Wir kennen das aus der deutschen Armutsdiskussion zu Genüge: Immer wieder wird bei Veröffentlichung der amtlichen Zahlen zur „Armutsgefährdungsquote“, so die offizielle Bezeichnung für die Messung der Einkommensarmut, die Aussagefähigkeit dieser Quote in Frage gestellt. Damit würde man doch gar keine Armut messen, sondern wenn überhaupt dann Ungleichheit in einer Gesellschaft. Andere verweisen hingegen darauf, dass jemand, der weniger als 60 oder gar 50 Prozent des am Median gemessenen Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat, angesichts der Preise und Ausgabenbedarfe auch tatsächlich als „arm“ zu qualifizieren sei (vgl. immer noch die Ausführungen in Arbeitskreis Armutsforschung (2017): Erklärung zum Armutsbegriff, Frankfurt am Main, März 2017).
Auch in den USA gibt es eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Armutsquote – und mögliche Alternativen dazu.
Wie viele Familien haben in den Vereinigten Staaten Mühe, den täglichen Bedarf zu decken?
In den Medien wird häufig über die offizielle Armutsquote berichtet – also über den Anteil der Haushalte, deren Mittel unter die offizielle Armutsgrenze fallen. Im Jahr 2022 lag die offizielle Armutsquote bei 11,5 % (vgl. dazu: Poverty in the United States: 2022). Und doch sind die offiziellen Armutsgrenzen, die je nach Familiengröße und -struktur variieren, erbärmlich niedrig. Man muss beachten, dass die Armutsgrenzen nicht nach dem Ort variieren und damit die teilweise erheblichen Preisunterschiede nicht abbilden können: Die bundesstaatliche Armutsgrenze für New York City, NY, ist die gleiche wie die für Biloxi, MS.
So gilt beispielsweise ein Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern als unterhalb der Armutsgrenze, wenn er im Jahr 2023 weniger als 30.900 Dollar verdiente. Es ist schwer vorstellbar, dass eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern irgendwo in den USA für diesen Betrag leben kann.
Das ist Ausgangspunkt für diesen Beitrag:
➔ Jeffrey C. Fuhrer (2024): How many are in need in the US? The poverty rate is the tip of the iceberg, June 20, 2024
Fuhrer geht davon aus, dass die Armutsgrenze – und die entsprechende Armutsquote – ein „beklagenswert unvollständiges Maß für die wirtschaftliche Bedürftigkeit“ ist. Und er plädiert für einen alternativen Ansatz:
Ein weitaus relevanterer Maßstab sind die Kosten für einen Korb von Grundbedürfnissen. Dieser Maßstab variiert im Gegensatz zur Armutsschwelle ganz erheblich nach geografischen Gesichtspunkten, da die Wohn- und sonstigen Kosten von Bezirk zu Bezirk erheblich variieren. Die Kosten für den Lebensunterhalt übersteigen die Armutsgrenze für jede Familienkategorie in jedem Bezirk des Landes bei weitem.
➔ Zu dem angesprochenen „Korb von Grundbedürfnissen“ vgl. den Family Budget Calculator des Economic Policy Institute. Der Familienbudgetrechner des EPI misst das Einkommen, das eine Familie benötigt, um einen bescheidenen, aber angemessenen Lebensstandard zu erreichen. Die Budgets schätzen die gemeindespezifischen Kosten für zehn Familientypen (ein oder zwei Erwachsene mit null bis vier Kindern) in allen Bezirken und Ballungsräumen der Vereinigten Staaten. Verglichen mit der bundesstaatlichen Armutsgrenze und dem ergänzenden Armutsmaß bieten die Familienbudgets des EPI ein genaueres und vollständigeres Maß für die (Nicht-)Bedürftigkeit in den USA. Das Economic Policy Institute (EPI) hat Familienbudgets zusammengestellt, die die Grundbedürfnisse verschiedener Familienstrukturen in jedem Bezirk der USA abdecken. Diese Budgets umfassen Ausgaben für Lebensmittel, Wohnen, Gesundheitsfürsorge, Kinderbetreuung, Transport, Steuern und andere notwendige Dinge. Die vollständige Definition dieser Kategorien kann man hier nachvollziehen: The Economic Policy Institute’s Family Budget Calculator. Technical Documentation. Die Familienbudgets sind so konstruiert, dass sie das Einkommen messen, „…das eine Familie benötigt, um einen bescheidenen, aber angemessenen Lebensstandard zu erreichen.„ Die Budgets für Familien mit zwei Elternteilen und zwei Kindern reichen beispielsweise von unter 60.000 Dollar in Orangeburg County, SC, bis zu weit über 100.000 Dollar in San Francisco, CA. Die meisten Familienbudgets für Familien mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern zwischen 60.000 und 90.000 Dollar.
