In der Bundesregierung steht Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) für eine restriktive Flüchtlingspolitik, bei vielen der von ihm vorangetriebenen Maßnahmen – seien sie eher auf der symbolischen Ebene oder mit handfesten Konsequenzen verbunden – geht es vor allem um eine doppelte Signalwirkung. Doppelt im Sinne einer angestrebten abschreckenden Wirkung gegenüber potenziellen Flüchtlingen, die gar nicht (mehr) versuchen sollen, nach Deutschland zu kommen, aber auch hinsichtlich einer Botschaft nach innen, dass man jetzt endlich was gegen diese ungewollte Zuwanderung macht. In diesem Kontext sind abschreckende Maßnahmen von großer Bedeutung, damit nicht nur die eher symbolische Ebene bleibt, die natürlich schnell als das erkannt wird, was sie ist und sein muss: keine wirkliche Hürde für den Versuch, nach Deutschland zu kommen.
Wenn hingegen tatsächlich Maßnahmen realisiert werden, die beispielsweise jede Leistung an die Menschen, die es nach Deutschland geschafft haben, zum Versiegen bringen oder wenn man der ursprüngliche Erwartung, wenn der oder die eine es geschafft hat, dann können die anderen nachkommen, den Boden entzieht,1 dann kann das eine strukturell abschreckende Durchschlagskraft entfalten, die vielleicht nicht unmittelbar, aber sicher mittel- und langfristig ihre angestrebte Wirkung entfalten wird.
Und wenn man diese Maßnahmen zumindest in einer ersten Phase auf bestimmte Fälle beschränken kann (bzw. muss), die am Rande des Flüchtlingskolletivs angesiedelt sind, dann wird man zumindest in der breiten Öffentlichkeit keine große Ablehnung erfahren, nicht nur, weil sich generell die Stimmung gegen die (weitere) Aufnahme von Flüchtlingen entwickelt hat, sondern weil man hier sehr gut operieren kann mit dem Narrativ, dass es „nur“ um Leute geht, die eine restriktive Behandlung „verdienen“, weil sie keine Anrechte haben und sie nicht geschützt werden müssen.
Längere Vorrede, um zu einem „Problem“ für diejenigen zu kommen, die einen solchen Ansatz praktizieren wollen (oder meinen zu müssen). „Ärgerlich“ für sie wird es, wenn seitens der Gerichte Sand in das abschreckende Getriebe geworfen wird – und besonders „ärgerlich“ ist es, wenn das auf der höchsten Ebene der europäischen Rechtsprechung, also beim Europäischen Gerichtshof (EuGH), passiert oder zumindest durch eine noch ausstehende Entscheidung einzutreten droht.
An einem aktuellen Beispiel, das derzeit vor dem EuGH verhandelt wird, kann man das vertiefen und konkretisieren.
Existenzielle Fragen: Darf man einen „angemessenen Lebensunterhalt“ verweigern?
Wenn ein anderes EU-Land zuständig ist, sollen Asylsuchende in Deutschland auch keine Leistung erhalten – so ist die aktuelle politische Agenda.
Offensichtlich sprechen wir hier über die sogenannten „Dublin-Fälle“, also jene Flüchtlinge oder Asylsuchende, deren Zuständigkeit für das Asylverfahren nach der sogenannten Dublin-Verordnung (Verordnung (EU) Nr. 604/2013) geregelt ist.
