Es ist immer wieder faszinierend, was Wissenschaftler herausfinden. Manche Ergebnisse kommen abstrakt, weltfremd oder irgendwie völlig irrelevant rüber. Aber zuweilen produzieren die auch Reaktionen wie: Das ist jetzt mal ein Befund, der überrascht.
Beispielsweise die Erkenntnis, dass man so etwas wie eine sozialwissenschaftliche Grundkonstante, nach der in Abhängigkeit von der sozioökonomischen Lage eine teilweise extrem ungleiche Verteilung von Lebenschancen, noch genauer: von der Dauer des Lebens, vorliegt, nicht nur bearbeiten kann im Sinne einer Abmilderung der Ungleichheit, sondern dass man diese beseitigen kann. Ein Schritt zu einem wahrhaft gleichen Leben, also einem gleich langen Leben.
Und wenn wir berücksichtigen, wie krass die Lebenserwartungsunterschiede in Abhängigkeit von Einkommen und Bildung beispielsweise sind oder sein können (vgl. dazu z.B. nur den Hinweis von Michael Marmot in seinem 2005 veröffentlichten Beitrag Social determinants of health inequalities, dass die Lebenserwartung zwischen Ländern um 48 Jahre und innerhalb der Länder um 20 Jahre oder mehr variiert) – ein Megathema der Ungleichheitsforschung und der Ausgangspunkt für zahlreichen sozialpolitische Klimmzüge der Gesellschaftsgestaltung -, dann erscheint es mehr als faszinierend, wenn Wissenschaftler behaupten, sie hätten gleichsam einen Schlüssel gefunden, mit dem man den Einfluss der Bildung auf die Lebenserwartung nicht nur etwas verringern, sonder sogar eliminieren kann.
Und Wissenschaftler müssen jenseits der bloßen Thesen auch eine möglichst gehaltvolle empirische Beweisführung vorlegen, mit der dann eine solche fundamentale Behauptung fundiert werden kann.
»Eine neue Studie zeigt, dass sich der Zusammenhang zwischen Bildung und Lebenserwartung nicht nur reduzieren, sondern sogar eliminieren lässt«, so die erst einmal steile Behauptung, die man in einem Beitrag finden kann, dessen Überschrift bereits einen Hinweis darauf gibt, mit welcher Quelle der wissenschaftlichen Beweisführung man diese These zu belegen glaubt: Klosterleben gleicht soziale Ungleichheiten aus. So ein Titel wird auch Atheisten unter Strom setzen. Schauen wir uns also einmal genauer an, was es damit auf sich haben soll. Der Beitrag beginnt mit einem Hinweis auf die Fortexistenz teilweise erheblicher Lebenserwartungsunterschiede, über die auch in diesem Blog immer wieder berichtet wurde, vor allem im Kontext rentenpolitischer Debatten, wo immer wieder die These vertreten wird, dass „wir“ doch alle älter werden und „wir“ deshalb auch etwas länger arbeiten können.
»Wer gebildet und wohlhabender ist, der lebt länger. Dieser Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und der Sterblichkeit gilt für alle Industrieländer und ist kein neues Phänomen, sondern eines, das schon seit Langem beobachtet wird. Der Unterschied ist immens – je nach betrachteter Bevölkerungsgruppe und Land beträgt er fünf bis zehn Jahre. Theoretisch hätte er sich auflösen müssen, seitdem Krankheiten verschwunden sind und sich die Lebensumstände geändert haben, von denen man dachte, dass sie ursächlich seien für die höhere Mortalität von Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status, wie zum Beispiel schlechte Hygienebedingungen und Infektionskrankheiten. Dem ist aber nicht so. Wenn man überhaupt eine Veränderung über den Verlauf der Zeit hinweg feststellen konnte, dann dahingehend, dass die Kluft in der Lebenserwartung zwischen sozioökonomisch schwachen und sozioökonomisch reichen Gruppen wächst.«
Das wird dann verknüpft mit der von den US-amerikanischen Wissenschaftlern Phelan und Link entwickelten „Theorie der grundlegenden Ursachen“ (theory of fundamental causes): »Die Theorie besagt, dass es einen Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Gesundheitszustand gibt, weil sozioökonomischer Status eine Reihe „flexibel einsetzbarer Ressourcen“ verkörpert, etwa Geld, Wissen, Ansehen, Einfluss und vorteilhafte soziale Verbindungen, die die Gesundheit schützen, unabhängig davon, welche Mechanismen zu einem bestimmten Zeitpunkt relevant sind.«
Und hier kommt dann der Verweis auf den Wissenschaftler Marc Luy vom Vienna Institute of Demography. Der forscht zum Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Faktoren und Gesundheit. Sein Ziel: Er will das gesunde Altern besser verstehen. Und der hat etwas Besonderes gemacht: Er hat vor einigen Jahren mit der sogenannten „Klosterstudie“ eine einzigartige Datenquelle aufgebaut, die es ermöglicht, Gesundheit und Langlebigkeit unter quasi standardisierten Bedingungen zu untersuchen. Sie enthält die Lebensdaten von Mitgliedern katholischer Ordensgemeinschaften. Die Bedeutung dieser einmaligen Datenquellen kann man an der folgenden Erläuterung ablesen:
»Die Ordensleute eignen sich besonders gut, um wissenschaftliche Fragestellungen zu bearbeiten, die sich um das sogenannte „erfolgreiche Altern“ drehen, weil ihre Lebensumstände sehr ähnlich sind. Sie haben den gleichen Tagesablauf, ernähren sich vergleichbar, wohnen unter den gleichen Bedingungen, unterscheiden sich nicht im Familienstand und teilen den gleichen Glauben. Dies sind alles Aspekte, die Gesundheit und Langlebigkeit beeinflussen. Darüber hinaus ermöglichen die Klosterarchive vieler Gemeinschaften die Rekonstruktion der Lebensläufe ihrer Mitglieder für einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten.«
Marc Luy et al. haben diese Daten genutzt, um die Theorie der fundamentalen Ursachen zu testen.
