»Da sind sie wieder. Protestierende im Londoner Regierungsviertel halten Schilder hoch, auf denen sie ein Ende der Sparpolitik fordern, eine Besteuerung der Reichen, mehr Geld für Bedürftige. Man könnte denken, es sei das Jahr 2011, als sich in Großbritannien eine breite Basisbewegung gegen die Austeritätspolitik der damaligen Tory-Regierung formierte. Aber es sind Szenen von heute, und die Demonstrationen richten sich gegen die Labour-Regierung von Keir Starmer.« So beginnt der Beitrag Labour: Zurück zum Kahlschlag von Peter Stäuber. Dabei hat doch die neue Labour-Regierung seit dem Wahltriumph im Juli 2024 sozialpolitische Maßnahmen auf den weg gebracht, die ganz anders klingen: Sie hat beispielsweise den Mindestlohn erhöht und die Rechte am Arbeitsplatz gestärkt.
De andere Seite der Medaille liest sich so: »Aber gleichzeitig hat Finanzministerin Rachel Reeves zu einer dicken Axt gegriffen, um den Sozialstaat zu stutzen. Unter anderem hat sie Millionen von Rentnerinnen und Rentnern den Heizzuschuss entzogen, was laut einer Regierungsanalyse bis zu 100.000 Menschen in die Energiearmut stürzen könnte. Eine von den Torys eingeführte Beschränkung des Kindergeldes für arme Haushalte hat Labour beibehalten.«
Ende März kam dann die nächste sozialpolitische Hammer-Ankündigung von der Finanzministerin Reeves: Die Sozialausgaben sollen bis 2030 um weitere fünf Milliarden Pfund pro Jahr beschnitten werden – unter anderem durch die Absenkung der Leistungen für Behinderte und Arbeitsunfähige. »Analysen zufolge werden davon drei Millionen Haushalte betroffen sein, 250.000 Menschen werden in die relative Armut abrutschen, darunter 50.000 Kinder«, so Stäuber in seinem Artikel. Das liest sich alles wie eine dieser klassischen Sparmaßnahmen auf dem Rücken der Schwächsten.
Alle krank und arbeitsunfähig?
Am 19. März 2025 wurde in der FAZ ein Artikel unter der Überschrift „Britische Labour-Regierung kürzt Leistungen für Kranke“ veröffentlicht – mit einer interessanten Unterzeile: „Arbeitsministerin: System setzt perverse Anreize“. Wen. man weiterliest, dann öffnen sich interessante Parallelen zu einer Diskussion auch bei uns in Deutschland (Stichwort Bürgergeld und das es sich – angeblich – nicht lohnen würde, arbeiten zu gehen und das gleichzeitig viele Transferempfänger – angeblich – keinen Anreiz haben, die „soziale Hängematte“ Bürgergeld bzw. Grundsicherung zu verlassen): Die britische Regierung habe Reformen des Sozialsystems mit Einschnitten bei einigen Zahlungen für Kranke und Erwerbsunfähige angekündigt, „um Arbeitsanreize zu setzen und mehr als fünf Milliarden Pfund (sechs Milliarden Euro) zu sparen.“
Als Hintergrund wird dann auf diese bemerkenswerte Entwicklung hingewiesen:
»Die Gesamtausgaben für diese Sozialleistungen sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Grund dafür ist, dass sich immer mehr Menschen krankschreiben lassen. Es werden sehr viel mehr psychische Probleme diagnostiziert. Seit der Corona-Zeit sind Hunderttausende zusätzlich als behindert oder erwerbsunfähig eingestuft worden. Aktuell beziehen 3,7 Millionen die Leistungen, 70 Prozent mehr als vor fünf Jahren. In keinem anderen westlichen Land steigen die Zahlen so stark.«
Der Premierminister Keir Starmer hat das System als „kaputt“ und „nicht zu verteidigen“ bezeichnet. Und die zuständige Arbeitsministerin Liz Kendall wird mit den Worten zitiert: »Das gegenwärtige System setze „perverse Anreize“. Es führe dazu, dass sich Menschen krankschreiben lassen, um Zahlungen jenseits regulärer Sozialleistungen zu erhalten. Jeder Zehnte im erwerbsfähigen Alter beziehe Leistungen wegen Erwerbsunfähigkeit oder Dauererkrankung. Jeden Tag kämen tausend neue Anträge für Behindertenzahlungen hinzu.« Der Gesundheitsminister Wes Streeting sekundiert mit der Behauptung, es werde „definitiv überdiagnostiziert“.