Fuhrer wirft die zentrale Frage auf: Wie viele Familien können sich in den USA die Grundbedürfnisse leisten?
Die traurige Antwort ist, dass bei einem erschreckend hohen Anteil der Familien die Gesamtmittel der Familie die Ausgaben für diese Notwendigkeiten nicht decken. Und dieser Anteil steigt bei farbigen Familien noch erheblich an.
Nun muss man berücksichtigen: Viele einkommensschwache Familien erhalten Unterstützung vom Bund und von den Bundesstaaten in Form von Lebensmitteln, Wohnraum, Versorgungsleistungen und Gesundheitsfürsorge sowie eine Aufstockung durch den Earned Income Tax Credit (EITC). Zu diesem Instrument vgl. auch diese Ausführungen vom Center on Budget and Policy Priorities mit den aktuell verfügbarsten Daten zu Leistungshöhen und zur Inanspruchnahme: Policy Basics: The Earned Income Tax Credit.
Auch bei den Sozialleistungen haben wir eine sehr ungleiche Verteilung: Schwarze und hispanische Familien sind zwei- bis dreimal so häufig von EITC, SNAP (Supplemental Nutrition Assistance Program) oder Wohngeld betroffen wie weiße Familien.
Vor diesem Hintergrund verwendet Fuhrer für seine Berechnungen ein Maß für die Familienressourcen, das für das Supplemental Poverty Measure (SPM) des Census Bureau zusammengestellt wurde und das das Arbeitseinkommen der Familien sowie den Wert der meisten staatlichen Unterstützungen, einschließlich Sach- und Geldleistungen, umfasst.
Die Ergebnisse der Berechnungen sind erschreckend:
43 Prozent aller Familien in den USA können ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen. Über alle Familienstrukturen hinweg verfügen 59 bzw. 66 Prozent der schwarzen und hispanischen Familien über Mittel, die nicht ausreichen, um die Grundbedürfnisse der Familie zu decken, gegenüber 37 Prozent der weißen Familien.
Noch schlimmer sind die Zahlen für Alleinerziehende und Familien mit mehr als zwei Kindern. Ein-Eltern-Familien sind überproportional häufig schwarz und hispanisch – sie machen 55 Prozent bzw. 33 Prozent der Familien mit Kindern unter 18 Jahren aus, verglichen mit 24 Prozent der weißen Familien. Wie die tabellarische Übersicht zeigt, haben diese Familien überwiegend Probleme, wobei 80 bis 90 Prozent als bedürftig zu klassifizieren sind..

Statt der 11 bis 12 Prozent der Familien, die von der offiziellen Armutsquote als „arm“ erfasst werden, haben mehr als zwei von fünf Familien zu kämpfen, wobei die Zahlen für farbige Familien noch viel erschreckender sind. In diesem Sinne ist die wahre „Armuts“-Quote viel höher, als üblicherweise berichtet wird.
➔ Um die Robustheit seiner Berechnungsergebnisse zu erhöhen hat Fuhrer sogar noch zwei gegenüber den Budgetdaten des Economic Policy Institute abgesenkte Varianten der Lebenshaltungskosten kalkuliert:
1.) In der ersten Varianten senkt er die Wohnkosten auf die die Ausgaben der untersten 20 Prozent ab und die zugestandenen Lebensmittelbudgets werden von der Kategorie „kostengünstig“ in die Kategorie „sparsam“ (die niedrigste Budgetkategorie) verschoben. Durch diese Kürzungen verringert sich der Anteil der bedürftigen Familien lediglich um sechs bis zehn Prozent.
2.) In einer zweiten, selbst als „willkürlichen“ Kürzungsvariante bezeichnet hat Fuhrer vier Kürzungen vorgenommen: Die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung werden um ein Drittel gekürzt, um die Einsparungen bei den Ausgaben aus eigener Tasche zu berücksichtigen. Die Ausgaben für Kinderbetreuung werden um ein Drittel gekürzt, um die Inanspruchnahme von nicht-marktüblichen und potenziell minderwertigen Kinderbetreuungsangeboten durch viele Familien mit niedrigem Einkommen zu berücksichtigen. Die Ausgaben für Verkehrsmittel werden um die Hälfte gesenkt, was die Möglichkeit widerspiegelt, die Lebensdauer des Autos zu verlängern, bei der Wartung und notwendigen Reparaturen zu sparen oder zu Fuß zu gehen, anstatt öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, sofern dies möglich ist. Und schlussendlich: Die Kategorie „sonstiger Bedarf“, die Kleidung, Haushaltswaren und Einrichtungsgegenstände umfasst, wird willkürlich um die Hälfte gekürzt. »Insgesamt reduzieren diese Kürzungen die Familienbudgets im Durchschnitt um etwa 30 Prozent – die meisten Budgets liegen jetzt im Bereich von 40.000 bis 60.000 Dollar. Diese Budgets sollten als äußerst konservative Schätzungen der tatsächlichen Lebenshaltungskosten in diesen Bezirken betrachtet werden.«
Und wie sehen die Ergebnisse dieser nach unten angepassten Berechnungen aus?