| ➔ „Dublin-Fälle“: Das durchaus verständliche Ziel ist, dass jede asylsuchende Person nur in einem EU-Staat ein Asylverfahren durchläuft – um sogenannte Mehrfachanträge in verschiedenen Ländern zu verhindern. Mit diesem einfach und erst einmal nachvollziehbar daherkommenden System sind besondere Ungleichgewichte verbunden, vor allem hinsichtlich der Regelung die Ersteinreise betreffend: Wenn die Person zuerst in ein bestimmtes Land eingereist ist (z. B. über Italien oder Griechenland), ist dieses Land für das Asylverfahren zuständig. Wenn also eine Person in einem Land (z. B. Deutschland) Asyl beantragt, aber nach der Dublin-Verordnung ein anderes Land (z. B. Italien oder Polen) eigentlich für das Verfahren zuständig ist, dann kann Deutschland (oder das jeweilige Land) ein sogenanntes Dublin-Verfahren einleiten, um die Person in den zuständigen Staat zu überstellen. Soweit die Theorie. Und die Praxis? Ernüchternd, wenn man nur die Zahlen betrachtet:2 Im Jahr 2024 wurden 74.583 Übernahmeersuchen von Deutschland an andere Mitgliedstaaten gestellt. Davon wurden rund 44.431 Zustimmungen durch die angefragten Mitgliedstaaten erteilt. Und tatsächlich erfolgten 5.827 Überstellungen von Asylbewerbern aus Deutschland in andere Dublin-Staaten im Jahr 2024. Umgekehrt wurden im gleichen Jahr etwa 4.592 Überstellungen nach Deutschland vorgenommen (also von anderen Staaten nach Deutschland) im Rahmen des Dublin-Verfahrens. |
Zurück zu der Thematik, die nun beim EuGH liegt: Wenn ein anderes EU-Land zuständig ist, sollen Asylsuchende in Deutschland auch keine Leistung erhalten – so beginnt der Beitrag „Mehr als ein Recht auf Überleben“ von Constantin Hruschka.3 »Ein junger Afghane klagte gegen den entsprechenden Bescheid des Kreises Schweinfurt, inzwischen liegt der Fall beim Europäischen Gerichtshof (EuGH).«
Nun hat der Generalanwalt in diesem Verfahren seine Schlussanträge vorgelegt (Anträge v. 23.10.2025, Az. C-621/24).
»Danach sei Menschen ein angemessener Lebensunterhalt zu gewähren, selbst wenn ein Überstellungsbescheid in den anderen Mitgliedstaat vorliegt. Sollte sich der EuGH diesen Anträgen anschließen, hätte dies massive Auswirkungen auf die Vorhaben zu Leistungskürzungen in Deutschland, auf die Bezahlkarte – und auf die Pläne im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS).«
Hier muss man eine Menge Hintergrundwissen haben oder bekommen, um das wirklich einordnen zu können. Hruschka erläutert uns die eigentliche Rechtslage und die Abweichungen in Teilen der Realität:
»Die für das Verfahren relevanten deutschen Normen finden sich im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylblG). Das regelt unter anderem die Leistungen für asylsuchende und ausreisepflichtige Personen. Hinzu kommt die europäische Aufnahmerichtlinie (aktuell: RL 2013/33/EU), danach sind asylsuchenden Personen „Unterkunft, Verpflegung und Kleidung in Form von Sach- oder Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination davon sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs“ zu gewähren, um für diese Personen „einen „angemessenen Lebensstandard“ zu gewährleisten (Art. 17 Abs. 5 AufnahmeRL). Diese Verpflichtung gilt auch in sog. Dublin-Verfahren also in Verfahren, in denen aufgrund der Dublin-Verordnung ein anderer Staat als Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist oder sein könnte.«
Also eigentlich wieder alles klar – oder? Nein, denn mittlerweile versucht man einen Leistungsausschluss für bestimmte Fälle – man hat hier die Daumenschreiben ordentlich angezogen:
»In Deutschland wird diese Verpflichtung schon länger für Personen in Zweifel gezogen, für die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in einem Bescheid („Dublin-Bescheid“) festgestellt hat, dass ein anderer europäischer Staat für das Asylverfahren zuständig ist. Zwischen August 2019 und Oktober 2024 galt gem. § 1a Abs. 7 AsylbLG eine automatische Leistungseinschränkung für asylsuchende Personen, denen ein Dublin-Bescheid zugestellt wurde. Seit Oktober 2024 sind diese Personen ab Zustellung des Bescheids von Leistungen nach dem AsylbLG ganz ausgeschlossen (§ 1 Abs. 4 AsylbLG), wenn das BAMF im Bescheid feststellt, dass die (selbstorganisierte) Ausreise in den zuständigen Staat „rechtlich und tatsächlich möglich ist“. Die Folgen von Leistungsabsenkung und Leistungsausschluss sind in der Praxis weitreichend, da bestimmte Leistungen nicht mehr oder nur reduziert gewährt werden.«
Dem EuGH vorgelegt hat das Verfahren das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel. Das hatte in einem Verfahren eines jungen Afghanen gegen den Landkreis Schweinfurt Zweifel an der Rechtmäßigkeit der – damals noch geltenden – automatischen Leistungseinschränkungen.