➔ »Die Sozialleistung für Behinderte mit der Bezeichnung PIP (Persönliche Unabhängigkeitszahlung)* beträgt bisher durchschnittlich 575 Pfund im Monat. Zuzüglich anderer Leistungen erhalten sie damit knapp tausend Pfund. Viele beziehen gleichzeitig Behinderten- und Erwerbsunfähigkeitszahlungen und kommen damit auf fast 1.400 Pfund. Zudem haben sie Ansprüche auf Wohnzuschüsse.«
*) Es ist vielleicht hilfreich, wenn man sich kurz verdeutlicht, was für eine besondere Leistung die PIP sind: Die persönliche Unabhängigkeitszahlung (Personal Independence Payment, PIP) kann zusätzliche Lebenshaltungskosten abdecken, wenn man sowohl eine langfristige körperliche oder geistige Behinderung hat und wenn aufgrund der Erkrankung Schwierigkeiten bestehen, bestimmte alltägliche Aufgaben zu erledigen oder sich fortzubewegen. PIP kann man auch dann erhalten, wenn man arbeitet, Ersparnisse hat oder bei Bezug der meisten anderen Sozialleistungen. (Quelle: Personal Independence Payment (PIP))
»Für Behinderte und Erwerbsunfähige gab der britische Staat vor fünf Jahren rund 46 Milliarden Pfund aus, inzwischen sind es 65 Milliarden Pfund jährlich. Bis 2030 würden die Zahlungen nach dem gegenwärtigen Trend ohne Kürzungen auf 100 Milliarden Pfund steigen … Vor allem die Zahl der beklagten psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Angstzustände (Dysphorie) nimmt demnach rasant zu. Diese werden zu einem regelrechten Massenphänomen.«
Ganz offensichtlich geht man in Teilen der britischen Regierung davon aus, dass es eine durch die Kombination von Leistungen und die Leistungshöhe angereizten Fluchtbewegung in die Erwerbsunfähigkeit gibt, die letztendlich keine wirkliche Arbeitsunfähigkeit ist.
Was sagt die Forschung? Die Befundlage ist – wieder einmal – komplizierter und nicht wirklich klar
Aus der Forschung sollen hier zwei ausgewählte Beispiel näher vorgestellt werden, die neben den Erkenntnissen das Leistungssystem betreffend auch aufzeigen können, wie schwierig sich eine detaillierte Ursachenanalyse gestaltet, die nicht an der Oberfläche stehen bleibt.
Eine Bestandsaufnahme der Zahlen …
➔ Der in der FAZ veröffentlichte Artikel bezieht sich auf diese Analyse des Office for Budget Responsibility (2024): Welfare trends report, London, October 2024. »Erwerbsunfähigkeitsleistungen – Einkommensersatzleistungen für Menschen im erwerbsfähigen Alter, die aufgrund einer Krankheit Schwierigkeiten haben, alltägliche Aktivitäten auszuführen – sind in den letzten Jahren stärker in den Fokus gerückt. Erhebliche Anstiege sowohl der Fallzahlen als auch der Ausgaben für diese Leistungen haben zu einer Reihe neuer politischer Maßnahmen geführt, die teilweise darauf abzielen, diese Entwicklung aufzuhalten und umzukehren. Der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, der eine Erwerbsunfähigkeitsleistung bezieht, erreichte 2023-24 mit 7,0 Prozent einen Höchststand nach der Finanzkrise und wird Prognosen zufolge 2028-29 mit 7,9 Prozent einen neuen Höchststand erreichen. Damit kehrt sich der stetige Rückgang der Fallzahlen von Anfang der 2000er bis Mitte der 2010er Jahre um. In diesem Zeitraum gab es auch zwei wichtige Reformen der Struktur der Erwerbsunfähigkeitsleistungen: die Einführung der Beschäftigungs- und Unterstützungsbeihilfe (Employment and Support Allowance, ESA) im Jahr 2008 und die schrittweise Einführung des Universalkredits (Universal Credit, UC), der die einkommensabhängige ESA (und fünf weitere bedarfsabhängige Leistungen im erwerbsfähigen Alter) ab 2016 ersetzt.«
Der Bericht des OBR konzentriert sich auf die Funktionsweise des Systems der Erwerbsunfähigkeitsleistungen seit 2010. Nur eine Minderheit des Anstiegs der Erwerbsunfähigkeitsleistungen in den letzten 15 Jahren spiegelt eine höhere Anzahl von Personen wider, die einen Antrag stellen. Was danach passiert, wenn die Antragsteller das System durchlaufen, hat größere Auswirkungen: ein Rückgang der Zahl derjenigen, die das Verfahren abbrechen, sowie ein Anstieg der endgültigen Bewilligungsquote, so die wichtigsten Befunde der OBR-Analyse der Ausgabentreiber.
