Diesseits der Schweizer Berge: Ein Bundespräsident trifft auf die „wirkliche Wirklichkeit“. In Mannheim. Und wir werden uns warm anziehen müssen. Vor der Europa-Wahl

Natürlich sind die Medien voll von Berichten über den Ausgang der Volksabstimmung in der Schweiz über die Begrenzung der Zuwanderung. Die Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ der Schweizerischen Volkspartei (SVP) ist mit 50,3 Prozent Ja-Stimmen knapp angenommen worden.  Die Differenz zwischen Gegnern und Befürwortern beträgt lediglich rund 19.500 Stimmen. Dafür wird es jetzt eine Menge Ärger geben mit der EU. Seit dem Inkrafttreten des Personenfreizügigkeitsabkommens im Jahr 2002 haben sich jährlich 80.000 EU-Bürger in der Schweiz niedergelassen. „Schweizer stimmen für Abschottung„, so lautet eine der vielen aktuellen Schlagzeilen. Interessant ist auch diese Variante „Schweizer schockieren ihre Wirtschaftsbosse„: »Vor allem exportorientierte Branchen wie der Maschinenbau oder die Elektro- und die Metallindustrie befürchten jetzt Nachteile im Handel mit der EU.« Und viele Deutsche sind davon betroffen: »Von einer Neuregelung sind vor allem auch Deutsche betroffen, die mit rund 300.000 Einwohnern einen Großteil der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz stellen, auch wenn sich der Zuzug in den vergangenen Jahren abgeschwächt hat.« Wenn die nun knapp erfolgreiche Initiative umgesetzt wird, dann müssten sie damit rechnen, dass ihr Arbeitsverhältnis vor einer Vertragsverlängerung von den Schweizer Behörden überprüft wird.

Aber der Blick soll hier auf die Lage in unserem Land gerichtet werden, die Schweizer müssen sich erst einmal sortieren. Was gewiss ist: Von den Ergebnis der Abstimmung in der Schweiz wird mit Sicherheit ein starker Impuls für die vielen rechtspopulistischen Parteien ausgehen, die mit einer teilweise extremen Ablehnung der EU in den Europawahlkampf ziehen. Auch in Deutschland wird das Schweizer Ergebnis das Lager der Euro- und der EU-Gegner beflügeln. Im Zusammenspiel mit Entscheidungen nationaler Sozialgerichte, den Hartz-IV-Bezug für Zuwanderer betreffend, sowie der Inszenierung einer Debatte über „Sozialtourismus“ bzw. „Armutszuwanderung“ wird sich das Klima in den wenigen Wochen bis zur Europawahl im Mai sicher erheblich aufheizen. 


Unabhängig von der durchaus plausiblen Vermutung, dass eine vergleichbare Abstimmung in Deutschland wahrscheinlich ähnlich ausgefallen wäre, wird auch in unserem Land auf der einen Seite vorsätzlich (oder fahrlässig?) mit dem Feuer gespielt, andererseits dürfen reale Folgeprobleme, die aus der Zuwanderung in bestimmte Städte resultieren, nicht einfach von denen ausgeblendet werden, die als Entscheidungsträger persönlich mit diesen Folgen in aller Regel überhaupt nicht konfrontiert sind.

