Von „Totenschiffen auf den Straßen“ und dem schmutzigen Geschäft mit den Lkw-Fahrern aus Osteuropa

Über die wirklich miesen Arbeitsbedingungen, unter denen viele Lkw-Fahrer in unserem Land unterwegs sind, wurde hier schon oft berichtet (vgl. nur als ein Beispiel Von wegen Trucker-Mythos. Die Lkw-Fahrer als letztes Glied einer hoch problematischen Verwertungskette vom 31. Juli 2017). In der Anmoderation einer Dokumentation des Bayerischen Fernsehens (Verstopfte Straßen, leere Gleise – Ärgernis Güterverkehr), die im Jahr 2017 ausgestrahlt wurde, konnte man diese Beschreibung finden:

»Sie sind monatelang am Stück unterwegs, schlafen in der Fahrerkabine, kochen an Parkplätzen auf Gaskochern – und verdienen weit weniger als den Mindestlohn, teilweise gerade einmal ein paar Euro am Tag. Die Kennzeichen ihrer Lastwägen verraten: Immer mehr Lkw-Fahrer kommen aus der Slowakei, Polen, Ungarn oder Rumänien. Doch die meiste Zeit sind sie auf deutschen Straßen unterwegs und unterliegen, falls sie das Land nicht nur passieren, deutschem Recht. Wie etwa der Einhaltung des Mindestlohns. Eigentlich. Doch was schert das die Speditionen, für die sie arbeiten? Die deutschen Bußgelder werden von den Auftraggebern in Kauf genommen, ja teilweise sogar schon einkalkuliert. Die Strafen in Deutschland sind niedrig und die Kontrollen auf deutschen Straßen selten. Illegale Zustände also – mitten auf deutschen Autobahnen und Raststätten.«

»Eine der Branchen, die von Polens EU-Beitritt besonders profitiert hat, ist das Speditionsgewerbe. Nach aktuellen Zahlen trägt sie 6,5 Prozent zum polnischen Sozialprodukt bei und erbringt etwa ein Drittel der gesamten Straßentransportleistungen in der EU. Die Flotte ist eine der größten Europas: 300.000 Vierzigtonner sind in Polen registriert, auf 200.000 bis 250.000 wird die Zahl der Beschäftigten geschätzt. Das heißt nun nicht, dass durchschnittlich ein Drittel der polnischen Lkw-Flotte still läge: Denn ein Teil der Fahrer arbeitet als Scheinselbständiger.« So beginnt der Beitrag Totenschiffe auf der Straße von Reinhard Lauterbach. Und das überrascht nicht: »Die Blüte der Transportwirtschaft ist an sich typisch für eine periphere Volkswirtschaft wie die polnische: relativ geringer Kapitalvorschuss, geringe Qualifikationsanforderungen an die Fahrer, permanenter Lohn- und Kostendruck, ein hoher Anteil an Klein- und Kleinstunternehmen.«

Aber, so Lauterbach, die werkeln nicht im luftleeren Raum: »Auf der anderen Seite stehen Filialen westeuropäischer, vor allem niederländischer Großspeditionen, die eine andere Besonderheit der polnischen Volkswirtschaft ausnutzen: ihren Status als Zulieferer westeuropäischer Konzerne vor allem aus der Automobilbranche.« Denn: »Im Westteil Polens, halbwegs nahe der Grenze zu Deutschland und soweit die Autobahnanschlüsse reichen, produzieren Hunderte von Unternehmen Teile für Autos, die in anderen Teilen des Kontinents verbaut werden. Das Modell der »Just-in-time«-Logistik erzwingt, dass ständig Tausende von Fahrern mit relativ wenig Last unterwegs sind, um diesen Prozess in Gang zu halten.« Und wenn man bedenkt, wie personalintensiv der Lkw-Transport nunmal ist, dann wird es einen nicht überraschen, dass niedrige Löhne für die polnischen Lkw-Fahrer elementarer Bestandteil des Geschäftsmodells sein müssen.

