„Die“ Pflege mal wieder … Von Betrug und fehlender Kontrolle hin zu der eigentlichen Frage: Wie sichert man gute Pflege, wenn man sie überhaupt bekommt?

Eine gelungene Vorlage für die vielen Medien, die gerne mit skandalisierenden Headlines das eigene Publikum versorgen: Die Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland hat die Studie „Transparenzmängel, Betrug und Korruption im Bereich der Pflege und Betreuung“ in Berlin vorgestellt. Die Schwachstellen-Analyse stellt erhebliche Mängel fest: zu wenig Transparenz und Kontrollmöglichkeiten für die Betroffenen und jede Menge Möglichkeiten, die Abhängigkeit von Menschen mit Pflegebedarf wirtschaftlich auszubeuten.

„Die Vielzahl der Akteure und der gesetzlichen und Verwaltungsvorschriften macht es schwierig, Verantwortlichkeiten eindeutig zuzuordnen. Dadurch entstehen Einfallstore für Betrug und Korruption“, so wird Barbara Stolterfoht, Co-Autorin der Studie zitiert.

Entsprechend sind viele Berichte überschrieben: „Transparency legt Betrugsmaschen der Pflegebranche offen“ oder „Markt statt Ethik„, um nur zwei zu zitieren. So können wir bei Spiegel Online lesen:

»Die für die Untersuchung geführten Expertengespräche haben Transparency zufolge gängige Betrugsmaschen offengelegt, die sich aus den Milliardenausgaben für die soziale Pflegeversicherung speisten. Als Beispiel nannte die Organisation Fälle, in denen Ärzte von Pflegediensten Honorare für die Überweisung von Patienten erhielten. Auch „verkauften“ Pflegedienste lukrative Patienten an andere Pflegedienste. Weitere Fälle betrafen Sanitätshäuser, die an Heimleiter spendeten. Damit wollten sie sicherstellen, dass die Heimbewohner Rollatoren, orthopädische Schuhe oder sonstige Hilfsmittel aus ihrem Geschäft beziehen. Zudem soll es bei der Entscheidung über Pflegestufen vorgekommen sein, dass die zuständigen Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ein „Kopfgeld“ erhielten – wenn sie bei der Einstufung möglichst restriktiv vorgingen. Damit würden die Ausgaben der Pflegeversicherung gesenkt, heißt es in der Studie weiter.«

Thorsten Denkler beschreibt in der Süddeutschen Zeitung, über was wir hier reden: »In der Pflege sind Milliarden zu holen. Allein die gesetzliche Pflegeversicherung gibt jedes Jahr weit über 20 Milliarden Euro aus. Etwa die gleiche Summe kommt aus den Töpfen privater Versicherer, der Angehörigen und den Sozialämtern, die die Pflege für Bedürftige bezahlen müssen. Für die über 2,5 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland arbeiten heute gut eine Million Menschen als Pflegekräfte oder in der Verwaltung. Mehr als in der Automobilindustrie. Allerdings zu weit geringeren Löhnen.«

Konkret beklagt Transparency die mangelnde Kontrolle der Heimbetreiber, da es keine bundesweite Kontrolle geben würde. Interessant ist die folgende Formulierung im Beitrag von Denker:
»Die kriminelle Energie einiger Heimbetreiber kennt kaum Grenzen. Um etwa die Unterbringungskosten künstlich in die Höhe zu schrauben, wird das Heim-Gebäude einfach an einen Dritten verkauft und für viel Geld zurückgemietet. Die höheren Kosten werden den Patienten aufgebürdet. Idealerweise ist das dritte Unternehmen mit dem Pflegebetrieb geschäftlich verbunden. Am Ende bleibt dem Betreiber mehr Geld in der Kasse. Auf Kosten der Patienten.« Man muss sich allerdings an dieser Stelle fragen – ist das jetzt „kriminelle Energie“ oder sind das nicht eher typische Verhaltensweisen auf einem „Markt“? Wobei die Beantwortung dieser Frage in Richtung „Markt“ auf die eigentlichen Problematik in diesem Bereich hinführt, wo es um die Sorge-Arbeit mit nur sehr eingeschränkt oder gar nicht mehr beurteilungsfähigen Menschen geht.