Hruschka notiert zum bisherigen Verfahrensablauf:
»Schon in der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH am 4. September 2025 wurde deutlich, dass die Position der deutschen Regierung, die Regelung sei mit europäischen Recht vereinbar, einen schweren Stand hat – was auch allen beteiligten Parteien inklusive der Bundesregierung angesichts der klaren Rechtsprechung des EuGH zur Versorgung von Schutzsuchenden schon vorher klar gewesen sein müsste und dürfte.«
Und insofern kann das hier dann nicht verwundern:
»Entsprechend lauteten die Schlussanträge des Generalanwalts Richard de la Tour, dass eine nationale Regelung zum automatischen Ausschluss von bestimmten Leistungen nach der Zustellung eines Dublin-Bescheids gegen die Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie verstößt. Dieses Vorgehen garantiere den Menschen keinen angemessenen Lebensstandard, rechtlich tragfähige Gründe für eine Leistungsabsenkung erkannte er nicht.«
Daher seien die „grundlegenden und unmittelbaren Bedürfnisse“ der asylsuchenden Personen unabhängig vom Erhalt eines Dublin-Bescheides bis zur Überstellung zu erfüllen.
Und was für Leistungen müssen es aus Sicht des Generalanwalts beim EuGH sein?
»Die Leistungen müssten angemessene sein, also „den Lebensunterhalt des Antragstellers und den Schutz seiner physischen und psychischen Gesundheit sicherstellen“. Dies umfasse zwar nur die Grundbedürfnisse, gehe „aber über das bloße Recht auf Überleben hinaus“. Die Mindestschwelle seien nach der EuGH-Rechtsprechung die Integrität und die Würde der Menschen, damit dürften Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Kleidung sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts nicht gestrichen werden.«
Hoch brisant vor dem Hintergrund von Entwicklungen in Deutschland sind die Ausführungen, die man dem Beitrag zum Thema Geldleistungen entnehmen kann:
»Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs seien ein wesentlicher Bestandteil der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen. Sie ermöglichten ein Mindestmaß an Unabhängigkeit. Das habe die Kommission selbst in der mündlichen Verhandlung dieses Falles mehrfach betont. Die deutsche Regelung sei daher „umso problematischer, als sie auf einem automatischen Entzug dieser Leistungen beruht“. Dabei werde das Regel-Ausnahmeverhältnis umgekehrt, da die Gewährung individuell angemessener Leistungen nur auf Antrag möglich sei.«
»Daher ist die deutsche Regelung nach Ansicht des Generalanwalts unionsrechtswidrig, weil sie eine Person automatisch von wichtigen Teilaspekten dieser Grundbedürfnisse nach einer Überstellungsentscheidung ausschließt. Sie sei daher nicht von den Vorgaben des Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 und Abs. 5 AufnahmeRL, der die Versorgung regelt, gedeckt.«
Nun muss daran erinnert werden, dass das Verfahren die alte Regelung betrifft, die mittlerweile noch verschärft worden ist. Also schon die früheren Leistungseinschränkungen sind nach Auffassung des Generalanwalts europarechtswidrig.
