Viele dunkle Wolken wie auch einige Lichtblicke in der großen weiten Welt der Pflege. Und die Rechtsprechung als Notnagel auf der Rutschbahn nach unten

Begeben wir uns auf eine kleine Rundreise durch die Berichterstattung über die große weite Welt der Pflege. Unter der knappen, aber aussagefähigen Überschrift Pflege: Krank gespart finden wir solche Hinweise: »Die Hilferufe sind kurz und sachlich. Doch was die Formulare erzählen, klingt bedrohlich: „Gefährdung des Personals durch eingeschränkte Hygiene“, heißt es in einem von ihnen. In einem anderen Dokument steht: „Zeitnahe Medikamenten-Gabe nicht möglich.“ Oder gar: „Pat. postoperativ kollabiert, Präsenz beim ersten Aufstehen konnte nicht gewährleistet werden, → Rea.“ Was bedeutet, dass ein frisch operierter Patient zusammengebrochen war und wiederbelebt werden musste, weil niemand bei ihm war, als er versuchte, das erste Mal selbständig aufzustehen.«

Die Sätze stammen aus internen Dokumenten deutscher Krankenhäuser. Es sind sogenannte Überlastungs- oder Gefährdungsanzeigen, so Kai Biermann in seinem Artikel. »Verzweifelte Pflegekräfte beschreiben darin ihren frustrierenden Alltag und immer wieder auch lebensbedrohliche Situationen. Ob Unfallchirurgie, Psychiatrie oder Intensivstation – das Problem ist überall das gleiche: Zu wenige Krankenschwestern und Pfleger müssen sich hierzulande um zu viele Patienten kümmern. Solche schriftlichen Gefährdungsanzeigen sind ihr Versuch, ihre Arbeitgeber auf das tägliche Drama hinzuweisen. Sie fordern endlich Hilfe, für sich und für ihre Patienten.«

Das Politikmagazin „Report Mainz“ hat das in seiner Sendung am 28.11.2017 aufgegriffen: Pflege im Ausnahmezustand: Eine Intensivstation schlägt Alarm, so ist der Beitrag überschrieben: „Extrem gefährliche Pflege“ durch Personalmangel: Das sind die Vorwürfe, die Pflegekräfte der Intensivstation des Diakonie-Klinikums in Stuttgart erheben. 120 Überlastungsanzeigen haben die Pflegekräfte der Intensivstation in den vergangenen Jahren verfasst – und sie sind ohne offensichtliche Wirkung geblieben. Der Personalmangel ist allerdings kein Einzelproblem. Gegenüber „Report Mainz“ berichten Pflegekräfte von drei weiteren Stuttgarter Kliniken von gravierender Patientengefährdung aufgrund von Personalmangel.

Dazu passen dann leider auch solche Meldungen: Dramatischer Hilferuf an Uniklinik. Man muss das einfach mal auf sich wirken lassen:

»Die Pflegekräfte der onkologischen Station am Universitätsklinikum des Saarlands sind offenbar überarbeitet und haben der Klinikleitung ein Ultimatum gestellt. „Die Pflegekräfte können nicht mehr. Sie warnen vor gefährlicher Pflege und möchten ihre Gesundheit nicht länger gefährdet wissen“, gab Verdi-Gewerkschaftssekretär Michael Quetting in einer schriftlichen Mitteilung bekannt. Demnach fordert die Station die Klinikleitung auf, ihr 23 Stellen mit examinierten Pflegekräften zuzuteilen. Geschieht dies nicht, wollen die Pflegekräfte ihren Dienst nur noch nach Vorschrift leisten. Das heißt, niemand wird mehr, „aus seiner Freizeit in den Dienst kommen, niemand mehr gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen“, sagt Dennis Dacke, Sprecher des Verdi-Landbezirks.«

Die Station habe das Ultimatum bereits am 4. Oktober gestellt. Sie fordert mindestens sechs Pflegekräfte für die Frühschicht, fünf für die Mittelschicht und zwei für die Nachtschicht (6-5-2). Die Uniklink habe daraufhin eine Mindestbesetzung von 5-4-2 ab 1. Januar zugesichert. Die Beschäftigten lehnen diesen Vorschlag ab, denn dadurch würde die absolute Notbesetzung gleichsam zur Normalbesetzung. Aktuell liege die Besetzung teilweise unter der Notbesetzung. Dass nachts eine Pflegekraft allein arbeitet, sei keine Seltenheit.

Von der Klinikleitung gab es noch keine Stellungnahme, sie war nicht erreichbar.

