Regelmäßig veröffentlicht das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit Daten sowohl zur Tarifbindung wie auch der betrieblichen Mitbestimmung über Betriebs- und Personalräte der Betriebe und der Beschäftigten in Deutschland sowie getrennt nach West- und Ostdeutschland. Datengrundlage ist das Betriebspanel des IAB.1 Und verfolgt man die Entwicklung dieser wichtigen Parameter der Arbeitsbeziehungen in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre, dann sind die Befunde ernüchternd.
»Sowohl die Tarifbindung als auch die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland verlieren weiter an Bedeutung. Mittlerweile arbeiten lediglich 41 Prozent aller Beschäftigten in Betrieben mit Branchentarifvertrag, weitere 8 Prozent in Betrieben mit Haustarifvertrag. Und in privatwirtschaftlichen Betrieben ab fünf Beschäftigten werden nur rund 37 Prozent der Beschäftigten durch Betriebsräte vertreten«, berichten Christian Hohendanner und Susanne Kohaut in ihrem Beitrag Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung: keine Trendwende in Sicht, in dessen Überschrift wenigstens die Möglichkeit einer anderen Entwicklung angesprochen wird.
Hohendanner und Kohaut steigen ganz grundsätzlich ein in das Thema: »Seit mehr als 70 Jahren wird das deutsche System der Arbeitsbeziehungen durch drei wesentliche Elemente geprägt: das Tarifvertragsgesetz, die im Grundgesetz verankerte Koalitionsfreiheit als Fundament der Tarifautonomie sowie die gesetzlichen Bestimmungen zur betrieblichen Interessenvertretung durch Betriebs- und Personalräte.«
»Eine zentrale Rolle spielen dabei überbetriebliche Branchen- oder Flächentarifverträge … Die Vereinbarung von Löhnen und Arbeitsbedingungen kann aber auch auf Unternehmensebene durch Firmen- oder Haustarifverträge mit den Gewerkschaften oder in individuellen Arbeitsverträgen erfolgen. Letztere finden vorwiegend in kleineren Betrieben Anwendung.«
Tarifbindung auf dem Sinkflug
Seit 1996 sinkt der Anteil der Beschäftigten, die in branchentarifgebundenen Betrieben arbeiten, kontinuierlich. Das IAB-Betriebspanel zeigt, »dass die Branchentarifbindung sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern kontinuierlich abnimmt. Sie sank zwischen 1996 und 2024 insgesamt von 67 auf 41 Prozent. Diese Entwicklung ist weitestgehend auf den Rückgang der Branchentarifbindung in der Privatwirtschaft von 63 auf 33 Prozent zurückzuführen, denn die Flächentarifbindung im öffentlichen Sektor blieb im betrachteten Zeitraum weitgehend stabil.«

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Betriebsräten in der Privatwirtschaft
Hier muss eine Vorbemerkung gemacht werden: Bei der Betrachtung der betrieblichen Mitbestimmung ist zu berücksichtigen, dass das Betriebsverfassungsgesetz erst ab einer Betriebsgröße von fünf Beschäftigten greift. Bei etwa 37 Prozent der Betriebe ist dies nicht der Fall, da diese Betriebe nach Auswertungen des IAB-Betriebspanels unter der Betriebsgrößenschwelle von fünf Beschäftigten liegen. Dennoch hat ein Großteil der Arbeitnehmer Anspruch auf Gründung eines Betriebsrates, da lediglich etwa 6 Prozent aller Beschäftigten in Kleinbetrieben mit weniger als fünf Mitarbeitern tätig sind.
»Die Entwicklung der betrieblichen Mitbestimmung in privatwirtschaftlichen Betrieben mit mindestens fünf Beschäftigten zeigt eine ähnliche, wenn auch weniger ausgeprägte Tendenz wie bei der Tarifbindung: Sie weist im Zeitverlauf einen insgesamt deutlich rückläufigen Trend auf, auch wenn 2024 mit etwa 37 Prozent geringfügig mehr Beschäftigte in Betrieben mit Betriebsrat arbeiteten als im Vorjahr mit 36 Prozent.«
Fazit: »Sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland sind Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung durch Betriebs- und Personalräte seit Jahren tendenziell rückläufig.«
Auf dem Weg in eine tarif- und betriebsratsfreie Arbeitslandschaft?
Die seit Jahren laufende „Entkernung“ des Doppel-Systems aus Tarifverträgen einerseits und betrieblicher Mitbestimmung über Betriebsräte andererseits wird besonders eindrücklich erkennbar, wenn man sich die Entwicklung der Zahl der Beschäftigten seit Mitte der 1990er Jahre anschaut, die weder eine Tarifbindung noch einen Betriebsrat in ihren Betrieben haben:

Die neue Bundesregierung als Retter in der Not?