Der Hinweis auf das mit dem Feuer spielen bezieht sich beispielsweise auf die Ankündigung der CDU, die Zuwanderung „ins deutsche Sozialsystem“ zum Thema im Europawahlkampf zu machen. »Man müsse die Anreize für die allein durch Sozialleistungen motivierte Zuwanderung senken, heißt es im Entwurf ihres Wahlprogramms, das am Wochenende verabschiedet wurde.«  Zum einen kann so ein Schuss durchaus nach hinten losgehen, denn der eine oder der andere Wähler wird sich fragen, warum er die kleine Kopie wählen soll, wenn er stattdessen das Original haben könnte, beispielsweise die AfD. Unabhängig davon müssen diejenigen, die derzeit und bereits seit längerem an der Regierung sind, doch zur Kenntnis nehmen, dass die Rechtslage eben komplizierter ist, als man es in einem Wahlkampf  polarisierend verkaufen kann: »Grundsätzlich gelte, dass man in den ersten drei Monaten des Lebens in Deutschland keinen Anspruch auf Hartz IV habe. Es sei denn, jemand habe Arbeit oder sei selbstständig – und sei es auch nur für einen Tag«, so heißt es richtig in dem Artikel von Miguel Sanches.  Und ebenfalls nicht falsch ist die Feststellung des – immerhin Bundesinnenministers: „Das ist auch ein weites Feld für Missbrauch“. Das mag so sein, aber welche Konsequenzen hat die Feststellung, dass die derzeitige Rechtslage in dem einen oder anderen Fall von den Betroffenen dazu benutzt wird, beispielsweise über die Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung einen Leistungsanspruch im Grundsicherungssystem zu erwerben (was nach Auffassung des Dortmunder Sozialgerichts zur Folge hat, dass ein Rechtsanspruch auf Hartz-IV-Leistungen ausgelöst wird, obgleich diese Frage seitens des Bundessozialgerichts vor kurzem erst an den europäischen Gerichtshof weitergereicht worden ist). »In ihrem Wahlprogramm fordert die CDU Maßnahmen gegen diesen Missbrauch und Schlepperbanden.« Das hört sich auf der einen Seite vielversprechend an für diejenigen, die von der Politik erwarten, dass irgendetwas gegen die vermeintliche oder tatsächliche Zuwanderung und ihren Folgen getan wird. Auf der anderen Seite  muss den Verantwortlichen doch klar sein, dass sie eine substantielle Änderung der bestehenden Rechtslage europarechtskonform nicht werden umsetzen können.
Auf der anderen Seite muss man aber auch zur Kenntnis nehmen, das vor allem die räumlich konzentrierte Zuwanderung in bestimmte Großstädte nicht ohne erhebliche Auswirkungen stattfinden kann. Darauf wurde nun der Bundespräsident Gauck aufmerksam gemacht, als er die Stadt Mannheim besuchte. Joachim Gauck war in die Mannheimer Neckarstadt gereist, um, so hat er das selbst gesagt, „der wirklichen Wirklichkeit zu begegnen“. Eine auf den ersten Blick skurrile Formulierung: „wirkliche Wirklichkeit“. Das sagt aber eine Menge. Also über „die“ Wirklichkeit. Über den Besuch des Bundespräsidenten in einer der Frontstädte der so genannten „Armutszuwanderung“ berichtet Roman Deiniger in seinem Artikel „Manchmal können nicht mal die Eltern lesen„. Mannheim steht in einer Reihe mit Dortmund und Duisburg. »Etwa 7.000 Bulgaren und Rumänen leben derzeit in der 300.000-Einwohner-Stadt, allein 2013 gab es 1.900 Neuanmeldungen.« Die nun wirklich nicht wohlhabende Stadt Mannheim versucht eine Menge, um mit den Realitäten klar zu kommen: »Es gibt „Integrationslotsen“ für erwachsene Einwanderer, es gibt die Vorbereitungsklassen und Schulsozialarbeiter für ihre Kinder.«