Man könnte das jetzt mit zahlreichen weiteren Beispielen fortführen, die alle aufzeigen, wie dramatisch der bereits bestehende Personalmangel in vielen Krankenhäusern ist.

Aber es gibt auch kleine Lichtblicke, die zeigen können, dass es Sinn macht, sich gewerkschaftlich zu organisieren und den Druck der vielen einzelnen Pflegekräfte zu kollektivieren und in Forderungen an die Arbeitgeber zu verdichten. Welche Folgen so ein Vorgehen haben kann, lässt sich beispielsweise diesem Artikel entnehmen: Knoten geplatzt: UKGM schafft 100 neue Stellen. Es geht um die Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, die sich in Trägerschaft der privaten Rhön Klinikum AG befindet.

»Mit zwei Warnstreiks hatten die Beschäftigten des UKGM die Aufnahme von Tarifverhandlungen erzwungen. Am Montagabend kam es zu einer Einigung im Tarifstreit.« Demnach habe sich das Klinikum verpflichtet, „100 neue Stellen in der Pflege, im Funktionsdienst und in weiteren Bereichen zu schaffen“, wird Verdi-Verhandlungsführer Stefan Röhrhoff zitiert.

Auch gebe es nun Regelungen für ein kurz- und langfristiges Ausfallmanagement, das festlegt, wie der Arbeitgeber darauf reagiert, wenn Beschäftigte ausfallen. Über die Stellen werde vierteljährlich über eine paritätisch besetzte Clearingstelle entschieden. Die Laufzeit des Tarifvertrags beginne am 1. Mai kommenden Jahres und ende am 31. Dezember 2019 – „denn wir gehen davon aus, dass es danach eine gesetzliche Regelung zum Personalmindeststandard geben wird, ansonsten wird nachverhandelt“, erläuterte Röhrhoff.

Bereits in den vorherigen beiden Verhandlungsrunden hatte die Geschäftsführung des UKGM den Forderungen zugestimmt, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen und einen Outsourcing-Schutz sowie die Übernahme der Auszubildenden gebe. Man kann also durchaus was erreichen.

Interessant und anschlussfähige an die alle betreffende Diskussion ist der Hinweis auf die geplante „gesetzliche Regelung zum Personalmindeststandard“. Hierzu wurde in diesem Blog bereits mehrfach berichtet, vgl. dazu den Beitrag Personalausstattung in der Pflege als Thema im Bundestag: So geht es nicht weiter und es muss sich was ändern. Aber wie? vom 23. November 2017. Am Ende der bisherigen Koalition von CDU/CSU und SPD wurde in einem ihrer letzten Gesetze beschlossen, Personaluntergrenzen für den Krankenhausbereich einzuführen – bzw. für bestimmte Pflegebereiche, denn Untergrenzen sollen nur in „pflegesensitiven Bereichen“ gelten (vgl. dazu am Beispiel der Intensivpflege die Beiträge Eigentlich könnt ihr zufrieden sein. Oder doch nicht? Eine Studie zur Intensivpflege. Ein Lehrstück zu unterschiedlichen Wahrnehmungen der Pflegewelt vom 28. Juli 2017 sowie Immer diese Studien. Und die so wichtige Kritik daran. Die Intensivpflege in deutschen Krankenhäusern als Beispiel vom 31. August 2017).

Welche „pflegesensitiven Bereiche“ das sein sollen, hat die „Selbstverwaltung“ zu bestimmen, bevor dann überhaupt über die konkrete Ausgestaltung der Personalmindeststandards verhandelt wird. Das wurde und wird kritisiert, vor allem, weil hier nur die Vertreter der Krankenhäuser mit denen der Krankenkassen und Krankenversicherungen verhandeln.

Dies wird auch deshalb kritisiert, weil sowohl die Krankenhausträger wie auch die Krankenkassen bislang immer auf der Bremse standen, wenn es um verbindliche Personalvorgaben ging. Eine Vorgabe existiert bislang nur für neonatologische Intensivstationen, also für Frühgeborenenstationen. Allerdings wurde sie durch eine Übergangsregelung so verwässert, dass die Kliniken die Anforderung bis Ende 2019 nicht erfüllen müssen.

Der Gesetzgeber fordert nun von den Krankenhäusern, dass sie sich bis Ende Juni 2018 für alle anderen Bereiche selbst verpflichten, „Personaluntergrenzen für sogenannte pflegeintensive Bereiche“ einzuführen. Seit Monaten verhandelt die Deutsche Krankenhausgesellschaft mit dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV-SV) darüber, was pflegeintensive Bereiche überhaupt sind.