»Die Bundesregierung beabsichtigt laut Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode, dem schleichenden Bedeutungsverlust von Tarifbindung und betrieblicher Mitbestimmung entgegenzuwirken. Sie plant die Einführung eines Tariftreuegesetzes, um die Tarifbindung zu stärken, sowie die Anpassung der betrieblichen Mitbestimmung an die fortschreitende Digitalisierung, indem sie digitale Formate ermöglicht und entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen fördert. Zugleich soll die Mitgliedschaft in Gewerkschaften steuerlich begünstigt werden«, so Hohendanner und Kohaut im Ausblick ihres Beitrags.
Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD findet man unter der Überschrift „Mindestlohn und Stärkung Tarifbindung“ dazu die folgenden Vereinbarungen – oder schreiben wir besser Versprechen:
»Unser Ziel ist eine höhere Tarifbindung. Tariflöhne müssen wieder die Regel werden und dürfen nicht die Ausnahme bleiben. Deswegen werden wir ein Bundestariftreuegesetz auf den Weg bringen. Das Bundestariftreuegesetz gilt für Vergaben auf Bundesebene ab 50.000 Euro und für Start-ups mit innovativen Leistungen in den ersten vier Jahren nach ihrer Gründung ab 100.000 Euro. Bürokratie, Nachweispflichten und Kontrollen werden wir auf ein absolutes Minimum begrenzen … Wir werden die Mitbestimmung weiterentwickeln. Wir ermöglichen Online-Betriebsratssitzungen und Online-Betriebsversammlungen zusätzlich als gleichwertige Alternativen zu Präsenzformaten. Zusätzlich soll die Option, online zu wählen, im Betriebsverfassungsgesetz verankert werden. Wir ergänzen das Zugangsrecht der Gewerkschaften in die Betriebe um einen digitalen Zugang, der ihren analogen Rechten entspricht. Der Einsatz von KI im Unternehmen erfordert sowohl die Qualifizierung der Beschäftigten als auch die faire Regelung des Umgangs mit den Daten im Betrieb. Wir machen die Mitgliedschaft in Gewerkschaften durch steuerliche Anreize für Mitglieder attraktiver.« (S. 18-19) |
Die ehemalige Bundesregierung hat es auch schon mal versprochen
Moment, mag der eine oder andere hier einwenden. Haben die etwa aus dem Vorgänger-Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2021, der damals zwischen SPD, Grünen und FDP geschlossen wurde, copy and paste gemacht? Dort findet man unter der Überschrift „Tarifautonomie“ sowie „Mitbestimmung“ die folgenden Vereinbarungen:
»Wir wollen die Tarifautonomie, die Tarifpartner und die Tarifbindung stärken, damit faire Löhne in Deutschland bezahlt werden – dies befördert auch die nötige Lohnangleichung zwischen Ost und West. Zur Stärkung der Tarifbindung wird die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrages der jeweiligen Branche gebunden, wobei die Vergabe auf einer einfachen, unbürokratischen Erklärung beruht. Betriebsausgliederung bei Identität des bisherigen Eigentümers zum Zwecke der Tarifflucht werden wir verhindern, indem wir die Fortgeltung des geltenden Tarifvertrags sicherstellen … Die Mitbestimmung werden wir weiterentwickeln. Betriebsräte sollen selbstbestimmt entscheiden, ob sie analog oder digital arbeiten. Im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Maßstäbe werden wir Online-Betriebsratswahlen in einem Pilotprojekt erproben. Wir schaffen ein zeitgemäßes Recht für Gewerkschaften auf digitalen Zugang in die Betriebe, das ihren analogen Rechten entspricht … Die Behinderung der demokratischen Mitbestimmung stufen wir künftig als Offizialdelikt ein. Gemeinsam mit den Kirchen prüfen wir, inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann. Verkündungsnahe Tätigkeiten bleiben ausgenommen.« (S. 56) |
➔ In der Ampel-Regierung gab es durchaus, wenn auch sehr schleppend, gesetzgeberische Bestrebungen, die Versprechen aus dem Koalitionsvertrag von 2021 auch Wirklichkeit werden zu lassen. So wurde Anfang September 2024 geschlagzeilt: Nur wer Tariflohn zahlt, bekommt Aufträge vom Bund: »Öffentliche Aufträge auf Bundesebene sollen künftig nur noch an Betriebe gehen, die sich an die Tarifverträge ihrer Branche halten. So will Arbeitsminister Heil Nachteile ausgleichen. Um die sinkende Tarifbindung zu stoppen, legt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) einen Referentenentwurf zum lange angekündigten Tariftreuegesetz vor. Zugleich will er den Gewerkschaften ein digitales Zugangsrecht zu den Betrieben gewähren und die Möglichkeiten zur Tarifflucht einschränken.«
Die Meldung wurde platziert kurz vor der beabsichtigten Veröffentlichung eines Referentenentwurfs – aber das verzögerte sich dann wegen koalitionsinterner Differenzen – man muss nicht lange rätseln, wer da von den drei Ampel-Parteien auf die Bremse trat. Der Artikel Nächster Ampel-Streit droht – Tariftreuegesetz stockt wurde beispielsweise mit einem Foto bebildert, dass den ehemaligen Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) neben dem ebenfalls ehemaligen Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zeigt.