»Dies gilt … damit erst recht für den aktuell geltenden umfassenden Leistungsausschluss bei der Möglichkeit zur Selbstausreise: Die Versorgung der Personen – da sind sich alle handelnden Behörden einig – darf nicht komplett eingestellt werden.«
Und Hruschka entfaltet im weiteren Gang seiner Darstellung eine ganze Batterie an möglichen Hindernissen für diejenigen, die eine restriktive, abschreckende Flüchtlingspolitik in Deutschland praktizieren wollen oder sollen.
»Spätestens mit dem anstehenden EuGH-Urteil müssen die deutschen Behörden und Gerichte die Regelung des § 1 Abs. 4 AsylbLG unangewendet lassen, da die volle Wirksamkeit der unionsrechtlichen Vorgaben von den Mitgliedstaaten jederzeit sichergestellt werden muss, ggf. aus eigener Entscheidungsbefugnis. Sie dürfen nicht ein gerichtliches Verfahren oder das Handeln des Gesetzgebers abwarten (EuGH, Urt. v. 09.03.1978, Az. 106/77 Simmenthal II). Teilweise gilt dies schon jetzt, da der Generalanwalt etwa zu Leistungseinschränkungen ausführt, dass nach der Rechtsprechung des EuGH selbst bei individuell vorwerfbarem Verhalten, sich die Leistungshöhe an der genannten Mindestschwelle der Achtung der Menschenwürde orientieren muss (EuGH, Urt. v. 01.08.2022, C-422/21, TO, Rn. 43 ff.).«
➔ »Doch welche Leistungen müssen gewährt werden? Hamburg und Brandenburg haben für die Versorgung der Menschen sog. Dublin-Zentren eingerichtet, deren Funktionsweise noch weitgehend unklar ist und die jedenfalls haftähnlichen Charakter haben. Die Unterbringung in solchen Zentren ist angesichts der klaren Ausführungen des Generalanwalts zum Gleichbehandlungsgrundsatz wohl auch als europarechtswidrig anzusehen.«
Aber nicht nur die sogenannten und auch in Deutschland umstrittenen „Dublin-Zentren“ stehen damit möglicherweise zur Disposition – Hruschka sieht weitere große Baustellen, beispielsweise bei der Bezahlkarte:
»Als Konsequenz der Ausführungen des Generalanwalts ergeben sich weitere Fragen hinsichtlich der Unionsrechtswidrigkeit der aktuellen deutschen Rechtslage, etwa beim Einsatz der Bezahlkarte und der Ungleichbehandlung von asylsuchenden Personen aus sicheren Herkunftsländern beispielsweise bei der Unterbringung und beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Auch die Rechtmäßigkeit der mit dem Anpassungsgesetz zum GEAS geplanten Zentren für Sekundärmigration steht in Frage, da diese zu einer systematischen Ungleichbehandlung asylsuchender Personen führen würden.«
Nachtrag am 06.11.2025: Aus den Tiefen und Untiefen des „Dublin-Systems“ am Beispiel aktueller verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung in Deutschland
Max Kolter berichtet in seinem Beitrag Asylverfahren in Polen leidet unter „systemischen Mängeln“ über den folgenden Sachverhalt:
»Seit die Rapid Support Forces die Stadt Al-Faschir in der vergangenen Woche eingenommen haben, erreicht der Bürgerkrieg im Sudan einen neuen Höhepunkt der Brutalität. Es kommt zu Massenmorden und Vergewaltigungen, die Blutlachen sind sogar auf Satellitenbildern zu erkennen. Es steht der Vorwurf des Völkermordes im Raum, die Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs haben Ermittlungen angekündigt.