Vor kurzem wurde dieses Verhandlungsergebnis bekannt: DKG und GKV-SV einigen sich auf Personaluntergrenzen, wobei die Überschrift mehr als verkürzt ist, denn man hat sich nur auf die Bereiche verständigt, für die dann Personaluntergrenzen zu vereinbaren sind: »Es handelt sich um folgende sechs Bereiche, auf die sich die Deutsche Krankenhaus-Gesellschaft (DKG) und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) … geeinigt haben:

  • Geriatrie
  • Neurologie
  • Herzchirurgie
  • Intensivstationen
  • Kardiologie
  • Unfallchirurgie

Welche Personalvorgaben in der Pflege künftig im Detail gelten sollen, müssen DKG und GKV-SV laut gesetzlichen Vorgaben bis zum 30. Juni 2018 vereinbart haben, sonst droht eine Ersatzvornahme des Bundesgesundheitsministeriums (BMG).«

Natürlich wird nicht nur der eine oder andere die Frage aufwerfen, warum denn nun dieser Ausschnitt aus der Krankenhauswelt. Warum nicht auch Personaluntergrenzen für internistische Stationen oder warum nicht für die Kinder- und Jugendmedizin? Unabhängig davon kann man durchaus grundsätzlich den ganzen Ansatz mit den Personaluntergrenzen in Frage stellen und darauf hinweisen, dass das eben nur die Definition der unbedingt erforderlichen Personalmindestausstattung ist, wir aber in Wirklichkeit ein umfassendes Personalbemesungssystem benötigen, das die Aufgabe hätte, gute pflegerische Arbeit abzubilden, nicht irgendwelche Mindestausstattungen.
Und selbst die Geburt möglicher Personaluntergrenzen für nur einige Bereiche schleppt sich seit Jahren dahin. Was natürlich auch und gerade mit den finanziellen Auswirkungen zu tun hat, letztendlich mit der Konstruktionslogik des bestehenden Krankenhausfinanzierungssystems über Fallpauschalen, die auf DRGs basieren und die eben eine Pauschale abbilden für den gesamten Prozess. Vgl. dazu bereits aus dem Jahr 2014 den Beitrag Pflegenotstand – und nun? Notwendigkeit und Möglichkeit von Mindeststandards für die Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal (08.09.2014).

Wie kann es gelingen, gerade im Pflegebereich für genügend Personal zu sorgen – unter der Vorgabe, das bestehende Vergütungssystem im Krankenhausbereich nicht grundlegend zu verändern? Angesichts der Personalnot in den Kliniken (die eben auch durch die Anreize aus dem Vergütungssystem ausgelöst wird) muss das Plädoyer in Richtung auf eine gesetzliche Personalbemessung hinauslaufen. Diese könne am ehesten mit Hilfe von Systemen entwickelt werden, die den tatsächlichen Pflegeaufwand erfassen. Das ist kein grundlegend neuer Ansatz. Erfahrungen mit der PPR zeigten, dass solche Instrumente ohne weiteres ins DRG-System einzufügen sind. Die Pflege-Personalregelung (PPR) wurde 1993 eingeführt, um die Leistungen der Pflege transparenter zu machen und eine Berechnungsgrundlage für den Personalbedarf zu haben. Experten gingen damals davon aus, dass sich durch konsequente Anwendung der PPR bundesweit ein Personalmehrbedarf im fünfstelligen Bereich ergeben würde. Als sich abzeichnete, dass die daraus resultierenden Mehrkosten nicht zu tragen sind, wurde die Pflege-Personalregelung schnell wieder ausgesetzt. Das ist aber eine politische Entscheidung, keine methodische Blockade der Möglichkeit, das erforderliche Pflegepersonal in Form harter, also gesetzlicher Vorgaben zu bestimmen.

Auch auf der Landesebene tobt der Konflikt, Beispiel Saarland: Streit um Krankenhausplan: „Wo sind die 1000 Pfleger, Frau Bachmann?“, so ist ein Artikel der Saarbrücker Zeitung überschrieben. Konkret geht es um das Krankenhaus-Gutachten der CDU/SPD-Landesregierung.

aktiva – Beratung im Gesundheitswesen (2017): Empfehlungen zur Personalbesetzung im medizinischen/pflegerischen Bereich der Krankenhäuser im Saarland. Gutachten zur Vorbereitung des Saarländischen Krankenhausplans 2018 – 2025 für das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Köln, November 2017

Im Koalitionsvertrag hatte die saarländische Landesregierung versprochen, im Krankenhausplan verbindliche Personalvorgaben zu machen. Nun gibt es das zitierte Gutachten und darin heißt es: Das würde nicht gehen.