Transparency fordert, ein deutschlandweites Register über Verstöße von Heimbetreibern einzurichten und die Sanktionsmöglichkeiten der Sozialämter zu erleichtern. Außerdem müssten Behörden die wirtschaftliche Zuverlässigkeit und fachliche Qualität von Pflegediensten durch „regelmäßige unangemeldete Kontrollen sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich“ überprüfen. Da stellt sich natürlich die Frage: Haben wir das nicht schon? Gibt es nicht den „Pflege-TÜV„, der diese Prüfung sowohl der stationären und der ambulanten Pflegedienste gewährleisten soll? Und gibt es nicht die Heimaufsicht? Da sind wir mit dem „Pflege-TÜV“ schon bei der nächsten Baustelle, denn parallel zur Veröffentlichung der Studie von Transparency Deutschland wurde bekannt, dass es nach zähen Verhandlungen zu einer „Reform“ des Systems der Pflegebenotung kommen soll.
»Pflegekassen und Heimbetreiber hatten sich nach dreijährigen Verhandlungen bereits im Juni in einer Schiedsstelle geeinigt. Ende vergangener Woche lief die Widerspruchsfrist ab. „Jetzt wird der Schiedsspruch ausformuliert und veröffentlicht“, hieß es in Verhandlungskreisen.

Der 2009 eingeführte Pflege-TÜV bewertet über 10.400 Pflegedienste und Pflegeheime in Deutschland wie in der Schule von „sehr gut“ bis „mangelhaft“ – und stellt die Noten ins Internet. Allerdings kritisieren Politiker, Patientenvertreter und Experten seit langem, dass der TÜV ein geschöntes Bild zeige. Es kämen zu viele Bestnoten heraus.

Schlechte Heime können sehr gute Noten bekommen, obwohl sie in wichtigen Kriterien wie Vorbeugung gegen das gefürchtete Wundliegen oder Medikamentenversorgung mangelhaft abschneiden. Das liegt daran, dass die endgültige Pflegenote aus Dutzenden Kriterien errechnet wird, die alle gleich stark gewichtet werden«, so der Beitrag „Pflege-TÜV wird verschärft„. Künftig sollen unter den bisher 82 Kriterien für die Bewertung eines Heims die Ergebnisse in den 21 zentralsten Punkten im Internet besonders hervorgehoben werden. Darunter die Frage, ob es in einem Heim Vorbeugung gegen Wundliegen gibt, ob die Flüssigkeitsversorgung angemessen ist und die Notwendigkeit von freiheitseinschränkenden Maßnahmen regelmäßig überprüft wird. Die Krankenkassen konnten sich aber nicht mit der Forderung durchsetzen, dass diese Kriterien bei der Benotung eines Heims stärker gewichtet werden. Andere Kriterien sollen künftig nicht mehr aufgeführt werden, etwa ob es „jahreszeitliche Feste“ gibt. Außerdem wird bei mehr Bewohnern als bisher die Pflege überprüft, vor allem bei mehr schweren Fällen der Pflegestufe drei. Auch sollen die Noten wegen geänderter Berechnung etwas schlechter ausfallen können. Einrichtungen, die heute mit 1,4 abschneiden, sollen etwa eher eine gute 2 bekommen, so der Bericht „Pflege-TÜV prüft alles außer Pflege„.

Trotz heftigster Kritik von allen Seiten hat es also drei Jahre gedauert, bis sich Pflegekassen und Heimbetreiber dieser Tage auf eine sehr bescheidene Nachbesserung des so genannten Pflege-TÜVs einigen konnten. Eine grundsätzliche Infragestellung dieses Instrumentariums ist damit nicht verbunden.  Man kann durchaus von einem „faulen Kompromiss“ sprechen.

Die eigentliche Frage muss doch lauten: Ist dieses Instrument einer formalen, punktuellen Überprüfung wirklich geeignet, die Pflegequalität zu sichern? Es handelt sich hier um ein höchst komplexes Feld der Sorge-Arbeit mit Menschen, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Entscheidend sind die täglichen Abläufe und die Haltung der Menschen, die diese Sorge-Arbeit zu machen haben. So notwendig externe Kontrollen sind und auch in Zukunft bleiben werden – sie können niemals eine innere Qualitätsentwicklung ersetzen, die aber – das sei hier besonders betont – nicht sogleich deformiert werden darf durch die wieder von außen determinierte Ausrichtung des Systems und der in diesem arbeitenden Menschen auf formale Kriterien, die dann möglichst gut zu dokumentieren sind, was wieder enorme Ressourcen bindet, die bei den eigentlichen Kernprozessen in der Pflege fehlen. Und Kontrolle entfaltet dann ihre besondere Schlag- und Wirkkraft, wenn sie in der täglichen Praxis erfolgt seitens der Menschen, die als Angehörige oder als Quartiersbewohner in die Heime kommen. Es geht also um die Herstellung einer umfassenden Verantwortungsgemeinschaft vor Ort, so dass die Öffnung der Heime gegenüber dem Sozialraum, in dem sie angesiedelt sind, ein entscheidendes und eigenständiges Qualitätsmerkmal darstellt.

