Wenn eine Ausgleichsrente für die letzten Opfer des Holocaust in die Anrechnungsmaschinerie des Hartz IV-Systems gerät, hilft nicht einmal das Bundessozialgericht. Ganz im Gegenteil

Immer wieder wird man mit dem Vorwurf konfrontiert, dass das deutsche Sozialrecht zu großzügig sei bzw. vor allem von den Sozialrichtern so ausgelegt werde zugunsten der Leistungsbezieher und dass man – so die Empfehlung – doch genauer hinschauen sollte und Leistungen auch verweigern müsse, wenn denn da noch was anderes bei den Betroffenen zu holen ist. Nun werden sich viele Menschen, die in den weiten Welten der Sozialgesetzbücher unterwegs sein müssen, für solche Aussagen bedanken und darauf hinweisen, dass in vielen Bereichen nicht bewilligt oder andere Mittel angerechnet werden, bis es kracht. Gerade die Hartz IV-Empfänger wissen ein Lied von Einkommensanrechnungen und Leistungskürzungen zu singen.

Und erneut werden wir Zeugen der Unerbittlichkeit der Vorschriften, denen es egal ist, wer an ihnen abprallt. Diesmal geht es um Menschen, die als Überlebende die von Deutschland ans Tageslicht geholte Hölle auf Erden hinter sich haben, also um die Opfer des Holocaust. Es werden immer weniger, die noch dazu gehören und die eigentlich – sollte man meinen – wenigstens am Ende ihres Lebens halbwegs ordentlich behandelt werden von dem Staat, der die juristische und moralische Nachfolge dessen angetreten hat, was als „Drittes Reich“ nicht nur semantisch verklärt wird.

Nun wird sich der eine oder andere noch erinnern, dass es in der Wirklichkeit gerade bei der Gruppe der Holocaust-Überlebenden immer enorme Widerstände und bürokratische Verhärtungen gegeben hat. An dieser Stelle sei nur an die Geschichte des aufrechten Sozialrichters Jan-Robert von Renesse erinnert

»Von 2006 bis zum Frühjahr 2010 war von Renesse als Beisitzer dem 12. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen zugewiesen und als Berichterstatter zuständig für die Rentenzahlungen an Zwangsarbeiter in Ghettos während der Zeit des Nationalsozialismus nach den Regelungen des Ghettorentengesetzes. Von den etwa 70.000 Anträgen auf Zahlung einer Ghettorente lehnten die deutschen Rententräger 96 % ab. Von Renesse führt dies auf die verfolgungsbedingte Beweisnot der Ghettoüberlebenden zurück, die „meist nichts anderes als die auf dem Arm eintätowierte KZ-Nummer (…) als Beweis hatten.“ Die Tätigkeit der deutschen Behörden fasste von Renesse mit Blick auf die Überlebenden wie folgt zusammen:
„Ihren eigenen Berichten hörte die deutsche Bürokratie – die allein auf ungeeignete Formulare oder alte deutsche Akten vertraute – gar nicht erst persönlich zu und schenkte ihnen auch sonst keinen Glauben.“
Aber Renesse hat sich außerhalb des Normalbetriebs gestellt und diesen verweigert. Er ist nach Israel bereits, um die dort lebenden Ghetto-Überlebenden persönlich zu befragen. Und er bekam dafür keinen Preis, sondern musste eine hohen Preis bezahlen. Ihm wurden die Verfahren entzogen und ein sozialdemokratischer Justizminister des Landes NRW eröffnete sogar ein Disziplinarverfahren gegen Renesse „“wegen Rufschädigung der Sozialgerichtsbarkeit“. Was für ein Abgrund. Vgl. dazu auch den Beitrag Eine Rente für die wenigen, die noch da sind. Und ein Sozialrichter, der keinen Preis bekommt, sondern einen zahlen soll, der am 4. April 2016 in diesem Blog veröffentlicht wurde.