… und eine Suche nach den möglichen Ursachen
Das Institute of Fiscal Studies hat Studie veröffentlicht, in der es um die folgende Frage geht: Haben die Zunahme der Wartelisten und Wartezeiten im NHS (also dem staatlichen Gesundheitssystem) dazu beigetragen, dass immer mehr Menschen im erwerbsfähigen Alter gesundheitsbezogene Leistungen beantragen?
➔ Max Warner and Ben Zaranko (2025): The relationship between NHS waiting lists and health-related benefit claims, London: The Institute for Fiscal Studies, May 2025
Daraus die folgenden Befunde:
Zwischen November 2019 und Mai 2024 steigt die Zahl der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter, die in England gesundheitsbezogene Leistungen beziehen, um rund 40 %. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der NHS-Wartelisten für vorgeplante Krankenhausbehandlungen um 67 % von 4,6 Millionen auf 7,6 Millionen, und die durchschnittliche „unvollständige“ Wartezeit (die durchschnittliche Zeit, die diejenigen, die noch auf der Liste stehen, gewartet haben) stieg um 86 % von 10 Wochen auf 19 Wochen. Es wurde die Vermutung geäußert, dass diese beiden Phänomene zusammenhängen könnten und dass die sich verschlechternde Leistung des NHS zum jüngsten Anstieg der Anträge auf gesundheitsbezogene Leistungen beigetragen hat.
Die Analyse von Warner und Zaranko zeigt, dass es auf lokaler Ebene keine eindeutige Beziehung zwischen den Veränderungen bei den Wartezeiten im NHS und den Veränderungen bei den Ansprüchen auf gesundheitsbezogene Leistungen im erwerbsfähigen Alter gibt. Die Beziehung zwischen mehreren Messgrößen für NHS-Wartelisten oder Wartezeiten (einschließlich für NHS-Gesprächstherapien sowie für vorgeplante Krankenhausbehandlungen) und mehreren Messgrößen für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen (einschließlich derjenigen für Invaliditäts- und Erwerbsunfähigkeitsleistungen sowie für verschiedene Gesundheitszustände) wurden untersucht. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle wurden keine Belege für einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen den beiden gefunden: In Gebieten, in denen die Wartezeiten im NHS länger waren, stieg im Durchschnitt nicht die Zahl der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter, die gesundheitsbezogene Leistungen beziehen. Dies gilt insbesondere, wenn die Unterschiede im Bevölkerungswachstum zwischen den Gebieten berücksichtigt werden.
In einigen wenigen Fällen finden sich Hinweise auf einen schwach positiven Zusammenhang. Insbesondere besteht ein leichter positiver Zusammenhang zwischen der Warteliste für elektive Leistungen des NHS und der Zahl der Anträge auf Erwerbsunfähigkeitsleistungen bei psychischen Erkrankungen sowie zwischen der Warteliste für traumatologische und orthopädische Leistungen des NHS (z. B. Gelenkersatz) und den Anträgen auf Erwerbsunfähigkeitsleistungen bei Erkrankungen des Bewegungsapparats. Das Ausmaß eines etwaigen Effekts ist gering: Bei den Anträgen auf Invaliditätsleistungen im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen deuten die Schätzungen von Warner und Zaranko darauf hin, dass die Wartezeiten im NHS vielleicht 6-7 % des Anstiegs erklären könnten; bei den Anträgen auf Invaliditätsleistungen im Zusammenhang mit Muskel-Skelett-Erkrankungen sind es vielleicht 7-8 %. Es wird darauf hingewiesen, dass diese Zahlen mit Vorsicht zu interpretieren sind. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass sie eine Überschätzung der „wahren“ Auswirkungen sind. Was damit gemeint ist?: Man kann relativ einfach die Tatsache erfassen, dass in Gebieten, in denen sich der Gesundheitszustand der Menschen stärker verschlechtert hat, die Zahl der Personen, die auf der Warteliste für NHS-Leistungen stehen, sowie die Zahl der Anträge auf gesundheitsbezogene Leistungen gleichzeitig gestiegen sind, ohne dass das eine das andere verursacht hätte. Man wäre hier also mit einer Scheinkorrelation konfrontiert.
Die Ergebnisse der Studie fundieren die Schlussfolgerung, dass die Leistung des NHS – zumindest gemessen an den Wartezeiten für vorgeplante Krankenhausbehandlungen und einigen Formen der psychiatrischen Versorgung – nicht der Hauptgrund für den starken Anstieg der Zahl der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter ist, die gesundheitsbezogene Leistungen erhalten. Es wurde nicht untersucht und das kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die sich verschlechternde Leistung in anderen Bereichen des NHS, z. B. in der Primär-, Gemeinde- oder Notfallversorgung, eine Rolle spielt.