Der Weg in eine reguläre Klasse und eine hoffnungsvollen Schullaufbahn ist weit, das hat auch Gauck bei seiner Visite festgestellt. Dem Bundespräsidenten entfuhr der für seine Verhältnisse recht schlichte Satz: „Oh, dafür brauchen wir viele Lehrer.“ Den sollte man in Stein meißeln. Genau so ist es und je früher, desto besser. Das kann eine einzelne Stadt niemals leisten, das hätte schon längst Gegenstand eines nationalen Programms sein müssen. Man kann auch zu lange warten.
Das Problem ist doch: In vielen, den meisten Gegenden des Landes wurde noch nie bewusst ein Rumäne oder Bulgare wahrgenommen. Aber in manchen Städten ist das eben anders. Nehmen wir Duisburg als ein weiteres Beispiel für die Zuwanderung von Rumänen und Bulgaren: 
»In Duisburg leben mittlerweile rund 11.000 Bürger aus beiden Nationen, rund 600 Neuankömmlinge zählt die Stadt jeden Monat.«
Wir werden in den kommenden Wochen nicht mit der Realität der Nicht-Rumänen oder der Nicht-Bulgaren in Brandenburg oder Schleswig-Holstein konfrontiert werden, sondern die Ballung der Probleme in einigen wenigen Städten bietet hervorragendes Bildmaterial, um an viele Ängste und Abwehrneigungen appellieren zu können. Aber auch wenn man sich dieser Instrumentalisierung zu entziehen vermag, wird man nicht darum herum kommen, endlich auf ein konzertiertes Vorgehen der drei föderalen Ebenen zu drängen. 
Begreifen die Verantwortlichen eigentlich, was sich da unter und neben ihnen zusammenbraut, auch weil sie fast ausschließlich um ihre eigene Wirklichkeit kreisen und die „wirkliche Wirklichkeit“ nur hin und wieder in Form einer Stippvisite beehren?

Sozialleistungen für Zuwanderer innerhalb der EU: Das Spiel mit dem Feuer und die Löschversuche der EU-Kommission mit Papier. Immerhin 52 Seiten. Und das Feuilleton mischt auch mit

Das waren bestimmt hektische Tage im Headquarter der EU-Kommission in Brüssel. Die Stellungnahme von EU-Beamten zu einem vor dem EuGH anhängigen Verfahren, das von einem deutschen Sozialgericht weitergereicht wurde zur Klärung grundlegender europarechtlicher Fragen, die hinsichtlich der (Nicht)Anwendung sozialrechtlicher Bestimmungen aufgetreten sind, hatte zu Tobsuchtsanfällen in Bayern („Wer betrügt, der fliegt“) und unzähligen wütenden Leserbriefen und Forums-Kommentaren im Netz geführt, wurde doch die Botschaft transportiert, die abgehobene EU-Kommission wolle nunmehr die Scheunentore in die deutschen Sozialsysteme für die „Armutszuwanderer“ aus dem Südosten Europas gegen „unseren“ Willen öffnen. Schnell wurde aus einer Stellungnahme von Beamten in einem laufenden Verfahren, das sich noch über Monate hinziehen wird, quasi eine „Entscheidung“ und alle Welt konnte sich so richtig aufregen. Der Druck muss enorm gewesen sein (die sprichwörtliche Unempfindlichkeit der Kommission vor emotionalisierten Lagen in einigen Mitgliedsstaaten und das kurz vor den anstehenden Europawahlen aber auch), denn heute konnten wir so etwas wie eine „Kommunikationsoffensive“ der Kommission erleben (was nicht den üblichen Gepflogenheiten der EU-Beamten entspricht), denn der zuständige Sozialkommissar veröffentlichte einen „Leitfaden“ zu der mittlerweile teilweise außer Kontrolle geratenen Thematik der Sozialleistungen für Zuwanderer.

In »der Auseinandersetzung über die sogenannte Armutseinwanderung hat die Europäische Kommission am Montag ein Handbuch veröffentlicht, um den Mitgliedstaaten die Anwendung des geltenden EU-Rechts zu erleichtern. Darin wird unter anderem noch einmal ausgeführt, dass eine umfangreiche Prüfung nötig ist, um zu entscheiden, ob ein EU-Ausländer, der nicht arbeitet, in seinem Gastland Anspruch auf Sozialleistungen hat oder nicht. „Jeder Fall ist anders“, sagte der zuständige Sozialkommissar László Andor«, berichtet Nikolas Busse in seinem Artikel „Nachhilfe aus Brüssel“ in der Online-Ausgabe der FAZ.