Und nun muss von einem weiteren Beispiel des manchen irritierenden, weil kleinkrämerisch daherkommenden Umgangs mit den letzten Opfern berichtet werden. Unter der Überschrift Ausgleichsrente für NS-Opfer kann Hartz IV senken erfahren wir: »Jüdische Verbände kritisieren Urteil des Bundessozialgerichts in Kassel.« Und weiter: »Die Verhöhnung der wenigen noch lebenden Opfer des Nationalsozialismus kann nicht widerstandslos hingenommen werden«, sagte die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) gegenüber der Zeitung Jüdische Allgemeine, die über den Vorgang berichtet. Was ist passiert? Dazu erst einmal ein Blick auf den Sachverhalt, der beim Bundessozialgericht gelandet ist:

»Im Fall eines jüdischen Immigranten und NS-Opfers aus der früheren Sowjetunion urteilte das BSG Ende vergangener Woche, dass die ihm gewährte Rente den Bezug von Hartz IV mindern kann. Der 1940 geborene und in Berlin lebende Mann war als NS-Opfer anerkannt und erhielt deshalb eine monatliche Grundrente nach dem Bundesentschädigungsgesetz in Höhe von 305 Euro monatlich.
Das Land Berlin zahlte ihm nach dem Landesgesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus außerdem eine sogenannte Ausgleichsrente von monatlich 825 Euro.
Seine Ehefrau und seine zwei Kinder waren auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen und lebten mit dem Kläger in einer Bedarfsgemeinschaft. Das Jobcenter Berlin Tempelhof-Schöneberg gewährte zwar Hartz-IV-Leistungen, rechnete jedoch die Ausgleichsrente des Vaters teilweise als einkommensmindernd an. Die Ausgleichsrente diene dem Lebensunterhalt, sodass sie als Einkommen anzurechnen sei, lautete die Begründung.«

Und schon sind wir mittendrin in dem für den Nicht-Experten, also 99,9 Prozent der Menschen, mehr als unüberschaubaren Dickicht an Entschädigungs- und Wiedergutmachungsregelungen für eine Gruppe von Menschen, die von Tag zu Tag immer kleiner wird. Vereinfacht gesagt gibt es das Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Dieses Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ist Teil der deutschen Wiedergutmachungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist kompliziert und schließt auch bestimmte Verfolgungsgründe und damit ganze Personengruppen aus.
In Berlin – wohlgemerkt, nur dort – gibt es eine gesetzliche Ergänzung: »Das Gesetz über die Anerkennung und Versorgung der Politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus (PrVG) entstand als eine Art Anschlussgesetz zum Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Absicht war und ist es hierbei, jenen Verfolgtengruppen noch Hilfe zukommen zu lassen, die vom BEG nicht bedacht worden sind. Ebenso wurden auch Verfolgungstatbestände aufgenommen, die das BEG ungewürdigt gelassen hatte. Das PrVG ist ein Gesetz des Landes Berlin (Landesrecht) und gilt somit nur in diesem Bundesland. Seine Antragsmöglichkeiten und Leistungen sind deshalb bis auf wenige Ausnahmen an einen Wohnort und ständigen Aufenthalt im Land Berlin gebunden«, erfahren wir auf der Seite Leistungen nach dem Berliner PrVG. Über die laufenden Versorgungsleistungen wird das hier berichtet:
»Es gibt die Grundrente in Höhe von zur Zeit monatlich 361,53 EUR und die Ausgleichsrente für Alleinstehende in Höhe von zur Zeit monatlich 827,51 EUR und für Verheiratete oder bei bestehender Lebenspartnerschaft in Höhe von zur Zeit monatlich 978,12 EUR. Die Höhe der Rente richtet sich nach dem vorhandenen Einkommen des Verfolgten und ggf. des Ehegatten.«