»Auch hierfür bilden die Daten der Klosterstudie einzigartige Voraussetzungen: Obwohl sich Ordensleute ebenfalls bezüglich der klassischen sozialen Statusindikatoren Bildung, Berufstätigkeit und soziale Herkunft unterscheiden, haben alle den gleichen Zugang zu den in der Theorie der fundamentalen Ursachen beschriebenen flexibel einsetzbaren Ressourcen. Die Analyse basiert auf den Lebensdaten von rund 2.500 Mönchen, die zwischen 1840 und 1959 geboren wurden und in klösterlicher Gemeinschaft lebten oder leben. Als Kriterium für den sozialen Status wurde der Bildungsgrad herangezogen, der sich aus den Ordenstiteln „Padres“ und „Brüder“ ableiten lässt. Padres sind diejenigen, die studiert haben und überwiegend als Priester tätig sind oder waren, während die Brüder niedrigere Bildungsabschlüsse aufweisen und in der Regel mit einfacheren, oft manuellen Tätigkeiten betraut werden.«
Und was haben Luy et al. herausgefunden?
»Es gibt keine statistisch signifikanten Unterschiede in der Sterblichkeit zwischen Mönchen mit höherem und Mönchen mit niedrigerem sozioökonomischem Status. Dies gilt für alle der untersuchten Geburtsjahrgänge … Innerhalb der Klostermauern wird der Effekt der Bildung auf die Lebenserwartung also neutralisiert.«
Quelle der Abbildung: Klosterleben gleicht soziale Ungleichheiten aus, in: Demografische Forschung, Heft 1/2025, S. 3
»Aus einer früheren Studie, in der die Sterblichkeit der Padres und Brüder mit jener von weltlichen Männern für die 1980er- und 1990er-Jahre verglichen wurde, ging hervor, dass die fehlende Bildungsdifferenz in der Lebenserwartung bei den Ordensmännern aus der geringen Sterblichkeit der Brüder resultiert, also der Mönche mit geringerem Bildungsniveau.«
Auch das wird mit einer Abbildung illustriert:

In der Besprechung der Studie wird aber darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht unbedingt bedeuten, dass die Bildung selbst keinen Einfluss auf die Langlebigkeit hätte (was natürlich ein wichtiger Aspekt für alle ist, die auf der Suche nach einem langen und am besten natürlich auch gesunden Leben sind):
»Neben der im Kloster gegebenen gleichen Ressourcenverteilung könne auch ein „Peer-Effekt“ zur Neutralisierung des Bildungseffekts beitragen, also der Einfluss der Höhergebildeten, die mit ihrem Wissen über Gesundheit das Gesundheitsverhalten der anderen Ordensleute positiv beeinflussen. Unter den Ordensmännern ist nämlich der Anteil der Hochschulabsolventen deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung.«
Aber die Studie zeigt, dass sich der bildungsinduzierte Unterschied in der Lebenserwartung unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur reduzieren, sondern sogar komplett eliminieren lässt.
Einschränkend muss man wohl formulieren, dass das für derart besondere und bezogen auf die Gesellschaften, in denen sie eingebettet sind, in molekularer Größenordnung vorkommende Einrichtungen wie Klöster gilt – das bedeutet aber natürlich nicht, dass der angesprochene „Peer-Effekt“ auch in großen gesellschaftlichen Zusammenhängen hergestellt werden kann. Möglicherweise ist das eine Besonderheit des extrem kleinteiligen und partiell sich abschottenden Lebens in auch noch weitgehend gleichgerichteten Gemeinschaften, die eingebunden sind in relativ feste Wertesysteme und in der Regel charakterisiert sind durch einen hochgradig strukturierten Tagesablauf und disziplinierende Regelwerke. Das kann man sicher schwerlich bis gar nicht übertragen auf heterogene Gebilde wie Berlin-Neukölln oder die individualisierten Einfamilienhaus-Wohngegenden der Mittelschichten.
Wer die Studie im Original lesen möchte, der wird hier fündig:
➔ Alina Schmitz, Patrick Lazarevič and Marc Luy (2024): No Socioeconomic Inequalities in Mortality among Catholic Monks: A Quasi-Experiment Providing Evidence for the Fundamental Cause Theory, in: Journal of Health and Social Behavior (first published online: 14 November 2024)
Wissenschaft kann also durchaus erhellend sein.
Allerdings halten sich abschließend angemerkt die handfesten sozialpolitischen Ableitungen oder gar Empfehlungen aus den Erkenntnissen in praktischen Grenzen – es sei denn, wir bauen unsere Gesellschaft zu einem Klosterladen um, der dann aber sicher auch nicht mehr diese Funktionalität haben würde, die Klöster in der bisherigen Welt gehabt haben und in Resten noch haben.
Immerhin sind wir jetzt (noch) schlauer gemacht worden. Und das ist gerade in diesen Zeiten ein Wert an sich, der gar nicht überschätzt werden kann.