In dem Handbuch wird beispielsweise dargelegt, wie der „gewöhnliche Aufenthaltsort“ eines EU-Bürgers bestimmt werden kann, was wiederum wichtig ist für die Zuständigkeitsfrage, welches Land ihnen Sozialleistungen zahlen muss. »Andor verwies darauf, dass es kein automatisches Aufenthaltsrecht in einem anderen EU-Land gebe, wenn jemand nach sechs Monaten keine Arbeit gefunden habe.«

Daniel Brössler konkretisiert das in seinem Artikel „EU-Kommission legt Leitfaden vor“ für die Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung mit einem Blick in das Handbuch der Kommission:

»Auf Seite 49 im neuen Leitfaden der EU-Kommission für die Regeln der Arbeit im EU-Ausland geht es um Herrn I. Der junge Mann ist alleinstehend und arbeitslos. Er stammt, das steht nicht im Leitfaden, vielleicht aus Rumänien, vielleicht aber auch aus Spanien. Auf der Suche nach Arbeit hat er seine Heimat verlassen. In einem anderen EU-Land übernachtet er bei einem Freund und hält sich als Straßenmusikant über Wasser. Bei den Behörden angemeldet hat er sich nicht. Herr I., so erläutert der Leitfaden, hat seinen Wohnsitz folglich immer noch in der Heimat. Konsequenz: Von Sozialleistungen im Gastland kann Herr I. nicht legal profitieren.«

Aber da gibt es ja nicht nur den Straßenmusikanten Herrn I.

»Herr J. ist wie Herr I. ledig und arbeitslos. Seinen Mietvertrag im Heimatland hat er gekündigt, seine gesamte Habe mitgenommen. Das Gastland, wo er bei einem Freund unterkommt, sei nun deshalb erst einmal als sein Wohnort anzusehen, heißt es im Leitfaden. Was aus Sicht der Kommission heißt, dass er nicht einfach von Sozialleistungen ausgeschlossen werden kann.«

Genau um die aus Sicht der EU-Kommission hoch relevanten Unterschiede zwischen den Fallkonstellationen des Herrn I. und des Herrn J. geht es auch bei dem anhängigen Verahren, das aus Deutschland an den EuGH überwiesen worden ist und in dem die deutsche Praxis überprüft wird. Eine arbeitslose Rumänin und ihr kleiner Sohn hatten in Leipzig erfolglos Hartz IV beantragt. »Pauschal ausgeschlossen werden dürfen EU-Ausländer von solchen Leistungen nicht, betonte die Kommission in ihrer Stellungnahme zu dem Verfahren – und löste damit in Deutschland heftige Reaktionen aus.«

Auf 52 Seiten erläutert die Kommission nun ihre Rechtsauffassung. Das Dokument im Original kann man hier als PDF-Datei abrufen:

European Commission: Practical guide: The legislation that applies to workers in the European Union (EU), the European Economic Area (EEA) and in Switzerland. Brussels, December 2013

Wie stark die EU-Kommission in den letzten Tagen unter Druck gestanden hat, endlich konkretisierende Aussagen vorzulegen, kann man auch der folgenden Aussage des Sozialkommissars Andor entnehmen, die in dem Artikel von Daniel Brössler zitiert wird: „Es gibt mit Sicherheit eine Grenze für das Aufenthaltsrecht in einem anderen Land, in dem man keiner Berufstätigkeit nachgeht“. So könne man etwa erwarten, dass jemand nach sechs Monaten herausgefunden habe, ob er auf dem Arbeitsmarkt eines anderen EU-Landes eine Chance habe.

Und das alles, seien wir ehrlich, wegen der instrumentalisierten Debatte über eine angebliche Masseneinwanderung von Rumänen und Bulgaren nach Deutschland und Großbritannien – nur ist die bislang ausgeblieben. Aber mittlerweile gibt es auch immer mehr Widerstand und Gegenpositionen, die dazu veröffentlicht werden. Stellvertretend dafür und mit einem durchaus relevanten Bezug zu sozialpolitischen Aspekten der Artikel „Der neue, schändliche Anti-Romanismus“ des Feuilletonisten Dirk Schümer in der FAZ. Sein Petitum: „Wer die Zahl ehrlich schuftender Rumänen und Bulgaren kennt, sieht, wie verlogen die Debatte ist“:

»Der eigentliche Skandal … ist: Die Massen sind längst mitten in Europa angekommen. Aber weil es sich um dringend benötigte Fachkräfte oder um mies bezahlte Schwerarbeiter handelt, interessiert es die Wähler und Medien in unseren Breiten nicht. Nur die vermeintlichen Roma, … die sorgen nun für Angst und Schrecken … Das Gesamtproblem der Zuwanderung ins Sozialsystem hingegen wird in doppelter Weise verlogen angegangen: Es handelt sich um die Einwanderung der Slumbevölkerung des Ostens in den saturierten Sozialstaat hier und die gleichzeitige Auswanderung der bestens ausgebildeten Ärzte, Ingenieure, Facharbeiter in unsere Arbeitsmärkte. Beides wird in einen Topf geworfen. Und die geglückte Einwanderung wird ignoriert, die missglückte Migration jedoch medial ausgebeutet.«

Und dann spitzt er die aus seiner Sicht zentrale Frage zu:

»… das Erschwindeln deutscher Sozialleistungen, ist weder ein Problem der Europäischen Union noch der rumänischen Bürger, sondern ganz schlicht der deutschen Behörden. Die Freizügigkeit der Menschen wird von Europa geregelt, das Sozialwesen nicht. Ein noch besser gepolsterter Wohlfahrtsstaat als der dänische hat gegen solche Zuwanderung zum Zweck der Geldabschöpfung deutliche Rechtsmittel und Kontrollstrukturen geschaffen (übrigens mit den Stimmen linker Parteien), weshalb es keinem Roma einfällt, in Dänemark beim Sozialamt vorzufahren.«

Und dann gibt uns Dirk Schümer noch einen weiteren Gedanken mit auf den Weg:

»Rund drei Millionen Rumänen haben ihre Heimat in den vergangenen zwanzig Jahren verlassen – etwa jeder achte Bürger. In Spanien funktioniert keine Baustelle, in Italien kein Markt, kein Altersheim ohne schlecht bezahlte, oft unwürdig wohnende Rumänen oder Moldawier. Und jeder zweite Absolvent einer internationalen Schule in Bulgarien ist schon mit Studienbeginn dem Vaterland verlorengegangen. Zwanzigtausend teuer ausgebildete Ärzte fehlen dem rumänischen Gesundheitssystem, weil sie nicht mehr für fünfhundert Euro daheim, sondern für das Vier- bis Achtfache in Frankreich, Großbritannien, Belgien oder Deutschland arbeiten wollen. Dieser Preis, den die ärmsten Staaten Europas in Form von Blut für die Union bezahlen, ist gewaltig.«

Auch Schümer konstatiert, dass es Bürger zweiter und dritter Klasse in Europa gibt, weist aber zugleich darauf hin, dass umgekehrt gerade die ärmsten Mitbürger oft genug die einfallsreichsten und bewundernswertesten sind. Der britische Komödiant Stewart Lee, so Schümer in seinem Artikel, weist darauf hin, dass die Zuwanderer als Nachtportiers oder Krankenschwestern gewöhnlich sehr viel besser Englisch beherrschen als das pöbelnde Analphabetendrittel seiner Landsleute.
Und am Ende konfrontiert er den Seehoferschen Imperativ „Wer betrügt, der fliegt“ (der ja auch immer – nur darüber wird nie gesprochen – eine entsprechende Verwaltung, die sich betrügen lässt, voraussetzt) mit einem interessanten, aber leider umplausiblen Gedankenspiel: Wenn mit jedem ausgewiesenen „Armutsflüchtling“ ein arrivierter Arzt oder Handwerker aus Rumänien oder Bulgarien wieder aus den reichen Ländern abreist, dann würde sich das Geschrei schnell reduzieren. Da die sich aber einzeln und oftmals auch erfolgreich durchschlagen in den Ländern, in denen das Geschrei am lautesten ist, werden wir zumindest noch bis zur Europawahl mit einer Fokussierung auf die andere Seite der Medaille leben müssen. Und hoffen, dass die Dauerschäden überschaubar bleiben.