Der blutige Machtkampf ist im Frühjahr 2023 ausgebrochen. Im September gelang einem 33-jährigen Mann aus dem Sudan die Flucht, er reiste nach Aufenthalten in Saudi-Arabien, Russland und Belarus im Sommer 2024 nach Polen ein, wo er einen Asylantrag stellte. Er gab an, bei seiner Ankunft an der belarussisch-polnischen Grenze geschlagen worden zu sein. Nach zwei Wochen reiste er weiter nach Deutschland, wo er erneut internationalen Schutz beantragte. Diesen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schließlich als unzulässig ab, denn nach den Dublin-Regeln sei Polen für das Asylverfahren zuständig, das sich zur Rücknahme auch bereiterklärt hatte. Zudem ordnete das BAMF die Abschiebung des Mannes nach Polen an.«
»Gegen diesen Bescheid klagte der Mann und hatte damit vor dem Verwaltungsgericht (VG) Hannover Erfolg (Urt. v. 15.10.2025, Az. 15 K 3036/24). In Polen bestünden „systemische Mängel des Asylverfahrens“. Aktuell hätten Dublin-Rückkehrer und Personen, die über Belarus eingereist sind, in Polen „mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zum Asylverfahren“, so das Gericht. Diesen Personen „drohen deshalb Inhaftierung und Abschiebungen in ihre Herkunftsländer“. Aufgrund dieser Mängel sei die Zuständigkeit für das Asylverfahren auf Deutschland übergegangen, der BAMF-Bescheid rechtswidrig.«
Dabei ist doch eigentlich alles klar geregelt: Rechtsgrundlage ist die Dublin-III-Verordnung. Die sieht vor, dass im Regelfall der Mitgliedstaat für ein Asylverfahren zuständig ist, in dem der Schutzsuchende zuerst EU-Boden betritt. Bereits danach wäre Polen hier zuständig, zudem hat der Sudanese dort zuerst einen Antrag gestellt.
Aber auch hier geht es um würdige bzw. unwürdige Lebensbedingungen: »Das VG Hannover wendete jedoch Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 der Verordnung an, wonach die Zuständigkeit dann auf den um Überstellung ersuchenden Mitgliedstaat – hier Deutschland – übergeht, wenn das Asylverfahren im eigentlich zuständigen Staat „systemische Schwachstellen“ aufweist, „die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen“.« Ihre Einschätzung stützt die Kammer auf Berichte der EU-Kommission und verschiedener NGOs.
Das Gericht stützt sich bei der Entscheidung auf strukturelle Bedingungen, die dazu beitragen, dass der asylsuchende Mensch gar keinen Antrag stellen kann:
»Zum einen verweigere Polen Dublin-Rückkehrern die Wiederaufnahme ihres bereits initiierten Asylverfahrens und verweise sie stattdessen darauf, einen neuen Asylantrag (Asylfolgeantrag) zu stellen, der regelmäßig keine Erfolgsaussicht habe. Zum anderen verweigere Polen seit Mitte September die Annahme von Asylanträgen von Asylsuchenden, die über Belarus eingereist sind. „Dublin-Rückkehrer haben aufgrund dieser konfligierenden Regelungen, jedenfalls bei einer vorherigen Einreise über Belarus, keinen Zugang mehr zum polnischen Asylverfahren“, so das Resümee des Gerichts.«
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Und wir sind ja erst ganz unten auf der Instanzenleiter.
Fußnoten
- Um die hier angesprochene Frage des Familiennachzugs geht es in einem weiteren Verfahren, das derzeit beim EuGH verhandelt wird. Das soll in diesem Beitrag nicht vertieft werden, aber einige Hinweise sind angebracht, denn es verdeutlicht zugleich auch die komplexen Folgen für ein rechtssicheres Verhalten durch eine immer differenziertere Rechtsprechung, was man durchaus auch kritisch sehen kann. Vgl. für die folgende Darstellung den Beitrag Rechtswidrige deutsche Praxis darf nicht zu Lasten der Flüchtlinge gehen, in: Legal Tribune Online, 30.10.2025:
Konkret geht es scheinbar nur um einen Einzelfall, der aber grundsätzliche Folgen haben wird, wenn das Gericht dem Plädoyer des Generalanwalts folgt. Seit Jahren laufen Debatten über das Recht auf Familienzusammenführung, wenn der Schutzsuchende im Laufe des Verfahrens volljährig wird – und noch immer gibt es trotz Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) offene Fragen. Bereits im Jahr 2018 urteilte der EuGH, dass lange Verfahrensdauern nicht zu Lasten der Schutzsuchenden gehen können – das Recht auf Familienzusammenführung für Asylbewerber also auch besteht, wenn unbegleitete Minderjährige im Laufe des Asylverfahrens volljährig werden (Urt. v. 12.04.2018, Az. C-550/16). Der Antrag auf Zusammenführung muss allerdings grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt werden, entschied der EuGH – und korrigierte damit die bis dahin anderslautende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG). Dieses hatte den Anspruch mit Erreichen der Volljährigkeit generell verneint.