In dem am 22. November 2017 veröffentlichten Gutachten wird der Landesregierung empfohlen, die Ergebnisse der bundesweiten Verhandlungen über Personaluntergrenzen in sogenannten pflegesensitiven Bereichen abzuwarten und selbst keine verbindlichen Vorgaben zu machen. Begründet wird dies unter anderem damit, dass es in Deutschland bislang »keine relevanten Studien (gibt), die Aussagen zum Zusammenhang zwischen Personalausstattung und Ergebnisqualität  im Krankenhaus zulassen«. Das nun ist gelinde gesagt eine mehr als steile These der „Experten“. Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten: Gutachten zum Krankenhausplan Saar: Das ist Humbug, so beispielsweise eine Stellungnahme der Gewerkschaft Verdi.

An dieser Stelle muss man darauf hinweisen, dass parallel zu diesen (Nicht-)Entwicklungen offensichtlich die Rolle der Rechtsprechung an Bedeutung gewinnt. Nehmen wir als Beispiel diese Meldung: Gericht stärkt Schutz der Pflegekräfte: »Arbeitgeber sind verpflichtet, ihre Mitarbeiter vor Überlastung zu schützen. Das gilt selbstverständlich auch für Pflegekräfte im Krankenhaus. Daher ist eine vorgeschriebene Mindestbesetzung von Stationen auch gegen den Willen des Arbeitgebers rechtmäßig. Das hat das Arbeitsgericht Kiel entschieden (Az.: 7 BV 67c/16).« Die Ansage des Arbeitsgerichts ist eindeutig:

»Das Gericht musste eine Auseinandersetzung zwischen einem Klinikbereich und dem Betriebsrat schlichten. Es ging um die Mindestbesetzung des Pflegedienstes auf bestimmten Stationen. Um Meinungsverschiedenheiten auszuräumen, bildeten Arbeitgeber und Betriebsrat zunächst eine paritätisch besetzte Einigungsstelle. Doch auch hier konnte der Streit nicht beigelegt werden. Zwar hatten gleich drei Gutachten festgestellt, dass die physische und psychische Belastung des Personals eine kritische Grenze erreicht hatte. Dennoch fanden die Mitglieder der Einigungsstelle keine einvernehmliche Lösung für das Problem. Daher entschied letztlich eine Mehrheit, für bestimmte Belegungssituationen eine Mindestzahl von Pflegekräften vorzuschreiben.

Das passte dem Arbeitgeber jedoch nicht. Er sah seine Entscheidungsfreiheit eingeschränkt und zog vor Gericht. Dort allerdings hatte er keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht entschied, die Mehrheitsentscheidung der Einigungsstelle sei rechtmäßig. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats beziehe sich auch auf Regelungen zum Gesundheitsschutz, inklusive Schutzmaßnahmen bei konkreten Gefährdungen. Eine Mindestbesetzung vorzugeben, sei rechtens.«

Und da ist doch noch dieser andere Kontinent der Pflegewelt? Genau, die Altenpflege, wo die Verhältnisse oftmals noch katastrophaler aussehen als im Krankenhausbereich. Und auch hier spielt mittlerweile die Rechtsprechung die Rolle des letzten Notnagels gegen die Rutschbahn nach unten. Man führe sich nur als ein Beispiel die offensichtliche Notwendigkeit eines solchen Urteils vor Augen: Gericht: Ein Nachtpfleger für 60 Heimbewohner ist zu wenig. Wohl wahr, aber schauen wir uns die Meldung genauer an:

In einem Pflegeheim mit 50 bis 60 Bewohnern genügt es nicht, wenn eine einzelne Pflegekraft die Nachtwache übernimmt. So die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Cottbus. In dem Eilverfahren ging es um den Bescheid des Landesamtes für Soziales und Versorgung gegen den Betreiber eines Brandenburger Pflegeheims. Der Heimbetreiber hätte sich laut Bescheid zu festgestellten Mängeln und deren Beseitigung äußern müssen, dagegen aber Widerspruch eingelegt.