Über die Zuckungen der Erregungsgesellschaft beim Thema Sozialleistungen für EU-Mitbürger – oder was eine Stellungnahme von EU-Beamten so auslösen kann. Ach ja – und die Frage nach den Profiteuren von dem, was als Missbrauch auf die Bühne tritt

Bekanntlich leben wir in einer medialen Erregungsgesellschaft. Dies kann man diese Tage erneut lehrbuchhaft studieren. Ausgelöst durch wahlkampfvorbereitende verbale Kraftmeierei aus Bayern – Wer betrügt, der fliegt – debattieren die Medien und dadurch angereizt Politik und viele Menschen erregt über eine angebliche Massenzuwanderung „in unsere Sozialsysteme“, vor allem die armen Mitbewohner des europäischen Hauses in Bulgarien und Rumänien vor den Augen habend. Und während man versucht, die komplexe Rechtslage hinsichtlich der Gewährung von Sozialleistungen an – ja wen eigentlich: EU-Ausländer oder nicht vielmehr EU-Mitbürger? – zu erörtern und darauf hinzuweisen, dass es zahlreiche offene Fragen gibt (vgl. hierzu den Blog-Beitrag Ja gibt’s das denn: Wenn Deutsche das Ausland „überlasten. Und ganz viele warten auf den EuGH vom 9. Januar 2014), da wird man scheinbar von „Entscheidungen“ oder besser: von Ereignissen, die als Entscheidungen kolportiert werden, überholt: Brüssel fordert Hartz IV-Prüfung für arbeitslose EU-Zuwanderer, berichtet Roland Preuß in der Süddeutschen Zeitung und sofort setzt ein medialer Tsunami ein, der zu abertausenden von Kommentaren und wutschnaubenden Ausritten des (partei)politischen Apparates führt. Preuß notiert in seinem Artikel: »Armutszuwanderer müssen nach Ansicht der EU-Kommission in Deutschland leichter Zugang zu Sozialleistungen erhalten. Dies geht aus einer Stellungnahme der Kommission zu einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hervor, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt.« Das hört sich klar und eindeutig an und so wurde und wird das auch kolportiert. Wie immer im Leben ist es aber ein wenig komplexer und auch irgendwie nicht so eindeutig, wie es nun daherzukommen scheint. 

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„Fachkräfte“ und „high potentials“ sollen zu uns kommen, aber nicht das menschliche „Strandgut“ der Globalisierung und des Wohlstandsgefälles

Auf der einen Seite wird der „Geld- und Menschensegen“ durch die Globalisierung bejubelt und mehr davon gefordert – gemeint sind die Gelder aus aller Herren Länder, die in der Schweiz deponiert oder in Deutschland investiert werden, wie aber auch und derzeit vor allem die „Fachkräfte“ und „high potentials“, die man angeblich so dringend braucht wegen der demografischen Entwicklung. Gerade Deutschland geht bereits wieder auf „Anwerbetour“ in andere Länder, rekrutiert in China 150 Altenpfleger, die demnächst in deutschen Pflegeheimen eingesetzt werden oder eine Stadt wie Mainz bestellt sich in Spanien 200 spanische Erzieherinnen, um den Fachkräftemangel in den eigenen Kitas zu bekämpfen. Von den vielen osteuropäischen Ärzten in deutschen Krankenhäusern ganz zu schweigen.

Auf der anderen Seite gibt es aber die aus dieser Sicht zu vermeidenden „Kollateralschäden“ der Zuwanderung – gemeint sind hier Menschen, die eben nicht den Nutzungsinteressen der Aufnahmeländer entsprechen (können), die vor allem kommen, weil sie in bitterer Armut leben müssen oder aber in welcher Hinsicht auch immer in ihren Herkunftsländern verfolgt werden. Die will man eigentlich nicht und zuweilen sagt man das dann auch ganz offen. So wie in dieser Woche und so geschehen in Deutschland und der Schweiz, zwei Ländern, die bislang grosso modo auf der absoluten Gewinnerseite der Globalisierung zu finden sind. Konsequenterweise wollen dann die Apologeten einer „gesteuerten“ Zuwanderung die Menschen am besten mit „Punkten“ in Attraktivitätsklassen einteilen und einladen, reinlassen, abblocken – oder aber eben „rausschmeißen“, wenn sie „unglücklicherweise“bei uns rein gekommen sind.

