Zweifel an der – willkürlichen – Trennung zwischen unter dem Kreuz arbeitenden und normalen Menschen führen zu einem Ping-Pong-Spiel zwischen ganz oben und noch höher

Man könnte es in vielerlei Hinsicht so einfach haben, wenn man rigoros den Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat befolgen würde. Denn Religion und die möglicherweise, weil nicht zwangsläufig mit der Religionsausübung verbundene Mitgliedschaft in einer Kirche ist (eigentlich) ganz offensichtlich eine höchst private Angelegenheit. Jeder soll nach seiner Façon glücklich werden, wenn er oder sie das eine, also seine religiöse Aktivität unterscheiden kann von dem, was des Staates ist. Und wenn der Staat als eine seiner Kernaufgaben Regeln des Zusammenlebens erlässt, die beispielsweise die Rechte (und Pflichten) von Arbeitnehmern in der Arbeitswelt normieren, sollte man meinen, dass das dann auch für alle Staatsbürger vollumfänglich zu gelten hat und es nicht normale und Staatsbürger light geben darf, wobei die Light-Variante an den Kirchen-Status gebunden ist. Vor allem nicht, wenn es sogar um Grundrechte geht.

Ja, die Theorie. Die Praxis sieht ganz anders und weitaus weniger einfach strukturiert aus, wie die meisten wissen. Da gibt es in Deutschland nicht nur enge Verknüpfungen zwischen Staat und (anerkannten) Kirchen, beispielsweise auf der Ebene des Einzugs und Weiterleitung der Kirchensteuer oder die Finanzierung kirchlichen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen aus Steuermitteln, sondern die (Staats-?)Kirchen haben umfangreiche Sonderrechte hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse der unter dem Kreuz arbeitenden Menschen. Mit der Folge, dass den in kirchlich gebundenen Einrichtungen arbeitenden Menschen elementare Grundrechte verweigert werden dürfen, nicht nur das Streikrecht. Sondern die Arbeitgeber in diesem Kontext können weitaus „flexibler“ Arbeitnehmer entlassen wegen ihres Verhaltens im privaten Raum, was bei keinem normalen Arbeitnehmer akzeptiert werden würde. 

Es liegt auf der Hand, was jetzt kommen muss: Die Frage der (Nicht-)Geltung des allgemeinen Arbeitsrechts bei Beschäftigten eines konfessionell gebundenen Unternehmens. Kündigung wegen zweiter Ehe – Fall vor Bundesarbeitsgericht, so ist beispielsweise einer der Artikel zu dem hier interessierenden Sachverhalt überschrieben. Darin wird berichtet über eine Verhandlung des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt über die Kündigung eines Chefarztes eines katholischen Krankenhauses. Er soll seine Stelle in Düsseldorf verlieren, weil er zum zweiten Mal geheiratet hat. Sein kirchlicher Arbeitgeber sieht darin einen schwerwiegenden Verstoß gegen seine Loyalitätspflichten. Nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der katholischen Kirche gilt eine Wiederheirat als ungültige Ehe.

Interessant dabei: Das Bundesarbeitsgericht muss sich bereits zum zweiten Mal mit dem Fall befassen, nachdem das Bundesverfassungsgericht ihr erstes Urteil von 2011 für unwirksam erklärte. Das Bundesarbeitsgericht hatte die gegenüber dem Mediziner ausgesprochene Kündigung aufgehoben. Die Verfassungsrichter sahen dabei das Selbstbestimmungsrecht der Kirche zu wenig beachtet.

Wir haben es hier offensichtlich mit einem Fall zu tun, der sich seit Jahren durch die Instanzen zieht und vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass auch hier bereits über den Fall sowie – weit darüber hinausreichend – über die grundsätzlichen Implikationen der Rechtsprechung berichtet wurde, so am 20. November 2014 in dem Beitrag Katholische und andere Menschen. Das Bundesverfassungsgericht steht (weiter) fest an der Seite der Kirche. Es wird Zeit für eine grundlegende Änderung. In diesem Beitrag war die damalige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Auslöser der Berichterstattung und kritischen Diskussion.

