„Flucht“ in die Leiharbeit. In der Pflege. Was ist daraus geworden?

Der eine oder andere wird sich erinnern: Unmittelbar nach den beiden Corona-Pandemie-Jahren häuften sich die Berichte in den Medien über einen Boom der Leiharbeit in der Pflege (vgl. als Beispiel diesen Artikel: Leiharbeit in der Pflege: Ohne geht es fast nicht mehr in Rheinland-Pfalz). Aus den Krankenhäusern, vor allem aber aus der stationären Langzeitpflege gab es zahlreiche Meldungen über eine zunehmende Inanspruchnahme von Leiharbeitskräften in den Einrichtungen. Zeitweilig konnte man den Eindruck bekommen, dass immer mehr Pflegekräfte in die Leiharbeit „flüchten“, weil sie dort – anders als das, was man sonst mit Leih- und Zeitarbeit verbindet – deutlich bessere Arbeitsbedingungen vorfinden als die Stammbelegschaft in einer Einrichtung oder eines Pflegedienstes. 

Und auf dem Höhepunkt einer wie so oft hyperventilierenden Berichterstattung, wenn Medien einzelne Entwicklungen unter ihr Vergrößerungsglas legen und nur das Thema hektisch aufblasen und keine Einordnung und damit häufig verbunden auch keine Relativierung hinbekommen, wurde nicht nur der Eindruck verfestigt, dass es eine große Abwanderungswelle in die Leiharbeit („auf Kosten derjenigen, die in den Einrichtungen bleiben und diese am Laufen halten, obgleich sie viel weniger Geld bekommen und die unangenehmen Dienste abdecken müssen“) gibt, sondern dass man nun dringend die Leiharbeit bestenfalls verbieten sollte in der Pflege, damit es keinen Anreiz mehr gibt, aus der Stamm- in die Leihbelegschaft zu wechseln, um dort das große Geld machen zu können. Diese Forderung wurde tatsächlich und frühzeitig in den politischen Prozess eingespeist (vgl. dazu aus der Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie – in der bereits intensiv über eine (angebliche) „Flucht in die Leiharbeit“ in der Pflege diskutiert wurde – den Beitrag Aus der mal nicht eindeutigen Welt der Leiharbeit. In der Pflege. Oder: Wenn ausnahmsweise Arbeitgeber vor Leiharbeitern geschützt werden sollen vom 20. Januar 2020).

In diesem Umfeld konnten gemäßigte Stimmen kaum oder überhaupt nicht durchdringen. Stimmen, die darauf hinzuweisen versuchten, dass man die Kirche angesichts der Größenordnung, gemessen als Anteilswert der Leiharbeiter/innen an der Zahl der Gesamtbeschäftigten, bitte im Dorf lassen sollte. Oder die zu bedenken gaben, dass es einen „natürlichen Deckel“ nach oben bei der Expansion der Zahl der in Leiharbeit beschäftigten Pflegekräfte gibt, denn der Wechsel zu einer Leiharbeitsfirma und vor allem der flexible Einsatz in ganz unterschiedlichen Einrichtungen, neben der grundsätzlichen Nicht-Einbettung in die normale Belegschaft verbunden mit zunehmenden Vorbehalten gegenüber den nur begrenzte Zeit unter eigenen Bedingungen operierenden Leasingkräften. Solche Rahmenbedingungen – eine höhere Vergütung hin und möglicherweise ein Firmenwagen her – sind nur für eine begrenzte Zahl an Arbeitnehmern wirklich attraktiv, so dass bereits aus diesen Gründen ein starkes Wachstum der Zahl der Pflegekräfte in Leiharbeit unwahrscheinlich erscheint.