»Im noch nicht rechtskräftigen Urteil heißt es, dass es „nach Ansicht des Gerichts entbehrlich war, die Behauptung einer pflegerischen Unterversorgung mit konkreten Beispielen zu untermauern, wenn die Versorgung von 50 beziehungsweise 60 Bewohnern von Häusern in der Nacht – darunter etwa 20 Bewohnern mit dem Pflegegrad vier oder fünf, die nachts mindestens zweimal der Pflege bedürften – unstrittig lediglich durch eine Pflegefachkraft erfolge“.«

Solche Urteile sind im Jahr 2017 in unserem Land offensichtlich notwendig. Kann man eindrücklicher illustrieren, in welchem Morast wir bereits versunken sind?

Foto: © Stefan Sell 

Arbeitsrecht: Wenn man unwillig ist, unbillige Weisungen zu befolgen. Das Bundesarbeitsgericht will seine Rechtsprechung ändern

Das Arbeitsrecht ist eine komplizierte Angelegenheit. Dies auch deshalb, weil weite Teile des Arbeitsrechts Richterrecht sind, also durch die Rechtsprechung konstituiert werden. Ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch gibt es in Deutschland nicht – immer wieder hatte es dazu Aufforderungen und Absichtserklärungen gegeben. Nach der Wiedervereinigung hat man beispielsweise im Einigungsvertrag im Art. 30 EinigVtr ein solches Vorhaben als Auftrag an den Gesetzgeber formuliert: Dort heißt es im Absatz 1 unter der Nummer 1:

1) Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers,

1. das Arbeitsvertragsrecht sowie das öffentlich-rechtliche Arbeitszeitrecht einschließlich der Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsarbeit und den besonderen Frauenarbeitsschutz möglichst bald einheitlich neu zu kodifizieren.

Das ist bis heute nicht erfolgt und es sieht auch nicht so aus, als ob das demnächst in Angriff genommen wird. Also muss man neben dem Rückgriff auf zahlreiche Einzelgesetze weiter vor allem die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung verfolgen.

Hinzu kommt, dass sich das Arbeitsrecht nicht in einem gleichsam aseptischen Raum gleichwertiger Interaktionen bewegt, sondern Fragen und vor allem Konflikte betrifft, die stattfinden in asymmetrischen Machtverhältnissen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Aus dieser Konfiguration entspringt dann auch die – wie manche von der anderen Seite meinen: überspannte – Funktion eines Schutzrechtes für Arbeitnehmer.

Hierzu ein konkretes und aktuelles Beispiel, das zugleich von grundsätzlicher Bedeutung ist. Es geht um einen Grundtatbestand des Arbeitsverhältnisses – die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers. Der hat Weisungen des Arbeitgebers Folge zu leisten, hat dieser ihn doch ökonomisch gesprochen „eingekauft“ und vergütet ihn dafür.

Wir ahnen schon, was jetzt kommt. Denn es gibt solche und andere Weisungen und ein nicht seltener Streitfall in der Lebenswirklichkeit bezieht sich darauf, dass der Arbeitnehmer der Ansicht ist, eine konkrete Weisung des Arbeitgebers sei unangemessen, überzogen – oder dient nicht wirklich der Erfüllung des Arbeitsverhältnisses, sondern man versuche, über eine solche überzogene Weisung den Arbeitnehmer unter Druck zu setzen, ihn möglicherweise aus dem Arbeitsverhältnis heraus zu drängen. Das kann man sich durchaus vorstellen, man denke hier an die Fälle, in denen unliebsame Mitarbeiter, die beispielsweise einen Betriebsrat ins Leben rufen wollen, „bearbeitet“ werden.
Auf der anderen Seite steht das für sich genommen durchaus nachvollziehbare Interesse des Arbeitgebers, dass die Beschäftigten sich an seine Vorgaben halten, auch wenn die denen nicht schmecken. Und dass sie Weisungen, auch wenn sie unangenehm sein sollten, nicht über eine längere Zeit blockiert werden können.