Mit Verzögerung, am 24. Oktober 2024, wurde dann aus dem federführenden Bundesarbeitsministerium der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie durch die Sicherung von Tariftreue bei der Vergabe öffentlicher Aufträge des Bundes und weitere Maßnahmen. »Künftig sollten demnach nur noch Unternehmen Aufträge und Konzessionen vom Bund erhalten, die sich verbindlich an die Bedingungen des in der Branche gültigen Tarifvertrags halten. Diese Pflicht soll auch für Nachunternehmer und Verleihunternehmen gelten, die der Auftragnehmer gegebenenfalls bei der Ausführung einschaltet. Die Tariftreue beinhaltet nicht nur den gültigen Tariflohn, sondern auch bezahlten Mindestjahresurlaub, Höchstarbeitszeiten, Ruhezeiten und Pausenzeiten. Die Bundesauftraggeber sollen die Einhaltung der Tarifvertragsbedingungen kontrollieren, künftig sollen sie dabei durch eine »neu einzurichtende Prüfstelle Bundestariftreue unterstützt« werden. Die Prüfstelle soll bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See angesiedelt werden und zunächst 13 Planstellen umfassen. Festgestellte Verstöße sollen vom Bundesauftraggeber »zivilrechtlich durch Vertragsstrafen sowie die außerordentliche Kündigung der Auftragsbeziehung sanktioniert werden« können, wie es im Entwurf heißt. Zugleich sollen Verstöße gegen die Tariftreueregelung zum Ausschluss von künftigen Vergabeverfahren führen.
Die Auftragnehmer sollen für die Einhaltung der Regel auch bei Nachunternehmen und eingesetzten Leiharbeitskräften haften. Entsprechende Regeln der Auftragsgeberhaftung gibt es als Vorbild bereits im Mindestlohngesetz und im Arbeitnehmer-Entsendegesetz.
Das Bundestariftreuegesetz soll die Nachteile tarifgebundener Unternehmen im Wettbewerb um öffentliche Aufträge und Konzessionen des Bundes beseitigen. »Der Verdrängungswettbewerb über die Lohn- und Personalkosten wird eingeschränkt«, heißt es in der Begründung des Entwurfs.«
Und es geht sogar noch weiter: »Der Gesetzentwurf wurde am 27. November vom Bundeskabinett beschlossen«, kann man auf der Seite Tariftreuegesetz des Bundesarbeitsministeriums lesen.
Der aufmerksame Leser wird nun sofort bemerken, dass das eine Handlungsfähigkeit vorgaukelt, die zu dem Zeitpunkt nicht mehr gegeben war, denn der Beschluss erfolgte von einem ausgedünnten Reste-Kabinett, nachdem die Ampel-Koalition Anfang November auseinandergebrochen wurde. Damit gehört der Vorstoß hin zu einem Bundestariftreuegesetz zu den zahlreichen gesetzgeberischen Baustellen mit sozialpolitischer Relevanz und Brisanz, die durch das vorzeitige Ende der Ampel in der Pipeline eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens stillgelegt wurden (vgl. dazu den Beitrag Ein sozialpolitisches Trümmerfeld als Hinterlassenschaft. Zahlreiche Gesetzesvorhaben der Ampel-Koalition bleiben auf den letzten parlamentarischen Metern liegen vom 9. November 2024). Auch dem Tariftreuegesetz ist die gesetzgeberische Pust ausgegangen und der Ansatz wartet auf eine mögliche Neuauflage.
Zurück in die Gegenwart: Im neuen Koalitionsvertrag wurden offensichtlich einige unerledigte Punkte aus dem alten Koalitionsvertrag auf Wiedervorlage gelegt und andere sind über Bord gegangen (so der damalige Prüfauftrag das kirchliche Sonderarbeitsrecht betreffend).
Wetten, ob nun in der neuen Runde und in anderer Besetzung die wenigen hier relevanten Punkte wie ein Bundestariftreuegesetz oder die digitale Öffnung der betrieblichen Mitbestimmungsprozesse, auch tatsächlich nun endlich das Licht der gesetzgeberischen Welt erblicken werden, kann man gerne einreichen. Der Ausgang ist offen.
Fußnote
- Das IAB-Betriebspanel ist die einzige repräsentative Datenquelle, die jährlich über alle Wirtschaftszweige und Größenklassen hinweg Ergebnisse zu den Institutionen der Interessenvertretung liefert. Seit 1996 werden dort Informationen zur Tarifbindung und zur betrieblichen Interessenvertretung für Deutschland erhoben, so dass sie Betriebe auch über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgt werden können. Die aktuellen Ergebnisse beruhen auf Angaben von rund 15.000 Betrieben in Ost- und Westdeutschland. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die rund 2,1 Millionen Betriebe mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Insgesamt sind in diesen Betrieben knapp 40,6 Millionen Personen beschäftigt. (Quelle: IAB) ↩︎