Nun wird allerdings berichtet, dass auch die polnischen Speditionen zunehmend Probleme haben, Fahrer zu finden. Was natürlich mit der Vergütung für diese harte Arbeit zu tun hat. Denn für die polnischen Fahrer stellt sich die Lage so dar: »… ihr Lohn besteht formal aus zwei Teilen: einem Grundlohn in der Höhe des polnischen Mindestlohns von etwa 360 Euro plus Spesen in Höhe von 40 bis 60 Euro pro Tag auf Tour. Unter dem Strich kommen dabei monatlich zwischen 1.500 und 1.800 Euro zusammen, wenn die Fahrer drei Wochen am Stück unterwegs sind.« Das mag für polnische Verhältnisse (noch) ein eher überdurchschnittliches Einkommen sein, aber man muss bedenken, »dass die Fahrer dabei unter primitivsten Bedingungen auf Autobahnparkplätzen leben und auf ein Familienleben verzichten.« Muss man noch erwähnen, dass die Arbeitgeber lediglich auf den Grundlohn Sozialbeiträge zahlen?

Und die polnischen Arbeitgeber machen etwas, was wir auch in Deutschland kennen – man versucht, die fehlenden Arbeitskräfte von außen zu besorgen. Dazu Lauterbach: »Etwa 70.000 Arbeitsgenehmigungen für Lkw-Fahrer aus Ländern außerhalb der EU wird die zuständige polnische Behörde in diesem Jahr wohl ausstellen; 2012 lag diese Zahl noch bei 4.000. Und die Fahrer kommen von immer weiter her: Nachdem der ukrainische Arbeitsmarkt langsam abgegrast ist, werden jetzt Belorussen, Moldawier, aber auch Usbeken, Kasachen und Sri Lanker, sogar Filipinos rekrutiert. Letztere zwei Nationalitäten sind in der Branche beliebt, weil ihre Führerscheine in der EU automatisch anerkannt werden, anders als bei Bürgern der ehemaligen Sowjetrepubliken.«

Aber bei uns gibt es doch klare gesetzliche Vorschriften, beispielsweise die Lenkzeiten betreffend? Da wird einen nicht wirklich überraschen, wenn man so etwas zu lesen bekommt: »Die Touren werden so disponiert, dass Lenkzeiten bis zu 15 Stunden vorausgesetzt sind. Das ist natürlich nicht nur gefährlich, sondern auch illegal, aber die Unternehmen haben einen Trick gefunden: In der Nähe des Fahrtenschreibers wird ein kleiner Magnet versteckt, der die Aufzeichnung des Geräts stört und so den Nachweis der Überarbeit verhindert. Auf EU-Ebene hat die Branche jahrelang Lobbyarbeit geleistet, um etwa die Einführung fälschungssicherer digitaler Fahrtenschreiber zu verhindern. Jetzt sollen sie immerhin ab dem kommenden Jahr eingeführt werden. Mit langen Übergangsfristen natürlich.«

Nun wird der eine oder andere einwenden, dass das vielleicht eine etwas übertriebene oder sehr einseitige Darstellung sei. Also schauen wir uns um, ob es andere Belege für diese Sicht auf die Dinge (und Menschen) gibt.

»Sie kommen aus der Ukraine oder Moldawien und transportieren im Lkw Güter für Europa. Aber die Bezahlung ist schäbig – und die EU verwehrt ihnen ihre Rechte«, so der Untertitel eines wirklich lesenswerten Artikels von Harald Schumann und Elisa Simantke, der unter der mehr als eindeutigen Überschrift Das schmutzige Geschäft mit Lkw-Fahrern aus Osteuropa veröffentlicht worden ist.

Da wäre zum Beispiel Juri Pylnev, ein 35-jähriger Familienvater aus dem ukrainischen Dnipropetrowsk. Der Mann »ist ein moderner Wanderarbeiter. Er fährt für eine Spedition in Polen, aber dort ist er nicht im Einsatz. Zum Dienstantritt fährt er stattdessen mehr als 2000 Kilometer aus der Ukraine nach Deutschland, um dort den Lastzug von einem Kollegen zu übernehmen.« Anschließend steuert er zwei Monate lang kreuz und quer durch Westeuropa, mindestens 10 000 Kilometer im Monat. Wohin er welche Ladung bringt, erfährt er von Tag zu Tag neu per SMS.

»Seine Frau und seinen zehnjährigen Sohn sieht Pylnev nur alle drei Monate. „Das ist sehr hart“, gesteht er und wirft einen traurigen Blick auf das Foto neben den Armaturen. Aber der ukrainische Mindestlohn beträgt 100 Euro im Monat. „Hier kriege ich bis zu 1800 Euro“, sagt er, und das weitgehend steuerfrei und ohne Sozialabgaben. Die werden lediglich für den polnischen Mindestlohn von rund 500 Euro bezahlt. Dazu erhält er eine Pauschale von 50 Euro für jeden Arbeitstag, solange er unterwegs ist. Für seine Zeiten in der Heimat, für Krankheit und Altersvorsorge bekommt er dagegen fast nichts. Er hätte Anspruch darauf, so schreiben es die Gesetze der Länder vor, in denen er tätig ist. Aber das kümmert weder seinen Arbeitgeber noch die Behörden. „Und was soll ich schon machen?“, fragt er achselzuckend.