Wir haben es hier mit fließenden und nicht immer klar abgrenzbaren Übergängen zwischen „noch in Ordnung“ und „nicht mehr in Ordnung“ zu tun. Die Juristen haben für den letzten Fall einen eigenen Terminus zur Hand: „unbillige Weisungen“. Die muss ein Arbeitnehmer nicht befolgen, aber das muss erst einmal arbeitsgerichtlich festgestellt werden. Und bis das passiert ist, gilt bzw. galt bislang die höchstrichterliche Rechtsprechung, dass der Arbeitnehmer auch (später als solche festgestellte) „unbillige Weisungen“ erst einmal befolgen muss, ansonsten riskiert er Folgen wie eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Aber wie weit geht das Weisungsrecht des Arbeitgebers? Hierzu der Beitrag Unbillige Weisungen im Arbeitsrecht – Umschwung der Rechtsprechung? von Sebastian Schröder aus dem vergangenen Jahr, der zugleich schon im Titel noch mit Fragezeichen andeutet, was aktuell passiert ist:
Auf die Frage nach der Reichweite des Weisungsrechts des Arbeitgebers gibt das Gesetz »eine – zunächst – simple Antwort: Nach § 106 Gewerbeordnung (GewO) kann er Inhalt, Ort und Zeit (gemeint ist die Lage der Arbeitszeit) der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung, Tarifvertrag oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind.« Dazu ein Beispiel:

»Legt ein Arbeitsvertrag ohne Versetzungsvorbehalt abschließend fest, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung ausschließlich in einer bestimmten Filiale in einer bestimmten Stadt zu erbringen hat, ist das Versetzungsrecht beschränkt. Versetzungen in andere Filialen des Unternehmens sind ausgeschlossen. Eine entsprechende Weisung verstieße gegen den Arbeitsvertrag. Sie ist schlicht nichtig und muss nicht befolgt werden.«

Aber es gilt eben auch: »Wurde die Festlegung des Arbeitsortes jedoch mit einem üblichen Versetzungsvorbehalt kombiniert und verfügt das Unternehmen über weitere Filialen im gesamten Bundesgebiet, ist eine Versetzung auch in andere Städte zulässig. Das örtliche Versetzungsrecht gilt grundsätzlich bundesweit!« Und Schröder weist auf eine nicht selten zu beobachtende Quelle für Konflikte hin: »Arbeitnehmer, die bereits seit vielen Jahren am selben Standort eines bundesweit tätigen Unternehmens eingesetzt werden, wähnen sich oft in vermeintlicher Sicherheit, was eine Versetzungsmöglichkeit angeht.« Die Enttäuschung folgt dann für die Arbeitnehmer oft auf dem Fuße: »Hier ist die Rechtsprechung zugunsten der Arbeitgeber jedoch sehr großzügig. Auch wenn der Arbeitgeber von seinem Versetzungsrecht über Jahre hinweg keinen Gebrauch gemacht hat, bedeutet das nicht unbedingt, dass er diesbezüglich eingeschränkt ist.«

Auch bei der Lage der Arbeitszeit gelten vergleichbare flexible Spielräume für den Arbeitgeber, wenn nichts anderes im Arbeitsvertrag fixiert wurde.

Und jetzt kommt das arbeitsrechtliche „aber“: Die schier grenzenlose Reichweite des Weisungsrechts wird durch die „Billigkeitskontrolle“ kompensiert, ein ganz praktischer Ausdruck der eingangs hervorgehobenen Schutzfunktion des Arbeitsrechts:

»Die Arbeitsgerichte prüfen hierbei, ob die Interessen des Arbeitgebers an der Befolgung der Weisung und die Interessen des Arbeitnehmers miteinander abgewogen wurden. Hierbei spielen in der Praxis unter anderem die Vermögens- und Einkommensverhältnisse oder familiäre Pflichten und Unterhaltsverpflichtungen des Arbeitnehmers eine Rolle. Im Kern gilt freilich, dass nur eklatant willkürliche oder rechtsmissbräuchliche Weisungen unbillig sein werden.«

Das hört sich erst einmal sehr abstrakt an, aber der Verfasser des Beitrags liefert uns ein konkretes Beispiel, was das bedeuten kann:

»Ein Arbeitnehmer – ledig, kinderlos – ist in einer Kölner Filiale eines bundesweit tätigen Einzelhandelsunternehmens als Metzger beschäftigt. Sein Arbeitsvertrag enthält eine zulässige Versetzungsmöglichkeit. Er wird (mit einer angemessenen Ankündigungsfrist) angewiesen, seine Tätigkeit künftig in einer Hamburger Filiale zu erbringen. Die Weisung ist im Ergebnis wirksam und billig. Der Mitarbeiter wird seinen Wohnort verlegen und der Weisung nachkommen müssen.