Mit der Entscheidung BVerfG, 2 BvR 661/12 vom 22.10.2014 hatte das Bundesverfassungsgericht ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts aufgehoben, das die Kündigung eines Chefarztes im Krankenhaus eines katholischen Trägers nach dessen Wiederverheiratung für unwirksam erklärt hatte (vgl. hierzu Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 8.9.2011, 2 AZR 543/10). Der klagende Chefarzt hatte in allen arbeitsgerichtlichen Instanzen bis hinauf zum höchsten Arbeitsgericht des Landes Recht bekommen und die Kündigung seitens des kirchlich gebundenen Trägers des Krankenhauses wurde für unwirksam erklärt.

Das hatten die Verfassungsrichter anders gesehen und – erneut – die kirchlichen Sonderrechte mit ihrer damaligen Entscheidung gestärkt. Das haben sie schon in der Überschrift der Pressemitteilung zur damaligen Entscheidung deutlich gemach: Vertraglich vereinbarte Loyalitätsobliegenheiten  in kirchlichen Arbeitsverhältnissen unterliegen weiterhin nur eingeschränkter Überprüfung durch die staatlichen Gerichte.

Die Botschaft aus Karlsruhe kann man so auf den Punkt bringen: Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts verletze die Kirche in ihren verfassungsrechtlich garantierten Sonderrechten. Das Bundesarbeitsgericht muss den Fall komplett neu überprüfen. Denn es hat den Verfassungsrichtern zufolge die „Bedeutung und Tragweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts“ nicht genügend beachtet.

Das BVerfG weist darauf hin, »dass Art. 4 Abs. 1 und 2 GG die korporative Religionsfreiheit vorbehaltlos gewährleistet und insofern dem Selbstbestimmungsrecht und dem Selbstverständnis der Religionsgesellschaften besonderes Gewicht zuzumessen ist.«
Damit signalisiert das BVerfG, um das mal umgangssprachlich zu übersetzen: Das Recht der Kirchen,  in eigener Autonomie zu handeln und dabei auch Grundrechte, die „normalen“ Menschen selbstverständlich zustehen, außer Kraft zu setzen, ist per se höher zu bewerten als der Verfassungsrang eines individuellen Grundrechts.

Die Perspektive des Bundesarbeitsgerichts in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2011 im hier strittigen Fall des wiederverheirateten Chefarztes war eine andere, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie den Finger auf eine offene Wunde bei den vielen „lebenswandelbedingten“ Streitfällen gelegt hat – nämlich die offensichtlich Willkür, der man hier begegnet. Dazu das Gericht selbst (Urteil vom 8.9.2011, 2 AZR 543/10):

»Auch bei Kündigungen wegen Enttäuschung der berechtigten Loyalitätserwartungen eines kirchlichen Arbeitgebers kann die stets erforderliche Interessenabwägung im Einzelfall zu dem Ergebnis führen, dass dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zumutbar und die Kündigung deshalb unwirksam ist. Abzuwägen sind das Selbstverständnis der Kirchen einerseits und das Recht des Arbeitnehmers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens andererseits.«

In der Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts zum damaligen Urteil findet man einen entscheidenden Passus, der bei der Bewertung auch des Urteils des BVerfG eine Rolle spielen wird. Zur Begründung, warum die Abwägung der konkurrierenden Rechte zugunsten des Chefarztes und gegen den kirchlichen Krankenhausträger ausgefallen ist, schreibt das Bundesarbeitsgericht (Beklagte ist hier der kirchliche Krankenhausträger und Kläger der gekündigte Chefarzt):