Damit wären wir bei der Wortwahl nicht irgendeines Außenseiters oder vermeintlichen Sprechers der „schweigenden Mehrheit“ angekommen, sondern bei dem Bundesinnenminister Friedrich (CSU) höchstselbst. So vermeldet die Süddeutsche Zeitung kurz und präzise: Friedrich will ausländische Sozialbetrüger „rausschmeißen“. Der Minister »kündigt nun einen harten Kurs „ohne großes Federlesen“ an«, schreibt Welt Online bereits im Untertitel ihrer Berichterstattung. Wieder einmal geht es um die Armutsflüchtlinge aus Bulgarien und Rumänien, die seit einigen Monaten aufgrund von Berichten aus einigen besonders hart davon betroffenen Kommunen wie Dortmund, Berlin usw. im Fokus einer sich – trotz aller differenzierenden und relativierenden Hinweise (so auch in einem Beitrag auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ am 4. März 2013) – verselbständigenden Debatte stehen.

Die Bundesregierung werde künftig mit Ausweisung und Einreiseverboten auf mutmaßliche Sozialleistungseinwanderer reagieren, so der Bundesinnenminister und die EU-Kommission habe Deutschland mitgeteilt, dass solche Sanktionen nach europäischem Recht erlaubt seien. Der Herr Minister möchte ausweisen und die davon Betroffenen mit einer Einreisesperre für eine „bestimmte Zeit“ belegen: „Wenn die dann irgendwo aufgegriffen werden, dann kann man ohne großen Federlesens sie wieder rausschmeißen, und das ist das Entscheidende“, mit diesen Worten wird der Bundesinnenminister in der Süddeutschen Zeitung zitiert. Und an dieser Sprache merkt man natürlich sogleich, dass es dem Herrn Minister vor allem um Wahlkampf geht, um die berühmte Lufthoheit über den Stammtischen. Das Problem ist nämlich, dass der Herr Minister hier vor allem eine Aktivitätssimulation in den Raum stellt, um die Emotionen eines Teils der Bevölkerung zu bedienen, die aber gerade im vorliegenden Fall der beiden Länder Rumänien und Bulgarien weitgehend eine Simulation bleiben muss, denn die Bürger dieser Staaten sind EU-Bürger, für die Freizügigkeit gilt, die nur bei „Betrügern“ eingeschränkt werden darf, so die EU-Kommission – und dazu muss man erst einmal einen Betrug beweisen. Und überhaupt – die „Beweislage“ der Bundesregierung, dass es in einem großen Umfang „Sozialleistungseinwanderung“ gebe, ist mehr als dünn und stützt sich – so die Ausführungen der Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag (Haltung der Bundesregierung zum Umgang mit EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern aus Rumänien und Bulgarien, Bundestags-Drucksache 17/13322 vom 26.04.2013) – im Wesentlichen auf die Zitation eines „Brandbriefs“ des Deutschen Städtetags vom Januar dieses Jahres. Konkret findet man in der Drucksache den folgenden Hinweis:

»Der Bundesminister des Innern stützt sich insoweit u. a. auf das Positionspapier des Deutschen Städtetages vom 22. Januar 2013, wonach es … „erhebliche Probleme mit einem großen Anteil der zuwandernden Menschen aus Südosteuropa“ gebe. Die Einreise erfolge „offiziell zum Zweck der Arbeitssuche“, jedoch komme eine Erwerbstätigkeit wegen der „schlechten Bildungs- und Ausbildungssituation sowie fehlender und mangelhafter Sprachkenntnisse“ und der „sozialisationsbedingten Erfahrungshorizonte“ nicht zustande. Schlepper nähmen „gegen ein hohes Entgelt die Vorbereitung der Kindergeldanträge und der Gewerbezulassungsverfahren“ vor und Zuwanderer versuchten „sich illegal Einkommen zu verschaffen, zu Dumpinglöhnen zu arbeiten oder der Prostitution sowie der Bettelei nachzugehen“« (Bundestags-Drucksache 17/13322, S. 18)

Das ist doch mehr als dünn. Entsprechend auch die Kommentierung von Peter Nowak in einem Beitrag bei Telepolis.