Trotz dieser beträchtlichen Budgetkürzungen ist der Prozentsatz der Familien, die unter ein tragfähiges Budgetniveau fallen, weiterhin alarmierend hoch. Unter beiden alternativen Haushaltsannahmen fällt immer noch etwa ein Drittel aller Familien unter ein tragfähiges Budget – mehr als das Doppelte der Armutsquote – und zwischen 44 % und 57 % der schwarzen und hispanischen Familien liegen weiterhin unter dieser Bedürftigkeitsschwelle.
Wie gehen Familien damit um, wenn sie nicht genug Geld haben, um das Notwendige zu bezahlen? Die Frage nach den „Coping-Strategien“
Dazu berichtet Fuhrer (der sich hier auch auf sein 2023 veröffentlichtes Buch The Myth That Made Us bezieht): Sie wenden eine Vielzahl von Taktiken an, um mit dem Leben am Rande des Abgrunds zurechtzukommen. Sie sparen bei einigen Dingen des täglichen Bedarfs. Die Familien können Ausgaben für die Gesundheitsvorsorge, die Instandhaltung des Hauses (für die Minderheit, die ein Haus besitzt), die Wartung des Autos und andere notwendige Ausgaben, die aufgeschoben werden können, vermeiden. Sie machen Schulden. Und sie jonglieren mit Rechnungen.
Natürlich haben all diese Entscheidungen wichtige längerfristige Folgen. So führt beispielsweise die Nichtzahlung der Miete häufig zu einer Zwangsräumung und dem damit einhergehenden endlosen Trauma. Ebenso erschreckend sind die daraus resultierenden Ungleichheiten bei den Gesundheitsergebnissen je nach ethnischer Zugehörigkeit. Und die generationenübergreifenden Auswirkungen erklären einen Teil der enormen Vermögensunterschiede, die im Mittelpunkt zahlreicher Studien und Berichte stehen.
Schlussfolgerungen und Empfehlungen von Jeffry Fuhrer
Das Defizit der Gesamtressourcen von Millionen von US-Familien im Verhältnis zu den Kosten der Grundbedürfnisse ist eine Schande. Die riesige Zahl von Familien mit niedrigem Einkommen, gemessen nicht an der Armutsgrenze, sondern an recht konservativ kalkulierten Budgets, ist erschütternd.
Fuhrer weist darauf hin, dass die weit verbreiteten Schlüsselerzählungen den Eindruck erwecken, dass die Familien selbst daran schuld sind. Sie arbeiten nicht hart genug. Sie haben falsche Entscheidungen getroffen. Ein Narrativ, das wir auch aus der deutschen Debatte kennen.
Und Fuhrer bilanziert:
»Dutzende Millionen Familien schaffen es nicht, weil sie faul sind? Diese Behauptung ist schlichtweg absurd. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, unsere Wirtschaft so zu strukturieren, dass sie die ohnehin schon wohlhabenden und (meist) weißen Menschen extrem gut versorgt. Wir sind zu einem Land geworden, das bei jeder Gelegenheit zögert, die Ressourcen nach Bedarf zu verteilen, und stattdessen auf die Tugenden der Eigenverantwortung verweist.«
Was ist zu tun, um diese beunruhigenden Defizite zu beheben, so die abschließende Fragestellung. Fuhrer wirft zwei Vorschläge in die Debatte bzw. eine Diskussion, die seiner Meinung nach jetzt angesichts der anstehenden Präsidentschaftswahlen eigentlich geführt werden sollte:
»Erstens würde ich vorschlagen, dass wir eher die Haushaltsdefizite als die Armutsquoten als führenden Indikator für die wirtschaftliche Bedürftigkeit verwenden. Das von mir entwickelte Maß ist ein erster Versuch und könnte zweifellos noch verfeinert werden. Meiner Meinung nach vermittelt es jedoch ein viel genaueres Bild von der Zahl der Familien, die in den USA in Schwierigkeiten sind.«
»Zweitens deutet das Ausmaß der Lücken darauf hin, dass bescheidene politische Maßnahmen wahrscheinlich nicht wirksam sind. Millionen von Haushalten fehlen Zehntausende von Dollar, um sich das Nötigste leisten zu können. Eine Anpassung des EITC wäre hilfreich, aber eine Erhöhung der durchschnittlichen Leistung von 3.100 auf 3.700 Dollar wird nicht viel bewirken. Stattdessen werden gezielte Einkommensbeihilfen, die 1.000 Dollar oder mehr pro Monat auszahlen, Familien eher auf eine solide wirtschaftliche Basis stellen.«