Die Lkw-Fahrer, die immer öfter aus Weißrussland, der Ukraine, Moldawien, Serbien und Kasachstan kommen, »führen ein einsames Leben auf der Autobahn und sind zugleich das logistische Rückgrat der europäischen Ökonomie mit ihren Lieferketten über die Grenzen hinweg. Ohne sie würde kein Auto gebaut, blieben die Supermärkte leer und die Fabriken stünden still. Doch beim Umgang mit seinen motorisierten Lastenträgern zeigt sich Europa von seiner schlechtesten Seite.«

Die beiden Autoren berichten von Recherchen der Reporter von Investigate Europe. Die Bilanz ist verheerend. Demnach

» – werden die fast ausschließlich osteuropäischen Fahrer systematisch um ihre gesetzlich verbrieften Rechte auf faire Entlohnung und soziale Absicherung betrogen;
– rekrutiert die Logistikbranche mit Hilfe der Behörden in Polen Jahr für Jahr zigtausend Fahrer aus Ländern außerhalb der EU, deren technische Qualifikation und körperliche Eignung nicht amtlich überprüft wird;
– müssen die meisten Fahrer über Monate in ihren Kabinen hausen, obwohl das EU-Recht alle zwei Wochen eine zweitägige Pause außerhalb ihrer Fahrzeuge vorschreibt;
– dulden die Aufsichtsbehörden der meisten EU-Länder den flächendeckenden Rechtsbruch, weil sie kaum Kontrollen durchführen und
– profitieren insbesondere Autohersteller als Großauftraggeber mit ihren EU-weiten Zuliefernetzwerken, während sie gleichzeitig vorgeben, nichts von den illegalen Methoden ihrer Transportpartner zu wissen.«

Und was hat das mit der EU zu tun? Der eine oder andere Leser wird sich daran erinnern, dass der Zusammenhang von EU und Lkw-Fahrern hier schon öfter einmal Thema war: So am 31. Juli 2018 indem Beitrag Immobiler Mobilitätspakt für Bus- und LKW-Fahrer auf EU-Ebene. Manchmal aber ist weniger Mobilität mehr oder am 26. Oktober 2017 unter der Überschrift Die bewusst Vergessenen: Die Lkw-Fahrer bleiben bei der Reform des EU-Entsenderechts auf der Strecke.

Schumann und Simantke beschreiben das Geschäftsmodell, das in den osteuropäischen Staaten nach ihrem EU-Beitritt ab 2004 entstanden ist, so:

»Sie stellten Tagespauschalen für ins Ausland entsandte Arbeitnehmer von Steuern und Sozialabgaben frei. In der Folge verschob die Logistikbranche die Anstellung ihrer Lkw-Fahrer für den Fernverkehr im großen Stil nach Osteuropa. Inzwischen setzen die führenden Logistikkonzerne wie DHL, Schenker oder DSV „im internationalen Straßentransport so gut wie keine eigenen Fahrzeuge mehr ein, sondern engagieren billige Subunternehmer aus dem Osten“ … Andere wie der französische Marktführer Geodis, der niederländische Logistiker Ewals oder das deutsche Familienunternehmen Duvenbeck und tausende weitere gründeten Tochterfirmen in Polen und Tschechien, in Rumänien und der Slowakei. Die Dimension dieser Verlagerung zeigt sich insbesondere in Polen: Von 2004 bis 2017 stieg dort die Zahl der registrierten Speditionen von weniger als 10.000 auf mehr als 30.000.«

Und das Personalkostengefälle ist nun wahrlich mehr als „reizvoll“. Dazu Zahlen aus einer Studie des Comité National Routier, einem Expertengremium der französischen Regierung: »Demnach kostet die Anstellung eines Fahrers in Bulgarien gerade mal 16.000 Euro im Jahr, in Polen oder Tschechien sind es 20.000 Euro. Schließen die Unternehmen den Arbeitsvertrag dagegen in Deutschland oder Frankreich, bezahlen sie pro Fahrer, trotz relativ geringer Entlohnung, wegen der Beiträge für die Sozialkassen rund 46.000 Euro jährlich.« Noch Fragen?