Doch was gilt für die Familienzusammenführung von den seinerzeit Minderjährigen, die vor Verkündung des EuGH-Urteils von 2018 volljährig wurden? Dazu hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg eine Vorlage beim EuGH gemacht.
Zum Sachverhalt: Ein Syrer hatte als Minderjähriger seinen Asylantrag gestellt. Im Laufe des Verfahrens wurde er volljährig, danach erst kam die Anerkennung als Flüchtling – und fast noch ein Jahr später erging est das EuGH-Urteil C-550/16. Seine Eltern – in der Türkei lebende Syrer – hatten bis dahin keinen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt. Ursprünglich, weil ein solcher Antrag erst nach der Anerkennung des Sohnes als Flüchtling gestellt werden konnte. Und danach nicht, weil sie ihn wegen der Rechtsprechung des BVerwG für aussichtslos hielten. Keine zwei Wochen nach Verkündung des EuGH-Urteils, mit Schreiben vom 24. April 2018, beantragte der junge Mann aber die Familienzusammenführung und vorsorglich auch die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand. Auch seine Eltern beantragten innerhalb von drei Monaten nach dem Urteil entsprechende Visa in der Türkei. Das alles geschah also ein gutes Jahr nach Anerkennung des Sohnes als Flüchtling, aber innerhalb von drei Monaten nach Verkündung des wegweisenden EuGH-Urteils.
Dem Generalanwalt Jean Richard de la Tour reicht das für den Anspruch. In einem solche Fall sollte nach seiner Ansicht keine starre Dreimonatsfrist ab Verkündung gelten. Allerdings produziert der Generalanwalt selbst eine neue Frist: Der Antrag sollte spätestens innerhalb von sechs Monaten ab der Verkündung des Urteils gestellt werden müssen, so sein Vorschlag an das Gericht.
Die deutsche Rechtsprechung, mit der die Familienzusammenführung bei Erreichen der Volljährigkeit versagt wurde, war unionsrechtswidrig – und das nicht erst mit Verkündung des entsprechenden EuGH-Urteils. Wegen der besonderen Schutzwürdigkeit des Minderjährigen hätte dessen Asylantrag sogar bevorzugt geprüft werden müssen, das Verfahren dauerte aber elf Monate – und damit nach Ansicht des Generalanwalts deutlich zu lange.
Es sei nun Sache des OVG, so der Generalanwalt, „die volle Wirksamkeit“ von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86 zu gewährleisten. Das würde bedeuten, die durch den Unionsrechtsverstoß verursachten rechtswidrigen Folgen zu beseitigen und insbesondere den bei betroffenen Personen entstandenen Schaden zu beheben.
Und mit Relevanz über den Sachverhalt hinaus: Die Bundesregierung hatte in diesem Verfahren noch vorgeschlagen, eine maximale Altersgrenze von 21 Jahren für die Familienzusammenführung auszusprechen. Das hält der Generalanwalt aber weder für nötig noch für „angebracht“.
↩︎ - Vgl. dazu auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage im Deutschen Bundestag: Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das Jahr 2024 – Schwerpunktfragen zu Dublin-Verfahren, BT-Drs. 20/1533 vom 19.03.2025.
↩︎ - Constantin Hruschka ist Professor für Sozialrecht an der Evangelischen Hochschule Freiburg.
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