In diesem Zusammenhang muss dann aber auch auf eine gewisse Unwucht der öffentliche Wahrnehmung und Diskussion hingewiesen werden: Immer wieder werden angebliche und tatsächliche Missstände in den Heimen angeprangert, schon viel weniger die Situation in der ambulanten oder erst recht der häuslichen Pflege, wo natürlich ebenfalls vieles nicht gut läuft. Auch die immer stärker expandierenden Wohngemeinschaften verschwinden gerade in einem „schwarzen Loch“ der Nicht-Beachtung und Nicht-Zuständigkeit. Die Heimaufsicht? Der MDK? Wer kümmert sich genau um diese „Mini-Heime light“?

Und auch die von Transparency beschriebenen Ausformungen „marktlogischen“ bis hin zu betrügerischem Verhalten in der ambulanten Pflege – dass beispielsweise Leistungen abgerechnet werden, die gar nicht erbracht worden sind – hängt doch nicht nur an der Schlechtigkeit der beteiligten Akteure, sondern hat zumindest strukturelle Treiber, so ein Finanzierungssystem, das auf abrechenbare Einzelleistungen basiert und Pflege konsequent zu einer Minutenpflege zerstückelt. Man darf sich nicht wundern, wenn sich die Menschen dann der damit verbundenen Logik anpassen. Hier würde beispielsweise der Blick in andere Länder und Systeme helfen, so in die Niederlande, um nur einen Hinweis anzudeuten.

Und natürlich muss man bei der ganzen Debatte auch sehen, dass es sich bei der Pflege und Betreuung eben um personenbezogene soziale Dienstleistungen handelt, die nur marginal oder oftmals gar nicht einer Rationalisierung und damit einer Produktivitätssteigerung unterworfen werden können. Insofern ist die Personalfrage eine entscheidende – und bereits heute knirscht es gewaltig und der Fachkräftemangel beginnt sich immer stärker auszuprägen. Die hinreichende Ausstattung mit Personal wird sicher die Kardinalfrage im System. »Die Arbeitgeber fordern 50 000 zusätzliche Stellen in der Pflege. Bis Ende 2014 sollen – wie einst schon von der Politik geplant – 25 000 Helfer zu Fachkräften qualifiziert werden. Die Hilfskräfte hätten oft jahrelange Berufserfahrung, würden Abläufe kennen und seien motiviert, sagte Arbeitgeberpräsident Greiner. Er verlangt außerdem 25 000 zusätzliche Betreuer für Demenzkranke – also Helfer die sich etwa durch Spaziergänge oder Vorlesen mit Altersverwirrten beschäftigen. Die Betreuer sollten den Mindestlohn beziehen, den auch die Helfer bekommen (derzeit acht Euro Bruttostundenlohn im Osten, neun im Westen). Das wären rund 500 Millionen Euro im Jahr, die wohl aus dem Bundeshaushalt kommen müssten«, so  Hannes Heine und Rainer Woratschka in ihrem Beitrag „Das Dilemma mit der fremden Hilfe„.

Die neue Studie von Transparency Deutschland beleuchtet – und das sei abschließend noch angeführt – noch einen weiteren wichtigen Bereich: Untersucht wurde der Bereich der rechtlichen Betreuung – eine echte „Boombranche“:

»Die Zahl rechtlicher Betreuungen ist von 420.000 (1992) auf rund 1,3 Millionen (2008) gestiegen; zugleich stiegen die Kosten von fünf Millionen Euro auf 640 Millionen. Für die selbstständige Tätigkeit als Berufsbetreuer gibt es keine berufsrechtlich definierten Zugangskriterien. Die Berufsbetreuer unterstehen lediglich der gerichtlichen Kontrolle durch Rechtspfleger. Ein Rechtspfleger ist im Durchschnitt für die Aufsicht von fast 1.000 Verfahren zuständig. Die Einfallstore für Betrug und Korruption sind im Lauf einer Betreuung vielfältig, wie zum Beispiel bei der Haushaltsauflösung, abzuwickelnden Immobiliengeschäften oder der Vermögensverwaltung.«

Transparency Deutschland fordert im Bereich der rechtlichen Betreuung:

  • Die Aufsicht und Kontrolle im Bereich der rechtlichen Betreuung ist erheblich zu stärken, auch durch zusätzliche Personalressourcen im Bereich der Rechtspflege.
  • In den Amtsgerichtsbezirken sind Register für Berufsbetreuer sowie Datenbanken zum amtsgerichtsübergreifenden Abgleich der berufsbetreuerbezogenen Fallzahlen, aber auch zu Beschwerden und Verstößen einzurichten. 
  • Bei gerichtlicher Anordnung der Ermittlung des Vermögens von zu Betreuenden ist diese Aufgabe von der laufenden Betreuung zu trennen und durch die Rechtspfleger durchzuführen. Das Vier-Augen-Prinzip von Betreuer und Rechtspfleger ist strikt anzuwenden und eine genaue Dokumentation zum Prozess der Ermittlung zu erstellen.
  • Berufsbetreuer sind nach dem Verpflichtungsgesetz zu verpflichten. Damit würden sie als Amtsträger den strengen strafrechtlichen Regeln der Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung unterworfen.

Diese Forderungen sind richtig und sollten unterstützt werden.

Von einem Pflegebeirat mit „Modellierungen, die im Prinzip beliebig modellierbar sind“ und einem Betreuungsgesetz, das vergleichbare Probleme hat

Der Pflegebeirat der nunmehr in den letzten Zügen liegenden Bundesregierung sollte einen „Bericht zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff“ erarbeiten, um endlich nach Jahren des Wartens einen solchen für die nächste Reform der Pflegeversicherung zu haben – und der Beirat wird Ende Juni auch einen Bericht mit über 200 Seiten dem Bundesgesundheitsminister Bahr (FDP) überreichen, allerdings ohne Erfüllung der gestellten Aufgabe. Denn der Beirat kann sich nicht auf gemeinsame Empfehlungen zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff einigen. Übrig bleibt – wie Heike Haarhoff schreibt – „Klientelpolitik„. Der Pflegebeirat hatte in dieser Woche erneut getagt, um eine Endfassung des bereits zum sechsten Mal überarbeiteten Berichts auf den Weg zu bringen. Die Frustration bei einigen muss erheblich sein, wie dieser zynische Kommentar eines Beiratsmitgliedes verdeutlicht: „Wir legen nur Modellierungen vor, die im Prinzip beliebig modellierbar sind“. Ah ja.

Man kann dem Beitrag allerdings auch zwei grundsätzliche Probleme entnehmen, die hier besonders interessieren:

1.) Zum einen wird aus dem Beirat die Nicht-Lieferung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs damit begründet, dass sich der Bundesgesundheitsminister konstant geweigert habe, konkrete Finanzeckpunkte zu definieren. »Ohne diese seien seriöse Aussagen über Leistungsansprüche in den künftig geplanten fünf Pflegegraden nicht möglich.« Das mag stimmen hinsichtlich der Quantifizierung der Kosten, die dann auf die Pflegeversicherung zukommen würden, aber doch nicht für die eigentliche Aufgabe, einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff zu definieren, der in der Lage sein muss und sollte, die von allen beklagte Ungleichbehandlung psychisch-kognitiver Einschränkungen gegenüber körperlichen Defiziten zu beseitigen oder wenigstens auf ein erträgliches Maß abzumildern. Wenn man das gemacht hätte, dann müsste die Politik entscheiden, wie viel Geld sie dafür zur Verfügung stellen muss und ob sie das will. Insofern hat der Beirat sich selbst ins Knie geschossen, in dem er auf Budgetvorgaben gewartet hat, um mit diesen dann konkrete Ausgabenvolumina zu berechnen. Umgekehrt wäre der Weg sinnvoller gewesen.

2.) Zum anderen und noch grundsätzlicher zeigt sich am gescheiterten Pflegebeirat wieder einmal die „korporatistische Falle“, die immer dann und immer stärker zu beklagen ist, wenn Akteure mit ihren institutionenegoistischen Interessen aus dem Feld über das Feld in einer grundsätzlichen Frage etwas empfehlen soll. Vor diesem Hintergrund ist das Ergebnis nun keineswegs verwunderlich, sondern irgendwie zwangsläufig: Arbeitgebervertreter haben darauf gepocht, dass der Arbeitgeberanteil in der Pflegeversicherung nicht erhöht wird;  Interessenvertreter der stationären Einrichtungen beharren auf Bestandsschutz für ihre Klientel bei einer möglichen Angleichung der Geldbeträge für die einzelnen Pflegestufen zwischen ambulant und stationär. Und das es den Kommunen wichtig war, dass ein Mehrkostenaufwand für bessere Pflege nicht zulasten der Sozialhilfe geht, lässt sich auch ohne viele Sitzungen ableiten. So wird das natürlich nichts, aus der Aggregation derart komplexer Einzelinteressen kann nichts besseres Neues entstehen, sondern ganz im Gegenteil nur faule Kompromisse.