Das bleibt auf der anderen Seite nicht ohne Folgen für die Anbieter in Westeuropa. So rutschen immer größere Teile des Transportgeschäfts auch in Westeuropa auf das osteuropäische Lohnniveau. Das wiederum befeuert den Personalmangel hierzulande. Allein in Deutschland fehlen 45 000 Fahrer, warnt der Deutsche Speditions- und Logistikverband.

Und auch das muss hier aufgerufen werden – erneut werden wir Zeugen eines gigantischen Ordnungsversagens des deutschen Staates:

»In Deutschland verfügt das zuständige Bundesamt für Güterverkehr über gerade mal 215 Kontrollbeamte für den gesamten Lkw-Verkehr. Wenn Fahrer ihre Ruhezeiten unterschreiten, sind lediglich 120 Euro pro fehlender Stunde fällig. Die verbotene Rast auf den Parkplätzen wird fast nie geahndet, weil die Kontrolleure erst dann Bußgelder verhängen, wenn die vorgeschriebenen 45 Stunden schon überschritten sind. Für die Überprüfung der Löhne ist wiederum die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls zuständig, die ohnehin unterbesetzt ist. Und wenn geprüft wird, dann fordert die Behörde erst mal die Unterlagen bei den Arbeitgebern an. Im Jahr 2017 wurden daher gerade mal 217 Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen das Mindestlohngesetz bei Kraftfahrern eingeleitet, und das einschließlich der ebenfalls für Lohndumping bekannten regionalen Lieferdienste für den Onlinehandel. Die abschreckende Wirkung ist vermutlich begrenzt.«

Dann muss man eben auf die EU-Ebene hoffen, denn die Kommission hat doch erkannt, wie wichtig ein „soziales Europa“. Aber das eine ist, was man vielleicht denkt und das andere, was um einen herum passiert:

»Wie hart der politische Streit geführt wird, zeigt ein einzigartiger Vorgang im EU-Parlament im vergangenen Juni. Dort hatte die Kommission ein „lex specialis“ für die Transportbranche vorgelegt. Demnach sollten die Regeln für die Entsendung von Arbeitnehmern ins Ausland, also die Pflicht zur Zahlung ortsüblicher Löhne und Sozialabgaben, bei Lkw-Fahrern erst vom vierten Tag des Aufenthalts in einem Land gelten. Weil die Tachografen in den Fahrzeugen keine Grenzübetritte aufzeichnen, wäre die Vorschrift kaum durchzusetzen. Darum wies der beratende Ausschuss für Beschäftigung das Ansinnen zunächst zurück. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges: Im hauptverantwortlichen Ausschuss für Transport verabschiedete eine Mehrheit überraschend eine noch radikalere Version des Gesetzes. Demnach sollte der grenzüberschreitende Lkw-Verkehr gänzlich vom Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort befreit werden. Dafür stimmten nicht nur die Osteuropäer aller Fraktionen, sondern bei den Konservativen auch die Parlamentarier aus Deutschland, Frankreich und Holland. Ausgerechnet der CSU-Abgeordnete und Fraktionschef Manfred Weber, neuerdings Bewerber für das Amt des Kommissionspräsidenten, hatte mit einer persönlichen E-Mail Druck gemacht und Zustimmung zur Radikalliberalisierung gefordert, „auch wenn es Ihnen schwerfällt“ … Daraufhin forderten an die 100 Abgeordnete, den Vorgang im Plenum zur Abstimmung zu stellen. Prompt hob die Parlamentsmehrheit eine Woche später den Beschluss wieder auf. Nun ist allerdings völlig offen, wie es weitergeht.«

Was müsste passieren? Nun, die eigentlichen Profiteure müssten in die Verantwortung genommen werden. Und wer ist das? » Die großen Auftraggeber für Ferntransporte sollen die Einhaltung der Gesetze bei ihren Geschäftspartnern durchsetzen … Dazu zählen vor allem die Automobilkonzerne, deren europaweite Zulieferketten ein gigantisches Transportvolumen erzeugen. So werden im Logistikzentrum von Audi in Ingolstadt bis zu 500 Lastzüge pro Tag abgefertigt. Die Aufträge dafür ergehen jedoch ausschließlich an die Anbieter mit dem niedrigsten Preis.«
Weil aber die Kosten für Diesel, Fahrzeuge und Maut nicht zu drücken sind, bleiben nur die Fahrerkosten, um einen niedrigen Preis darstellen zu können. Man braucht keine Studie, um sich vorstellen, wo das endet.

Foto: © Stefan Sell