»Dabei fällt in die Waagschale, dass die Beklagte selbst sowohl in ihrer Grundordnung als auch in ihrer Praxis auf ein durchgehend und ausnahmslos der katholischen Glaubens- und Sittenlehre verpflichtetes Lebenszeugnis ihrer leitenden Mitarbeiter verzichtet. Das zeigt sich sowohl an der Beschäftigung nichtkatholischer, wiederverheirateter Ärzte als auch an der Hinnahme des nach dem Arbeitsvertrag an sich untersagten Lebens in nichtehelicher Gemeinschaft von 2006 bis 2008. Zu berücksichtigen war ferner, dass der Kläger zu den Grundsätzen der katholischen Glaubens- und Sittenlehre nach wie vor steht und an ihren Anforderungen nur aus einem dem innersten Bezirk seines Privatlebens zuzurechnenden Umstand scheiterte. Bei dieser Lage war auch der ebenfalls grundrechtlich geschützte Wunsch des Klägers und seiner jetzigen Ehefrau zu achten, in einer nach den Maßstäben des bürgerlichen Rechts geordneten Ehe zusammenleben zu dürfen.«

Das war bereits im Jahr 2014 nach der Zurückweisung der Entscheidung des BAG durch das BVerfG – neben der grundsätzlichen Fragwürdigkeit der Sonderrechte der Kirchen – auch mein besonderer Kritikpunkt, den ich mit „Willkür“ überschrieben habe:

»Höchstrichterlich wird den (zugelassenen) Kirchen garantiert, bei den Beschäftigungsbedingungen teilweise fundamental abweichen zu können von elementaren Arbeitsrechten, die allen anderen „normalen“ Arbeitnehmern selbstverständlich zugestanden und die von denen wiederum auch selbstverständlich eingeklagt werden können. Damit aber – und das ist neben der grundsätzlichen Problematik einer Verweigerung elementarer Rechte für hunderttausende Arbeitnehmern besonders kritisch zu sehen – öffnet man ganze Arbeitsfelder der Willkür der kirchlichen Arbeitgeber. Ich schreibe hier ganz bewusst Willkür. Denn wenn wenigstens die Anwendung der kirchlichen Vorstellungen von einer „ordnungsgemäßen“ Lebensführung einheitlich und die eventuelle Sanktionierung flächendeckend und ausnahmslos praktiziert werden würde, dann könnte man bei aller grundsätzlichen Abneigung argumentieren, hier wird ein praktiziertes Sonderrecht geschützt. Aber wie sieht denn die Realität aus? Vielleicht sollten die Medien mal eine Abfrage machen, wie viele Chef- und sonstige Ärzte, die in Kliniken mit einer katholischen Trägerschaft arbeiten (die übrigens aus Steuer- und vor allem Sozialversicherungsmitteln finanziert werden), ein Leben führen, das nicht im Einklang steht mit dem „Selbstverständnis“ der katholischen Kirche. Also ich kenne zahlreiche Fälle, in denen – grundsätzlich sehr sympathisch – katholische Träger sagen, es interessiert sie nicht, wie ihre Ärzte (oder andere Fachkräfte) ihr Privatleben verbringen. Aber das bedeutet eben auch: Willkür, denn der eine hat Glück bei diesem Träger, der andere Pech bei jenem Träger.«
Das Bundesverfasssungericht hatte mit Beschluss  vom 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – die Entscheidung des BAG aufgehoben und den Fall zurückverwiesen zur erneuten Auseinandersetzung unter Beachtung der „Hinweise“ des BVerfG zur verfassungsrechtlichen Auslegung.«

Das ist nun geschehen und die Bundesarbeitsrichter sind zu diesem Ergebnis gekommen (vgl. BAG, Kündigung des Chefarztes eines katholischen Krankenhauses wegen Wiederverheiratung, Pressemitteilung Nr. 39/16):

»Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts hat mit Beschluss vom heutigen Tage entschieden, den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV um die Beantwortung von Fragen zur Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. EG Nr. L 303 S. 16) zu ersuchen. Für den Senat ist erheblich, ob die Kirchen nach dem Unionsrecht bei einem an Arbeitnehmer in leitender Stellung gerichteten Verlangen nach loyalem und aufrichtigem Verhalten unterscheiden dürfen zwischen Arbeitnehmern, die der Kirche angehören, und solchen, die einer anderen oder keiner Kirche angehören.«

Also das Bundesarbeitsgericht weigert sich offensichtlich, der restriktive, die Kirchen schützende Rechtsprechung des BVerfG in eine neue Entscheidung zu gießen und beschreitet den Ausweg, den Fall an die noch höher als ganz oben angesiedelte Instanz, also an den Europäischen Gerichtshof, zu verweisen.

