Der Europäische Gerichtshof (EuGH) könnte dem Versuch einer restriktiven Ausgestaltung der Flüchtlingspolitik in Deutschland einige größere Steine in den Weg legen

In der Bundesregierung steht Bundesinnenminister Dobrindt (CSU) für eine restriktive Flüchtlingspolitik, bei vielen der von ihm vorangetriebenen Maßnahmen – seien sie eher auf der symbolischen Ebene oder mit handfesten Konsequenzen verbunden – geht es vor allem um eine doppelte Signalwirkung. Doppelt im Sinne einer angestrebten abschreckenden Wirkung gegenüber potenziellen Flüchtlingen, die gar nicht (mehr) versuchen sollen, nach Deutschland zu kommen, aber auch hinsichtlich einer Botschaft nach innen, dass man jetzt endlich was gegen diese ungewollte Zuwanderung macht. In diesem Kontext sind abschreckende Maßnahmen von großer Bedeutung, damit nicht nur die eher symbolische Ebene bleibt, die natürlich schnell als das erkannt wird, was sie ist und sein muss: keine wirkliche Hürde für den Versuch, nach Deutschland zu kommen.

Wenn hingegen tatsächlich Maßnahmen realisiert werden, die beispielsweise jede Leistung an die Menschen, die es nach Deutschland geschafft haben, zum Versiegen bringen oder wenn man der ursprüngliche Erwartung, wenn der oder die eine es geschafft hat, dann können die anderen nachkommen, den Boden entzieht, dann kann das eine strukturell abschreckende Durchschlagskraft entfalten, die vielleicht nicht unmittelbar, aber sicher mittel- und langfristig ihre angestrebte Wirkung entfalten wird.

Und wenn man diese Maßnahmen zumindest in einer ersten Phase auf bestimmte Fälle beschränken kann (bzw. muss), die am Rande des Flüchtlingskolletivs angesiedelt sind, dann wird man zumindest in der breiten Öffentlichkeit keine große Ablehnung erfahren, nicht nur, weil sich generell die Stimmung gegen die (weitere) Aufnahme von Flüchtlingen entwickelt hat, sondern weil man hier sehr gut operieren kann mit dem Narrativ, dass es „nur“ um Leute geht, die eine restriktive Behandlung „verdienen“, weil sie keine Anrechte haben und sie nicht geschützt werden müssen.

Längere Vorrede, um zu einem „Problem“ für diejenigen zu kommen, die einen solchen Ansatz praktizieren wollen (oder meinen zu müssen). „Ärgerlich“ für sie wird es, wenn seitens der Gerichte Sand in das abschreckende Getriebe geworfen wird – und besonders „ärgerlich“ ist es, wenn das auf der höchsten Ebene der europäischen Rechtsprechung, also beim Europäischen Gerichtshof (EuGH), passiert oder zumindest durch eine noch ausstehende Entscheidung einzutreten droht.

An einem aktuellen Beispiel, das derzeit vor dem EuGH verhandelt wird, kann man das vertiefen und konkretisieren.

Existenzielle Fragen: Darf man einen „angemessenen Lebensunterhalt“ verweigern?

Wenn ein anderes EU-Land zuständig ist, sollen Asylsuchende in Deutschland auch keine Leistung erhalten – so ist die aktuelle politische Agenda.

Offensichtlich sprechen wir hier über die sogenannten „Dublin-Fälle“, also jene Flüchtlinge oder Asylsuchende, deren Zuständigkeit für das Asylverfahren nach der sogenannten Dublin-Verordnung (Verordnung (EU) Nr. 604/2013) geregelt ist.

„Dublin-Fälle“: Das durchaus verständliche Ziel ist, dass jede asylsuchende Person nur in einem EU-Staat ein Asylverfahren durchläuft – um sogenannte Mehrfachanträge in verschiedenen Ländern zu verhindern. Mit diesem einfach und erst einmal nachvollziehbar daherkommenden System sind besondere Ungleichgewichte verbunden, vor allem hinsichtlich der Regelung die Ersteinreise betreffend: Wenn die Person zuerst in ein bestimmtes Land eingereist ist (z. B. über Italien oder Griechenland), ist dieses Land für das Asylverfahren zuständig. Wenn also eine Person in einem Land (z. B. Deutschland) Asyl beantragt, aber nach der Dublin-Verordnung ein anderes Land (z. B. Italien oder Polen) eigentlich für das Verfahren zuständig ist, dann kann Deutschland (oder das jeweilige Land) ein sogenanntes Dublin-Verfahren einleiten, um die Person in den zuständigen Staat zu überstellen. Soweit die Theorie.
Und die Praxis? Ernüchternd, wenn man nur die Zahlen betrachtet:1 Im Jahr 2024 wurden 74.583 Übernahmeersuchen von Deutschland an andere Mitgliedstaaten gestellt. Davon wurden rund 44.431 Zustimmungen durch die angefragten Mitgliedstaaten erteilt. Und tatsächlich erfolgten 5.827 Überstellungen von Asylbewerbern aus Deutschland in andere Dublin-Staaten im Jahr 2024. Umgekehrt wurden im gleichen Jahr etwa 4.592 Überstellungen nach Deutschland vorgenommen (also von anderen Staaten nach Deutschland) im Rahmen des Dublin-Verfahrens.