Anders sieht es aus, wenn er verheiratet und seiner schwangeren Frau sowie den drei schulpflichtigen Kindern zum Unterhalt verpflichtet ist. Dann dürfte die Weisung in einem ersten Schritt von der arbeitsvertraglichen Regelung zwar gedeckt sein. Jedoch wird die Versetzung nicht mehr billigem Ermessen entsprechen.«

Die Ähnlichkeiten zu dem aktuell für einige Diskussionen sorgenden Fall sind offensichtlich. Dazu Christoph Bergwitz in seinem Artikel Diver­genz am BAG vom 16.06.2017:

»Der Arbeitnehmer des zugrunde liegenden Falls war als Immobilienkaufmann am Standort Dortmund des beklagten Unternehmens beschäftigt. Mehrere Mitarbeiter seines Teams lehnten im März 2014 gegenüber dem Betriebsratsvorsitzenden eine weitere Zusammenarbeit mit dem als unkollegial und unkooperativ bezeichneten Arbeitskollegen ab. Daraufhin versetzte der Arbeitgeber ihn für die Zeit vom 16. März bis 30. September 2015 an den Standort Berlin. Der Arbeitnehmer leistete dieser Versetzungsanordnung trotz zweimaliger Abmahnung nicht Folge und wurde deshalb fristlos gekündigt. Der entsprechende Kündigungsrechtsstreit ist noch beim 2. Senat des BAG anhängig (Az. 2 AZR 329/16).

Mit seiner vor dem 10. Senat anhängigen Klage wandte sich der Kläger gegen seine Versetzung sowie die Abmahnungen und machte die Fortzahlung seiner Vergütung geltend. Die Vorinstanzen haben festgestellt, dass der Arbeitnehmer nicht verpflichtet war, seine Arbeitsleistung am Standort Berlin zu erbringen. Sie haben das Unternehmen verurteilt, die Abmahnungen aus der Personalakte zu entfernen und dem Kläger die vorenthaltene Vergütung nachzuzahlen. Ausdrücklich hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm dem 5. Senat des BAG die Gefolgschaft verweigert und eine vorläufige Bindungswirkung der als unbillig erachteten Versetzungsanordnung verneint.«

Das Kernargument des LAG Hamm gegen die (bisherige) Rechtsprechung geht so: »Die Rechtsprechung des 5. Senats führe zu einer für den Arbeitnehmer untragbaren Risikoverlagerung. Er müsse auch einer unbilligen Leistungsanordnung zunächst Folge leisten, wenn er nicht Gefahr laufen will, seine Vergütungsansprüche zu verlieren oder wegen Arbeitsverweigerung gekündigt zu werden (Urt. v. 17.03.2016, Az. 17 Sa 1660/15).«

Man muss dazu anmerken, dass die (bisherige) Rechtsprechung des 5. Senats zur vorläufigen Verbindlichkeit einer unbilligen Arbeitgeberweisung auch bei anderen auf Kritik gestoßen ist: »Sie belaste den Arbeitnehmer als „Gestaltungsopfer“ einseitig, weil er zunächst eine gerichtliche Klärung über die Rechtmäßigkeit der Weisung herbeiführen müsse, wenn er keine arbeitsrechtlichen Sanktionen riskieren will.«

Offensichtlich gibt es nun innerhalb des Bundesarbeitsgerichts Differenzen, denn der 10. Senat hat sich der skizzierten Kritik angeschlossen. Bergwitz berichtete dazu, dass der 10. Senat die Auffassung vertreten möchte, dass der Arbeitnehmer einer unbilligen Weisung des Arbeitgebers nicht – auch nicht vorläufig – folgen muss. Er hat daher nach § 45 Abs. 3 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) beim 5. Senat angefragt, ob dieser an seiner gegenteiligen Rechtsauffassung festhält.

Und der hat nun geantwortet: Unter der Überschrift Versetzung – Verbindlichkeit einer unbilligen Weisung – Antwort des 5. Senats hat das Bundesarbeitsgericht eine Pressemitteilung veröffentlicht, die eine offensichtliche Änderung der bisherigen Rechtsprechung in Aussicht stellt – und das mit einem einzigen Satz:

»Der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat auf die Anfrage mitgeteilt, dass er an dieser Rechtsauffassung nicht mehr festhält.«

Der DGB Rechtsschutz hat seine Berichterstattung dazu unter diese Überschrift gestellt: Unbillige Weisungen: 5. Senat gibt bisherige Rechtsprechung auf. Mit der Antwort des 5. Senats steht einer Entscheidung des 10. Senats in der Sache nichts mehr entgegen. Die vielkritisierte Rechtsprechung zu unbilligen Weisungen findet also in naher Zukunft ein Ende, was hier offensichtlich begrüßt wird.