Hinzu kommt, dass allein betriebswirtschaftliche Gründe dafür sorgen werden, dass die Nachfrage nach Leasingkräften begrenzt bleibt und ab einem bestimmten Punkt sogar (ohne gesetzliches Einschreiten) sinken muss – und zwar in einer Wirkungsumkehr der gleichen betriebswirtschaftlichen Gründe, die den Impuls für eine steigende Nachfrage ausgelöst haben. Das scheint nur auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein.

➔ Beispiel Pflegeheime: Der Rückgriff auf Leiharbeitskräfte zur Aufrechterhaltung eines vorgegebenen Personalschlüssels war in vielen Einrichtungen aus der Not geboren, überdurchschnittlich hohe krankheitsbedingte Personalausfälle zu überbrücken und darüber hinaus aufgrund des Fachkräftemangels nicht besetzbare „normale“ offene Stellen wenigstens mit Leasingkräften (ebenfalls überbrückend) zu bestücken, um den Betrieb am Laufen zu halten. Denn die Alternative wäre aufgrund der Regulierungsvorschriften, dass man eine bestimmte Anzahl an vorhandenen Plätzen in den Einrichtungen nicht mehr belegen kann aufgrund fehlenden Personals. Aber alles im Leben hat seinen Preis und der Preis im vorliegenden Fall war und ist besonders hoch. Eine Faustregel sagt, dass die Kosten für eine Leiharbeitskräfte gut dreimal so hoch sind wie die einer „normalen“, festangestellten Fachkraft, was ja auch nicht überraschen kann, denn die verleihenden Unternehmen wollen – neben der Vergütung der Pflegekraft an sich – auch noch auf ihre Kosten kommen und eine Rendite erwirtschaften. Derart hohe Zusatzausgaben können nur dann mehr als kurzzeitig gestemmt werden, wenn sie entweder über den Pflegesatz kompensiert werden oder aber man über entsprechende aus Überschüssen generierte Reserven verfügt. Vor diesem Hintergrund wird es dann keinen überraschen, dass zahlreiche Pflegeheime nach einer ersten Phase des Zurückgreifens auf Leiharbeit diese aus Kostengründen wieder runterfahren mussten bzw. müssen. Das zeigt sich auch in den bundesweiten Daten:

Hinsichtlich des Anteils der Leiharbeitnehmer/innen an allen Beschäftigten, der in der Abbildung für 2024 mit 2,26 Prozent ausgewiesen wird: Man muss deutliche regionale Unterschiede bei der Nutzung von Leiharbeit zur Kenntnis nehmen: Im Hamburg war der Anteil mit 5,1 Prozent am höchsten, gefolgt von den beiden Stadtstaaten Bremen (4,4 Prozent) und Berlin (4,1 Prozent). Prozentual am wenigsten Leiharbeiter werden mit nur 0,5 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern eingesetzt. Bayern kommt auf 1,8 Prozent, Nordrhein-Westfalen auf 2,7 Prozent und Baden-Württemberg auf 3,0 Prozent.(Quelle: BT-Drs. 20/13759 vom 12.11.2024; es handelt sich um die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Sachstand der Arbeitnehmerüberlassung in der Pflege und im Krankenhaus“).
Die damalige Bundesregierung hat in ihrer Antwort auch Daten zu den Einkommensverhältnissen geliefert. Das Medianentgelt von Leiharbeitern in der Pflege lag im Dezember 2023 bei 4.015 Euro brutto im Monat. Im Vergleich dazu verdienten festangestellte Pflegekräfte im Median 3.865 Euro. Der Unterschied von brutto 150 Euro oder 3,4 Prozent zeigt, dass Leiharbeit zwar etwas besser vergütet wird, die Differenz jedoch geringer ausfällt als oft angenommen. Die Gehälter schließen Sonderzahlungen und Zuschläge ein. (Quelle: Thomas Hartung:
Zahl der Leiharbeiter in der Pflege um zehn Prozent gesunken, 25.11.2024).

