»Viele Menschen müssen … heute mehr als ein Drittel fürs Wohnen ausgeben – manche sogar mehr als die Hälfte ihres Einkommens. Viele können nicht billiger wohnen, weil sie nicht die einzigen sind, die nach einer billigeren Wohnung suchen oder weil es da, wo sie arbeiten, keine billigeren Wohnungen gibt. Infolgedessen müssen sie einfach mit weniger Geld im Monat auskommen. Basierend auf den Zahlen des Statistischen Bundesamtes wurden die Einkommen um die Wohnkosten bereinigt und so eine Wohnarmuts-Grenze ermittelt.«
Durch die Berücksichtigung von Wohnkosten wird eine bislang unsichtbare Gruppe von 5,4 Millionen
Menschen sichtbar, die an und unter der Armutsgrenze lebt. Nicht 12,1 Millionen, sondern 17,5 Millionen Menschen müssen demnach als arm gelten. Die „konventionelle“ Armutsquote wurde für 2023 mit 14,4 Prozent ausgewiesen – die wohnkostenbereinigte Armutsquote hingegen wird nun auf 21,2 Prozent angehoben.
Wer hat solche Zahlen veröffentlicht? Der Paritätische Wohlfahrtsverband, der bekanntlich jedes Jahr seinen „Armutsbericht“ veröffentlicht. Deren Verkündigung durch den mittlerweile in den Ruhestand verabschiedeten, lange Jahre überaus umtriebigen Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider hat zum einen immer wieder eine gehörige mediale Resonanz erzeugt, zum anderen aber auch den Blutdruck von Kritikern nach oben getrieben, die ihm eine „Skandalisierung“ vorgeworfen haben.
Die neuen Berechnungen findet man in dieser Veröffentlichung:
➔ Greta Schabram et al. (2024): Wohnen macht arm. Die Berücksichtigung von Wohnkosten macht ein bislang unsichtbares Ausmaß an Armut sichtbar, Berlin: Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband, Dezember 2024 |
Die Expertise erläutert das methodische Vorgehen und gliedert die Betroffenheit der Wohnarmut nach einzelnen soziodemografischen Merkmalen. So fällt die Wohnarmut bei alleinstehenden Menschen über 65 Jahren mit rund 41,7 Prozent und bei Alleinerziehenden mit 36 Prozent besonders hoch aus.
Eine Übersicht über die verschiedenen Wohnarmutsquoten der Bundesländer verdeutlicht die Streuung bereits auf dieser Ebene. In Bremen (29,3 Prozent) und Sachsen-Anhalt (28,6 Prozent) ist wie schon bei der konventionellen Armutsberechnung die wohnkostenbereinigte Armut am stärksten verbreitet. In Hamburg und Schleswig-Holstein hingegen fällt der Unterschied zwischen beiden Armutsquoten besonders hoch aus. Während beispielsweise in Hamburg die konventionelle Armut 15 Prozent beträgt, liegt die Wohnarmutsquote mehr als zehn Prozentpunkte höher, bei 26,8 Prozent.
Neben der statistischen Analyse versucht sich der Wohlfahrtsverband auch mit politischen Lösungsvorschlägen, um nicht nur bei der Analyse stehen zu bleiben: „Vorschläge des Paritätischen: Was hilft konkret gegen Wohnarmut?“, so sind die Ausführungen dazu überschrieben (Viele Grüße. Schabram et al. 2024: 18 ff.).
Ist das was ganz Neues, diese „Wohnkostenbereinigung“? Gibt es da nur bei uns?
Natürlich wird der eine oder andere Skeptiker bzw. Kritiker einwenden, dass das doch nur gemacht wurde, um die Zahlen der (angeblich) Armutsbetroffenen nach oben zu treiben und mit den noch gewaltiger daherkommenden Werten dann auf der Skandalisierungswelle zu reiten. Die Kritiker hatten ja schon Probleme, die seit langer Zeit international vereinbarte Einkommensarmutsrisikoschwelle von 60 Prozent des Medianeinkommens als Armutsschwelle – die keine Erfindung von irgendwelchen deutschen „Soziallobbyisten“ darstellt – zu akzeptieren. Nun werden sie argumentieren, dass die Bereinigung um die Wohnkosten die Menschen noch ärmer „macht“.
Ein Blick über den nationalen Tellerrand hingegen verdeutlicht, dass das in anderen Ländern schon länger praktiziert wird, um eine bessere Abbildung der tatsächlichen Lebenslagen hinzubekommen.
Mehr dazu mit Blick auf Großbritannien am Beispiel der Arbeit der Social Metrics Commission findet man in dem Beitrag Die Armutsquote in Großbritannien ist so hoch wie noch nie im 21. Jahrhundert. Mehr als jedes dritte Kind lebt in Armut, der hier am 1. Dezember 2024 veröffentlicht wurde.
Und aus den USA wurde im vergangenen Jahr über interessante Entwicklungen in der Armutsforschung berichtet. Dort geht die Diskussion dahin, dass statt der konventionellen Armutsquoten ein anderer Maßstab herangezogen wird: Ausgehend von einem „Korb von Grundbedürfnissen“ werden „Familienbudgets“ berechnet, deren Unterschreiten dann Bedürftigkeit anzeigt. Und auch hier spielen die Wohnkosten eine wichtige Rolle, denn die berechneten Kosten für den Korb an Grundbedürfnissen streuen im Gegensatz zur Armutsschwelle ganz erheblich nach geografischen Gesichtspunkten, da die Wohn- und sonstigen Kosten von Bezirk zu Bezirk erheblich variieren. Mehr dazu kann man in dem Beitrag Wie viele Bedürftige gibt es in den USA? Die Armutsquote als Spitze des Eisbergs und ein differenzierter Blick unter die Wasseroberfläche nachlesen, der hier am 8. Juli 2024 veröffentlicht wurde.