Es gibt aber auch kritische Stimmen, so die von Günther Heckelmann in seinem Beitrag Senat gibt Recht­sp­re­chung auf. Seine Argumentation geht so:

»Nach der bevorstehenden Rechtsprechungsänderung des Zehnten Senats trägt der Arbeitnehmer das Abschätzungsrisiko, will er der angeblich unbilligen Weisung nicht unter Vorbehalt bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung nachkommen. Stellt sich nach einer häufig mehrere Monate dauernde arbeitsgerichtliche Auseinandersetzung heraus, dass die Weisung doch wirksam war, muss er auch die arbeitsrechtlichen Konsequenzen bis hin zu einer Kündigung tragen.

Aber selbst wenn sich am Ende die Unbilligkeit der Weisung herausstellt, wird das Arbeitsverhältnis in aller Regel irreparabel beschädigt sein. Der Arbeitnehmer wird nach einem langen Rechtsstreit bei ausgesprochener außerordentlicher Kündigung über einen längeren Zeitraum freigestellt gewesen und damit nicht mehr in den Arbeitsablauf integriert sein. In der Praxis werden die Arbeitsvertragsparteien danach nicht mehr erfolgreich zusammenarbeiten können und am Ende wird häufig die (einvernehmliche) Beendigung des Arbeitsverhältnisses stehen. Gewonnen hat damit keine Seite etwas.«

Aber was ist mit dem Argument der Kritiker der bisherigen Rechtsauffassung, dass angesichts der unsachgemäßen, weil langen Verfahrensdauer vor den Arbeitsgerichten und des damit fehlenden Rechtsschutzes gegen unbillige Weisungen der Arbeitnehmer durch die Verweigerungsmöglichkeit geschützt werden müsse? Hierzu Heckelmann:

»Genau für diese Fälle sieht das Gesetz das einstweilige Verfügungsverfahren vor, in dem eine schnelle Klärung der Verbindlichkeit der Weisung erfolgen kann. Da jede Partei im ersten Rechtszug nur ihre eigenen Kosten trägt und viele Arbeitnehmer rechtschutzversichert sind, bleiben die Kosten überschaubar. Für den betroffenen Arbeitnehmer ist es regelmäßig zumutbar für die Dauer des einstweiligen Verfügungsverfahrens der Weisung in jedem Fall nachzukommen. Berücksichtigt man die Möglichkeit, durch einstweiligen Rechtsschutz schnell eine Entscheidung zu erhalten, sind durch dieses Instrument die Interessen beider Parteien des Arbeitsvertrages ausgewogen berücksichtigt.«

Wie immer – ein kompliziertes Ding, das Arbeitsrecht.

Aus der Welt der Dumpingpreise und -löhne: Ryanair bekommt vom Europäischen Gerichtshof einen Schuss vor den Bug, was das Arbeitsrecht angeht

Der „Low-Cost-Carrier“, anders ausgedrückt: der Billigflieger Ryanair, wird in diesem Jahr gut 120 Mio. Passagiere befördern. Wir sprechen von einer echten Erfolgsgeschichte des Flugverkehrs, obgleich die Leistungen dieses Unternehmens für seine Passagiere auf ein Minimum begrenzt sind. Vielleicht aber auch deshalb, definiert sich Ryanair doch vor allem über den Preis. Einen möglichst niedrigen Preis. Das kommt an, gerade in Deutschland, wo man Fleisch und Flugreisen immer gerne zu absoluten Schnäppchen-Preisen haben möchte. Bei der erkennbaren Expansion in so einem angenehmen Umfeld möchte der Billigflieger natürlich nicht gestört werden.

Was auf der anderen Seite gar nicht so einfach ist, wenn man bedenkt, dass das Unternehmen und sein Geschäftsmodell vor allem darauf basiert, die Kosten zu „reduzieren“ – dann nicht, wenn ein Kostenfaktor durch rechtliche Regelungen „verteuert“ wird für die Billigheimer aus Irland. Und zu den Kostenstellen des Unternehmens gehören natürlich auch die Mitarbeiter – und da hat Ryanair enorme Potenziale der Kostensenkungsstrategien zum Leben erweckt. Und die werden nun erschwert, wenn man sich eine neue Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) anschaut. Als die bekannt wurde, ging der Aktienkurs von Ryanair um mehrere Prozentpunkte nach unten – immer ein guter Indikator, dass das Urteil mit Blick auf das Geschäftsmodell von Ryanair kritisch gesehen wird. Analysten rechnen mit Kostensteigerungen. 

mehr