen bei einigen freigemeinnützigen Trägern durchaus mehr als wackelig und das oft aus ganz handfesten praktischen Gründen, denn viele Träger sind sogenannte Komplexträger, also die sie neben der Pflege auch noch in anderen Arbeitsfeldern unterwegs, z.B. der Jugendhilfe. Hier stellt sich die Frage, worauf sich ein (noch zu vereinbarender) Tarifvertrag bei diesen Trägern erstreckt. Wenn das nicht nur die Pflege wäre, dann haben die ein Problem, weil in der Jugendhilfe die mit der Tarifbindung einhergehenden höheren Kosten derzeit nicht refinanziert werden.

➞ Und drittens muss dann ein rechtlich haltbarer Weg gefunden werden, einen Tarifvertrag für allgemein verbindlich zu erklären. Zu den besonderen Schwierigkeiten in der Branche Altenpflege und den Klippen, die bei einem Weg über das Arbeitnehmerentsendegesetz zu nehmen sind vgl. ausführlicher den Beitrag Ein flächendeckender Tarifvertrag für die stationäre und ambulante Altenpflege? Es ist und bleibt kompliziert vom 19. Januar 2019.

Und in dieser an sich schon fragilen Gemengelage ist es dann auch nicht überraschend, dass nun aus vollen Rohren geschossen wird angesichts der derzeit laufenden Versuche, überhaupt erst einmal die Voraussetzungen für einen dann allgemeinverbindlich erklärten flächendeckenden Tarifvertrag zu schaffen. Das kann man über zwei Schienen versuchen, die sich derzeit beobachten lassen:

Ablenkung: Wenn Politik und andere Akteure eine Vergütung auf Basis einer flächendeckenden Tarifbindung der Branche anstreben, dann fordert man eben etwas anderes, was man für Außenstehende als scheinbar vergleichbarer Schritt nach vorne verkaufen kann, was aber deutlich von einer Tarifentlohnung abweicht: Man fordert einen Mindestlohn nicht nur wie derzeit für die Pflegehilfskräfte, sondern auch für die Pflegefachkräfte, der dann allgemeinverbindlich erklärt wird. Aber eben nur die dann festgelegte Lohnuntergrenze und gerade nicht ein Tarifwerk, das weit über eine untere Lohnuntergrenze hinausreichen würde. Diesen Vorschlag macht der zweite Arbeitgeberverband der privaten Anbieter, der neben dem bpa-Arbeitgeberverband immer wieder in den Medien auftaucht: der seit 2009 existierende Arbeitgeberverband Pflege (AGVP). Thomas Greiner, Präsident des AGVP, wird unter der Überschrift Die Altenpflege will sich nicht missbrauchen lassen so zitiert: ,,Minister Heil muss endlich einsehen, dass die Idee, über die leicht emotionalisierbare Altenpflege quasi mit der Brechstange Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen zu erleichtern, gescheitert ist. Wer die Branche befrieden und eine höhere Bezahlung von Pflegekräften erreichen möchte, muss in einer neuen Mindestlohnkommission Lösungen suchen. Mögliche Ideen wären: Aufnahme wichtiger Marktteilnehmer wie Deutsches Rotes Kreuz, Paritätischer Wohlfahrtsverband und Arbeiterwohlfahrt. Stärkere Berücksichtigung des Ostens und der ambulanten Pflege bei der Zusammensetzung. Mindestlohn für Fachkräfte von 2500 Euro. Anreize für Hilfskräfte durch Festlegung eines Mindestlohns für einjährig Ausgebildete.“ Und zur Ablenkungsstrategie gehört natürlich auch, mit den Ängsten zu spielen: „Ein Einheitstarifvertrag führt zu steigenden Eigenbeiträgen!“, so ist beispielsweise ein Interview der Ärzte Zeitung mit Thomas Greiner vom 25.03.2019 überschrieben. Dort sagt er: »Wir wollen eine Absicherung nach unten. Wir sind auch bereit, mehr zu bezahlen … Wir sind der Überzeugung, dass wir dafür ein bereits bewährtes Instrument haben, nämlich die Kommission zur Regelung von Mindestarbeitsbedingungen in der Pflege … Die Kommission kann auch für die Arbeitsbedingungen zuständig sein … Bislang hat die Kommission noch keine Lösung gefunden für Fachkräfte. Es wäre ihre Aufgabe, Untergrenzen zu definieren dafür, was die Fachkräfte verdienen müssen. Das Verfahren ist rechtssicher.« Das also ist der Kern des Vorschlags: Man strebe an, in einer neuen Kommission zur Regelung der Mindestarbeitsbedingungen in der Pflege nach § 10 ff. Arbeitnehmerentsendegesetz nach einer unkomplizierten Lösung zu suchen. Ein so definierter – wohlgemerkt – Mindestlohn könne dann also allgemein verbindlich erklärt werden, nicht aber ein Tarifvertrag.