Und offensichtlich bezieht der Mann, um den es im aktuellen Fall geht, Leistungen aus dem Berliner PrVG. Und um die geht es – bzw. es geht um die Frage der Anrechenbarkeit im Hartz IV-System, weil der Mann mit Frau und Kindern zusammenlebt, die Hartz IV-Leistungen beziehen. Wir erinnern uns – die Leistungen nach dem PrVG bestehen aus zwei Komponenten: Einer (niedrigen) Grundrente und einer (höheren) Ausgleichsrente. Und die letztere ist nun in das Anrechnungsvisier des BSG geraten, das laut Terminbericht Nr. 24/18 vom 15. Juni 2018 so argumentiert:

»Die von ihrem Ehemann bzw Vater, mit dem sie in einer sog gemischten Bedarfsgemeinschaft lebten, bezogene Ausgleichsrente nach dem Gesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus (PrVG) ist nicht von der Berücksichtigung als Einkommen nach dem SGB II ausgeschlossen. Dies folgt aus der in § 13a PrVG getroffenen Ausnahme nur für die Grundrente sowie dem Fehlen einer Zweckbestimmung iS des damaligen § 11 Abs 3 Nr 1 SGB II aF (vgl heute § 11a Abs 3 Satz 1 SGB II) für die Ausgleichsrente im PrVG.«

Das sind mehr als deutliche Ausführungen, dass eine Anrechnung der Ausgleichsrente auf der Grundlage der gegebenen Gesetzesformulierung seitens des BSG nicht ausgeschlossen wird. Das Verfahren wurde dennoch zurückverwiesen an das LSG Berlin-Brandenburg, aber aus einem anderen Grund: »… weil mangels Feststellungen des LSG nicht zu beurteilen ist, ob die Begrenzung der Kosten für die Unterkunft und Heizung von tatsächlichen 874,82 Euro auf anerkannte 619 Euro rechtmäßig ist.«

Von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) wird die folgende Bewertung zitiert: »Das Einräumen der Möglichkeit, Entschädigungsleistungen als Einkommen zu werten, stelle einen Paradigmenwechsel in der »Wiedergutmachung« im Sinne materieller Leistungen für während der NS-Zeit erlittenes Unrecht dar und sei der Versuch, Zahlungen für durch Deutschland verursachtes Leid und Elend wieder an den Staatshaushalt zurückzuführen.«

Es bestehe dringender Bedarf, das Urteil zu revidieren, so die Jüdische Gemeinde Berlin. Das nun ist vom Impuls her verständlich, aber eigentlich die falsche Stoßrichtung, denn wenn man die Ausführungen des BSG betrachtet, dann machen die „nur“ zweierlei und das konsequent: Sie prüfen alles und jeden Euro hinsichtlich einer möglichen Anrechnung im Hartz IV-System und den Anrechnungsvorschriften im SGB II ist die Qualität des Einkommens oder gar so etwas wie eine moralische Dimension (Ausgleichsrente trägt das schon im Namen) völlig egal. Es wird angerechnet, es sei denn, die Anrechnung wird explizit untersagt. Und da wären wir beim zweiten Argumentationspunkt der Bundessozialrichter: Die niedrige Grundrente darf nicht angerechnet werden – weil es so im Gesetz explizit geregelt ist (§ 13a PrVG). Aber eine entsprechende Regelung findet man dort eben nicht für die Ausgleichsrente. Darauf ziehen sich die Richter zurück.

Wenn man nun etwas an der Sachlage ändern wollte, dann wäre der logisch richtige Schritt, eine entsprechende klarstellende Formulierung in das Gesetz aufzunehmen. Der Gesetzgeber in Berlin wäre gefordert – und das könnte bei entsprechendem Willen sicher schnell realisiert werden, man kann ja diese Tage bei anderen Sachverhalten sehen, dass sogar auf der Bundesebene ganz schnell gearbeitet werden kann, wenn es ein Interesse gibt (Stichwort Parteienfinanzierung). Ich würde allerdings keine Wette eingehen, dass das hier passieren wird.