Nur scheinbar nicht in einem direkten Zusammenhang stehend eine andere Meldung, die uns aus der Schweiz erreicht: „Schweizer sind mit verschärftem Asylrecht einverstanden„, meldet beispielsweise „Zeit Online“: »Knapp 80 Prozent der Bürger haben eine Initiative gegen das neue Schweizer Asylrecht abgelehnt. Flüchtlinge können damit innerhalb von 100 Tagen abgewiesen werden.« Die politische Linke und Hilfsorganisationen für Migranten wollten das Gesetz mit dem Referendum nun zu Fall bringen, scheiterten aber mit ihrem Vorhaben mehr als deutlich. Ein Hintergrund ist sicher auch die wahrgenommene „Belastung“: »Die Schweiz rangiert bei der Aufnahme von Flüchtlingen unter den europäischen Staaten an vierter Stelle hinter Malta, Schweden und Luxemburg. Auf 332 Schweizer kommt ein Asylbewerber, im europäischen Durchschnitt ist es einer auf 625 Einwohner.« Derzeit warten etwa 48.000 Menschen in der Schweiz auf ihren Asylbescheid; die meisten stammen aus Eritrea, Nigeria, Tunesien, Serbien und Afghanistan.

Über einen ganz besonderen Aspekt mit Blick auf die Schweizer Behörden berichtet Jan Dirk Herbermann in seinem Artikel über die nun gescheiterte Initiative:

»Laut dem neuen eidgenössischen Asylgesetz aber können sie „renitente“ Asylbewerber in „besondere Zentren“ einweisen. „Asylsuchende, welche die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden“ oder den Asylprozess „erheblich stören“, müssen mit einem Zwangsaufenthalt in den abgeschirmten Zentren rechnen. Die „besonderen Zentren“ bilden die Eckpfeiler eines der schärfsten Asylgesetze in Europa – und sie lösen seit Monaten Entrüstung bei vielen Eidgenossen links der Mitte aus. Die Gegner des neuen Asylgesetzes warnen mit Blick auf die „besonderen Zentren“ vor einer „Schweiz der Lager“.«

Man muss allerdings fairerweise an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es bislang noch nicht zu der Einrichtung eines solchen „Lagers“ gekommen ist.

Beide Beispiele aber zeigen, dass die Luft dünner wird für Asylsuchende aus Drittstaaten wie für Armutsflüchtlinge innerhalb der EU. Aber aufhalten können wird man diese Wanderungsbewegungen nur schwer bis gar nicht. Und teilweise produziert man selbst das, was man jetzt wortaggressiv beklagt, womit wir wieder bei unserem Bundesinnenminister wären. Denn die Tatsache, dass sich viele Armutsflüchtlinge als Ein-Mann-„Selbständige“ anmelden, hat ja auch was mit dem Verbot einer legalen Beschäftigungsaufnahme zu tun, die Deutschland noch bis Ende dieses Jahres ausgereizt hat. Ab 2014 ist damit aber definitiv Schluss. Es Sollte allen klar sein – die Armuts-Afrikaner kann man möglicherweise noch eine ganze Weile auf dem Mittelmeer stoppen oder gleich auf nordafrikanischem Boden, aber die Armutsflüchtlinge innerhalb der EU werden sich nicht so einfach davon abhalten lassen, ihr Glück im „Erfolgsmodell“ Deutschland, so die regierungsamtliche Terminologie, zu suchen. Und mal ehrlich – würden wir das nicht auch versuchen, wenn wir nicht auf der Sonnenseite leben würden? Zumindest einige schon, sicher.