Drohung: Eine zweite Strategie ist der Aufbau einer Drohkulisse, mit der die politischen Akteure, die sich auf den Weg gemacht haben, die Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifwerks für die Altenpflege umzusetzen, in die Schranken gewiesen werden sollen. Das macht man üblicherweise dadurch, dass man den politisch Verantwortlichen mit Klagen gegen eine geplante Maßnahme droht und diese Drohung mit einer bezahlten Auftragsstudie zu untermauern versucht. Das läuft über den Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa). Der wiederum hat den bpa Arbeitgeberverband ins Leben gerufen. Der produziert diese Tage solche Schlagzeilen: Arbeitgeberverband will bundeseinheitliche Tarifverträge in der Pflege verhindern. Der Verband wehrt sich gegen politische Vorhaben, die bestehenden Pflegetarifverträge als allgemeinverbindlich zu erklären. Dafür haben sich die Arbeitgeber ein Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen in der Pflege erstellen lassen.
„Die Instrumente der Allgemeinverbindlichkeitserklärung und die Erstreckung von Tarifverträgen sind ungeeignet und zur Erreichung sozial- und gesundheitspolitisch erstrebter Ziele verfassungswidrig“, so auftragsgemäß Gutachter Udo Di Fabio, ehemaliger Richter am Bundes­verfassungsgericht (BVerfG), vor der Presse.

Der Arbeitgeberverband hat seine Meldung zu dem Auftragsgutachten unter diese Überschrift gestellt: Di Fabio: „Erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag in der Pflege“. Dort findet man zusammenfassend diese Hinweise auf die Argumentation des Gutachters:

„Allgemeinverbindlicherklärungen in der Pflege stoßen auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Das gilt gleichermaßen für die klassische Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Tarifvertragsgesetz (TVG) wie auch für die Erstreckung eines bundesweiten Tarifvertrages kraft einer Rechtsverordnung nach § 7a Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG). Eine entsprechende Vorgehensweise stellt eine Verletzung der Art. 9 Abs. 3, 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 sowie 20 Abs. 1 bis 3 GG dar. Beide Instrumente führen dazu, dass ein marktwirtschaftlicher Wettbewerb in der Pflegebranche de facto ausgeschlossen wird. Alle Wettbewerbsfaktoren sind dann vereinheitlicht (Preise, Qualität und dann auch noch Löhne). Der Eingriff ist aufgrund der bereits stark regulierten Pflegebranche (Pflege- und Sozialgesetze, Pflegequalität, Personalbemessung) besonders gravierend. Da insbesondere Gewerkschaften nur sehr wenige Mitglieder haben und somit eine repräsentative Bindung an einen für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrag in der Pflegebranche nicht besteht und nicht bestehen wird, sind die Instrumente der Allgemeinverbindlicherklärung bzw. die Erstreckung von Tarifverträgen ungeeignet und zur Erreichung sozial- und gesundheitspolitisch erstrebter Ziele verfassungswidrig.“

Die Vorlage lässt sich der Präsident des bpa Arbeitgeberverbands, der FDP-Politiker Rainer Brüderle, nicht entgehen: „Es ist Zeit, den politischen Irrweg zu beenden!“ Und er betont dann besonders diesen Aspekt: »Bemerkenswert ist der Hinweis von Professor Di Fabio auf die Ziele des Arbeitnehmerentsendegesetzes. Das richtet sich explizit gegen einen Verdrängungswettbewerb durch sinkende Löhne. In der Altenpflege findet der Verdrängungswettbewerb aber gerade andersherum statt. Die Löhne steigen weit überdurchschnittlich und wer da als Unternehmen nicht mithalten kann, der findet keine Fachkräfte und wird heute oder morgen vom Markt verdrängt. Für die steigenden Löhne sorgt übrigens der Markt.« Ach der Markt. Das wäre ein eigenes Thema.

Bleiben wir bei der gutachterlichen Drohkulisse, die da aufgebaut wird. Nun müsste man die wenigen Hinweise, die gegeben werden, in dem Gutachten überprüfen, denn nur dann kann man die Substanz(losigkeit) ermitteln. Dieser korrekte Weg wird einem aber versperrt, denn: Das Gutachten will der bpa Arbeitgeberverband allerdings bis zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung zu der geplanten gesetzlichen Vorlage unter Verschluss halten. Ach ja.