Der entscheidende Punkt ist neben der skizzierten „korporatitischen Falle“ natürlich, dass die Betroffenen wieder einmal Jahre verloren haben und die Nicht-Eingung dazu führen wird, dass weitere Jahre ins Feld ziehen werden, bevor es eine Einigung geben wird, denn jetzt muss die neue Bundesregierung wieder von vorne anfangen.

Eine zumindest partielle Verschlechterung für die Betroffenen haben wir auch in einem benachbarten und gleichsam äußerst sensiblen Bereich: dem Betreuungsrecht. Und auch hier wieder vergleichbare grundsätzliche Dilemmata: Mit den Stimmen von Union, FDP und SPD hat der Bundestag der Änderung des Betreuungsgesetzes zugestimmt. Also eine „große Koalition“ – das hört sich nach einem großen Konsens an. Wo liegt hier das mögliche Problem? „Mehr Zuwendung für Betreute – ohne mehr Geld„, diese Überschrift bringt es auf den Punkt. Wobei der Ansatz doch erst einmal positiv daherkommt:

»Mit der nun zum 1. Januar 2015 beschlossenen Gesetzesänderung möchte die Regierung die Zahl gesetzlicher Betreuungen senken. Die Betreuungsbehörden müssen künftig zu jedem Einzelfall einen Bericht vorlegen, aus dem hervorgeht, ob Menschen sich tatsächlich in allen Rechtsbelangen vertreten lassen müssen oder ob eine Vermittlung an Betreuungsvereine oder an lokale Beratungsstellen wie Mietervereine ausreicht.«

Eine genauere Betrachtung der individuellen Bedürfnisse muss doch im Interesse aller sein und das kann nicht das Problem sein. Das liegt auf einer anderen Ebene, die sich erschließt, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass in diesem Fall eine schwarz-gelbe Gesetzesänderung auf Zustimmung stößt im rot-grün dominierten Bundesrat. Die Erklärung hierfür ist simpel: »Seit Jahren beklagen die Landesjustizminister sich über hohe Betreuungskosten.« Es geht schlichtweg um Ausgabegrößen in den Länderhaushalten – eine vergleichbare Konstellation hatten wir auch bei der Prozesskostenhilfe, die ebenfalls die Länderetats belastet. So weit, so nachvollziehbar. Aber wo liegt jetzt das Problem, dass es nach Meinung von Kritikern zu einer Verschlechterung der Situation für die Betroffenen kommen kann?

Die Regierung macht ein Änderungsgesetz unter Zustimmung des Bundesrates und nennt die dort vorgenommenen Änderungen „kostenneutral“ – ein Begriff, bei dem sämtliche roten Lichter angehen müssen, wenn das Änderungsgesetz gleichzeitig neue Aufgaben definiert, die also mit den alten Mitteln umgesetzt werden sollen. Die Betreuungsbehörden werden mit einem erheblichen Mehraufwand an Kosten, Personal und Zeit konfrontiert, um die als Verbesserung ausgewiesenen Maßnahmen umsetzen zu können. Da kann es nicht überraschen, dass der Deutsche Landkreistag bereits verlautbart, dass die Kommunen zusätzliche Mittel von den Ländern einfordern werden (müssen), sogleich garniert mit einer Klagedrohung gegen die Länder. Und auch wenn das Geld fließen würde – ein weiteres Problem wird benannt: Die notwendige Einstellung neuen Personals wäre konfrontiert mit dem Mangel an geeignetem Personal für diese nicht trivialen Aufgaben.
Im schlimmsten Fall wird die Zahl der Betreuungen wie gewünscht reduziert, aber die Betroffenen werden auf „niedrigschwellige“ Angebote verwiesen, die ihrerseits aber gar nicht in der Lage sein werden, die damit verbundenen Aufgaben auch mit Leben zu füllen. Am Ende wird zahlenmäßiger Vollzug gemeldet, aber der eigentlich individueller zu berücksichtigende Fall geht verloren im löchrigen Netz der Nicht- oder Teil-Angebote vor Ort.

Auch hier wieder müssen wir konstatieren, dass erneut Änderungen im sozialrechtlichen und sozialpolitischen Bereich nicht mehr zuerst von der Sache gedacht werden, um daraus dann die möglichen Finanzfolgen zu bestimmen und darüber dann offen zu streiten, sondern man geht von einem Finanzziel aus und versucht, die Systeme und die Menschen entsprechend zu modellieren, dass sie passen. Aber wehe, wenn nicht. Dann haben die ein Problem mehr.