Zurück zu der Thematik, die nun beim EuGH liegt: Wenn ein anderes EU-Land zuständig ist, sollen Asylsuchende in Deutschland auch keine Leistung erhalten – so beginnt der Beitrag „Mehr als ein Recht auf Über­leben“ von Constantin Hruschka.2 »Ein junger Afghane klagte gegen den entsprechenden Bescheid des Kreises Schweinfurt, inzwischen liegt der Fall beim Europäischen Gerichtshof (EuGH).«

Nun hat der Generalanwalt in diesem Verfahren seine Schlussanträge vorgelegt (Anträge v. 23.10.2025, Az. C-621/24).

»Danach sei Menschen ein angemessener Lebensunterhalt zu gewähren, selbst wenn ein Überstellungsbescheid in den anderen Mitgliedstaat vorliegt. Sollte sich der EuGH diesen Anträgen anschließen, hätte dies massive Auswirkungen auf die Vorhaben zu Leistungskürzungen in Deutschland, auf die Bezahlkarte – und auf die Pläne im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS).«

Hier muss man eine Menge Hintergrundwissen haben oder bekommen, um das wirklich einordnen zu können. Hruschka erläutert uns die eigentliche Rechtslage und die Abweichungen in Teilen der Realität:

»Die für das Verfahren relevanten deutschen Normen finden sich im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylblG). Das regelt unter anderem die Leistungen für asylsuchende und ausreisepflichtige Personen. Hinzu kommt die europäische Aufnahmerichtlinie (aktuell: RL 2013/33/EU), danach sind asylsuchenden Personen „Unterkunft, Verpflegung und Kleidung in Form von Sach- oder Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination davon sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs“ zu gewähren, um für diese Personen „einen „angemessenen Lebensstandard“ zu gewährleisten (Art. 17 Abs. 5 AufnahmeRL). Diese Verpflichtung gilt auch in sog. Dublin-Verfahren also in Verfahren, in denen aufgrund der Dublin-Verordnung ein anderer Staat als Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist oder sein könnte.«

Also eigentlich wieder alles klar – oder? Nein, denn mittlerweile versucht man einen Leistungsausschluss für bestimmte Fälle – man hat hier die Daumenschreiben ordentlich angezogen:

»In Deutschland wird diese Verpflichtung schon länger für Personen in Zweifel gezogen, für die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in einem Bescheid („Dublin-Bescheid“) festgestellt hat, dass ein anderer europäischer Staat für das Asylverfahren zuständig ist. Zwischen August 2019 und Oktober 2024 galt gem. § 1a Abs. 7 AsylbLG eine automatische Leistungseinschränkung für asylsuchende Personen, denen ein Dublin-Bescheid zugestellt wurde. Seit Oktober 2024 sind diese Personen ab Zustellung des Bescheids von Leistungen nach dem AsylbLG ganz ausgeschlossen (§ 1 Abs. 4 AsylbLG), wenn das BAMF im Bescheid feststellt, dass die (selbstorganisierte) Ausreise in den zuständigen Staat „rechtlich und tatsächlich möglich ist“. Die Folgen von Leistungsabsenkung und Leistungsausschluss sind in der Praxis weitreichend, da bestimmte Leistungen nicht mehr oder nur reduziert gewährt werden.« 

Dem EuGH vorgelegt hat das Verfahren das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel. Das hatte in einem Verfahren eines jungen Afghanen gegen den Landkreis Schweinfurt Zweifel an der Rechtmäßigkeit der – damals noch geltenden – automatischen Leistungseinschränkungen.

Hruschka notiert zum bisherigen Verfahrensablauf:

»Schon in der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH am 4. September 2025 wurde deutlich, dass die Position der deutschen Regierung, die Regelung sei mit europäischen Recht vereinbar, einen schweren Stand hat – was auch allen beteiligten Parteien inklusive der Bundesregierung angesichts der klaren Rechtsprechung des EuGH zur Versorgung von Schutzsuchenden schon vorher klar gewesen sein müsste und dürfte.«

Und insofern kann das hier dann nicht verwundern:

»Entsprechend lauteten die Schlussanträge des Generalanwalts Richard de la Tour, dass eine nationale Regelung zum automatischen Ausschluss von bestimmten Leistungen nach der Zustellung eines Dublin-Bescheids gegen die Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie verstößt. Dieses Vorgehen garantiere den Menschen keinen angemessenen Lebensstandard, rechtlich tragfähige Gründe für eine Leistungsabsenkung erkannte er nicht.«

Daher seien die „grundlegenden und unmittelbaren Bedürfnisse“ der asylsuchenden Personen unabhängig vom Erhalt eines Dublin-Bescheides bis zur Überstellung zu erfüllen.

Und was für Leistungen müssen es aus Sicht des Generalanwalts beim EuGH sein?