Und schaut man sich die Entwicklung der Zahl der begonnenen Leiharbeitsverhältnisse in den Jahren 2014 bis 2023 an, dann erkennt man neben dem rückläufigen Trend am aktuellen Rand der Zeitreihe auch die Verschiebung der Nachfragestruktur dergestalt, dass seit 2018 die Dynamik der Nachfrage nach Leiharbeitskräften vor allem von der Nachfrage nach Fachkräften geprägt war:

Und der Gesetzgeber hat das betriebswirtschaftliche Dilemma beim Einsatz von Leiharbeitskräften verstärkt: Kein Verbort, aber …

Auch vor dem Hintergrund der aufgeheizten öffentlichen Debatte über eine (angebliche) Flucht in die Leiharbeit sowie angesichts von Forderungen seitens der Heimbetreiberseite, man solle doch die Leiharbeit in der Pflege generell verbieten, ist der Gesetzgeber in der Ampel-Koalition tätig geworden. Im Mai 2023 wurde das Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) beschlossen. Damit verbunden war eine Änderung des § 82c SGB XI (Wirtschaftlichkeit von Personalaufwendungen). Nach dieser durch das PUEG vorgenommenen Änderung dürfen Pflegeeinrichtungen die Mehrkosten für den Einsatz von Leiharbeitern künftig im Rahmen der Pflegesatzverhandlung nicht ansetzen. Stattdessen sollen maximal die in der Branche üblichen Tariflöhne als Obergrenze gelten. Auch Vermittlungsgebühren für die Zeitarbeitsfirmen können nicht als wirtschaftlich anerkannt werden (siehe § 82c Abs. 2b SGB XI, der wurde neu aufgenommen). 

Man muss aber anmerken, dass auch vor der Gesetzesänderung in vielen Fällen die Mehrkosten durch Leiharbeit in den Pflegesatzverhandlungen keine Berücksichtigung fanden. Eine nicht vermeidbare betriebswirtschaftlich unangenehme Konsequenz aus der gesetzlichen Klarstellung: Einrichtungen stehen vor der Entscheidung, ganze Wohnbereiche zu schließen oder weiterhin Leiharbeitskräfte zu höheren und nicht refinanzierten Kosten einzukaufen – beides führt jeweils zu Verlusten. Man sollte bedenken, dass die Pflegesätze in der Regel kalkuliert sind mit Auslastungsquoten von 95 Prozent und mehr.

Und abschließend: Was plant die neue Bundesregierung (nicht)?

Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD aus dem Frühjahr 2025 taucht das Thema durchaus wieder auf – mit zwei Sätzen, von denen einer irritierend ist und der andere wichtig:

»Wir erwirken geeignete Maßnahmen zur Reduktion der Unterschiede zwischen Leiharbeitnehmern und der Stammbelegschaft. Mehrkosten zur Schaffung von Springerpools sowie entsprechende Vergütungen für das Personal werden ausgeglichen.« (S. 113)

Was sollen „geeignete Maßnahmen zur Reduktion der Unterschiede zwischen Leiharbeitnehmern und der Stammbelegschaft“ sein? Meint das vielleicht eine Regelung, nach der Leiharbeitskräfte (die ja bei einem Arbeitnehmerüberlassungsunternehmen angestellt sind) nur genau das verdienen dürfen wie die Stammbeschäftigten in einem Pflegeheim? Wie soll das rechtskonform gehen und vor allem wie soll das praktikabel ausgestaltet werden?

Bedeutsamer ist der zweite Satz, dass die Mehrkosten zur Schaffung von Springerpools sowie entsprechende Vergütungen für das Personal ausgeglichen „werden“. Diese richtige Formulierung sollten wir uns merken. Da steht nicht wir überlegen oder es sollte ausgeglichen werden, sondern die Mehrkosten, die bei Springerpools unvermeidlich anfallen, werden ausgeglichen. Da sollte man die neue Bundesregierung wenn notwendig daran erinnern. Und das einfordern.