Konkret hat das BAG in dem Vorlagebeschluss an den EuGH folgende Fragen formuliert:

1. Ist Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (RL 2000/78/EG) dahin auszulegen, dass die Kirche für eine Organisation wie die Beklagte des vorliegenden Rechtsstreits verbindlich bestimmen kann, bei einem an Arbeitnehmer in leitender Stellung gerichteten Verlangen nach loyalem und aufrichtigem Verhalten zwischen Arbeitnehmern zu unterscheiden, die der Kirche angehören, und solchen, die einer anderen oder keiner Kirche angehören?
2. Sofern die erste Frage verneint wird:
a) Muss eine Bestimmung des nationalen Rechts, wie hier § 9 Abs. 2 AGG, wonach eine solche Ungleichbehandlung aufgrund der Konfessionszugehörigkeit der Arbeitnehmer entsprechend dem jeweiligen Selbstverständnis der Kirche gerechtfertigt ist, im vorliegenden Rechtsstreit unangewendet bleiben?
b) Welche Anforderungen gelten gemäß Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der RL 2000/78/EG für ein an die Arbeitnehmer einer Kirche oder einer der dort genannten anderen Organisationen gerichtetes Verlangen nach einem loyalen und aufrichtigen Verhalten im Sinne des Ethos der Organisation?

Wir dürfen gespannt sein, wie der EuGH hier Stellung beziehen wird. Die Fortsetzungsgeschichte ist sicher.

Unabhängig von den richterlichen Querelen in dieser Angelegenheit bleibt meine Bewertung aus dem Beitrag vom 20. November 2014 uneingeschränkt aktuell:

»Es ist jetzt an der Zeit, endlich Schluss zu machen mit dieser nur historisch zu verstehenden Verquickung von Kirche und Staat, wenn es um die Grundrechte der Menschen geht. Das kann nur der Gesetzgeber. Wir brauchen endlich eine Verfassungskonkretisierung, mit der die Trennung von Kirche und Staat eindeutig und unabweisbar festgeschrieben wird. Und das bedeutet: Die Kirchen können ihr kirchliches Personal, also den Prediger oder andere, die im Kernbereich der Verkündigung arbeiten, gerne nach ihren Sonderwünschen behandeln. Aber die vielen Menschen, die in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Kindertageseinrichtungen arbeiten, die mittlerweile überwiegend oder im Regelfall sogar vollständig aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, sollen gefälligst so behandelt werden wie Arbeitnehmer in einer kommunalen oder privaten Einrichtung. Man muss an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass in nicht wenigen Regionen unseres Landes gerade im Bereich der Sozial- und Gesundheitseinrichtungen eben keine Wahlfreiheit für Menschen besteht, sich ihren Arbeitgeber auszusuchen, denn dort verfügen kirchlich getragene Einrichtungen oftmals über ein Monopol als Arbeitgeber. Insofern würde hier das Argument, die Menschen müssen ja nicht in einer kirchlich getragenen Einrichtung arbeiten, ins Leere laufen.
Übrigens: Auch die Kirchen, vor allem die katholische Kirche, sollte im eigenen wohlverstandenen Interesse für eine Veränderung sein. Schon heute haben wir in Teilbereichen des Sozial- und Gesundheitswesens einen erheblich wachsenden Fachkräftemangel und wenn man dann auch noch auf eine Lebensführung besteht, die nicht einmal viele Pfarrer selbst durchhalten, dann wird es irgendwann vielleicht einmal heißen: Kirche allein zu Haus.«