»Die Leistungen müssten angemessene sein, also „den Lebensunterhalt des Antragstellers und den Schutz seiner physischen und psychischen Gesundheit sicherstellen“. Dies umfasse zwar nur die Grundbedürfnisse, gehe „aber über das bloße Recht auf Überleben hinaus“. Die Mindestschwelle seien nach der EuGH-Rechtsprechung die Integrität und die Würde der Menschen, damit dürften Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Kleidung sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts nicht gestrichen werden.«

Hoch brisant vor dem Hintergrund von Entwicklungen in Deutschland sind die Ausführungen, die man dem Beitrag zum Thema Geldleistungen entnehmen kann:

»Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs seien ein wesentlicher Bestandteil der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen. Sie ermöglichten ein Mindestmaß an Unabhängigkeit. Das habe die Kommission selbst in der mündlichen Verhandlung dieses Falles mehrfach betont. Die deutsche Regelung sei daher „umso problematischer, als sie auf einem automatischen Entzug dieser Leistungen beruht“. Dabei werde das Regel-Ausnahmeverhältnis umgekehrt, da die Gewährung individuell angemessener Leistungen nur auf Antrag möglich sei.«

»Daher ist die deutsche Regelung nach Ansicht des Generalanwalts unionsrechtswidrig, weil sie eine Person automatisch von wichtigen Teilaspekten dieser Grundbedürfnisse nach einer Überstellungsentscheidung ausschließt. Sie sei daher nicht von den Vorgaben des Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 und Abs. 5 AufnahmeRL, der die Versorgung regelt, gedeckt.«

Nun muss daran erinnert werden, dass das Verfahren die alte Regelung betrifft, die mittlerweile noch verschärft worden ist. Also schon die früheren Leistungseinschränkungen sind nach Auffassung des Generalanwalts europarechtswidrig.

»Dies gilt … damit erst recht für den aktuell geltenden umfassenden Leistungsausschluss bei der Möglichkeit zur Selbstausreise: Die Versorgung der Personen – da sind sich alle handelnden Behörden einig – darf nicht komplett eingestellt werden.«

Und Hruschka entfaltet im weiteren Gang seiner Darstellung eine ganze Batterie an möglichen Hindernissen für diejenigen, die eine restriktive, abschreckende Flüchtlingspolitik in Deutschland praktizieren wollen oder sollen.

»Spätestens mit dem anstehenden EuGH-Urteil müssen die deutschen Behörden und Gerichte die Regelung des § 1 Abs. 4 AsylbLG unangewendet lassen, da die volle Wirksamkeit der unionsrechtlichen Vorgaben von den Mitgliedstaaten jederzeit sichergestellt werden muss, ggf. aus eigener Entscheidungsbefugnis. Sie dürfen nicht ein gerichtliches Verfahren oder das Handeln des Gesetzgebers abwarten (EuGH, Urt. v. 09.03.1978, Az. 106/77 Simmenthal II). Teilweise gilt dies schon jetzt, da der Generalanwalt etwa zu Leistungseinschränkungen ausführt, dass nach der Rechtsprechung des EuGH selbst bei individuell vorwerfbarem Verhalten, sich die Leistungshöhe an der genannten Mindestschwelle der Achtung der Menschenwürde orientieren muss (EuGH, Urt. v. 01.08.2022, C-422/21, TO, Rn. 43 ff.).«

➔ »Doch welche Leistungen müssen gewährt werden? Hamburg und Brandenburg haben für die Versorgung der Menschen sog. Dublin-Zentren eingerichtet, deren Funktionsweise noch weitgehend unklar ist und die jedenfalls haftähnlichen Charakter haben. Die Unterbringung in solchen Zentren ist angesichts der klaren Ausführungen des Generalanwalts zum Gleichbehandlungsgrundsatz wohl auch als europarechtswidrig anzusehen.«

Aber nicht nur die sogenannten und auch in Deutschland umstrittenen „Dublin-Zentren“ stehen damit möglicherweise zur Disposition – Hruschka sieht weitere große Baustellen, beispielsweise bei der Bezahlkarte:

»Als Konsequenz der Ausführungen des Generalanwalts ergeben sich weitere Fragen hinsichtlich der Unionsrechtswidrigkeit der aktuellen deutschen Rechtslage, etwa beim Einsatz der Bezahlkarte und der Ungleichbehandlung von asylsuchenden Personen aus sicheren Herkunftsländern beispielsweise bei der Unterbringung und beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Auch die Rechtmäßigkeit der mit dem Anpassungsgesetz zum GEAS geplanten Zentren für Sekundärmigration steht in Frage, da diese zu einer systematischen Ungleichbehandlung asylsuchender Personen führen würden.«

Fußnoten

  1. Vgl. dazu auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage im Deutschen Bundestag: Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das Jahr 2024 – Schwerpunktfragen zu Dublin-Verfahren, BT-Drs. 20/1533 vom 19.03.2025.
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  2. Constantin Hruschka ist Professor für Sozialrecht an der Evangelischen Hochschule Freiburg.
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