Der Medizinische Dienst Bund hat 2012 den sogenannten IGeL Monitor initiiert und betreibt seitdem dieses Informationsportal für Patienten. Bei den „Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL)“ handelt es sich um Selbstzahlerleistungen der Patienten in den Arztpraxen. Die Kosten für IGeL-Angebote werden meistens nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen. Gesetzlich Krankenversicherte müssen solche Leistungen also in der Regel aus der eigenen Tasche bezahlen. Da diese Leistungen nicht zentral erfasst werden, gibt es weder eine vollständige Auflistung aller IGeL noch eine Übersicht über das Umsatzvolumen. Also muss man sich dem schätzungsweise nähern.
Um verlässliche Informationen zu erhalten, welche IGeL besonders häufig angeboten und von gesetzlich Krankenversicherten in Anspruch genommen werden, führt der IGeL-Monitor regelmäßig Versichertenbefragungen durch und veröffentlicht die Ergebnisse in sogenannten IGeL-Reports. Nun wurden die Ergebnisse des IGeL-Reports 2024 veröffentlicht.
»Patientinnen und Patienten werden in großem Umfang mit IGeL-Angeboten konfrontiert – dabei gibt es viele Probleme. Versicherte geben aus Unwissenheit viel Geld für Leistungen aus, die wenig nützen und teilweise auch schaden können. In den Praxen wird unzureichend über IGeL aufgeklärt.« Das behaupten die Macher des IGeL-Monitors und sie stellen die Pressemitteilung dazu unter diese Überschrift: IGeL-Report 2024: 2,4 Milliarden Euro setzen Arztpraxen pro Jahr mit fragwürdigen IGeL um. Wie kommen die auf einen Umsatz von 2,4 Milliarden Euro? Wie ausgeführt werden die idealerweise mit einem Preisschild versehenen IGeL-Leistungen nirgendwo zentral erfasst, so dass man gar keine validen Aussagen machen kann. Vor diesem Hintergrund greift man dann zu einem üblichen Verfahren, um etwas Licht in diese Schattenwelt zu bringen und arbeitet mit einer Befragung.
➔ Man muss also darauf hinweisen, dass es sich bei den genannten 2,4 Mrd. Euro Umsatz mit IGeL-Leistungen um einen Schätzwert auf der Basis einer Befragung handelt.
»Für den IGeL-Report 2024 wurden im Auftrag des Medizinischen Dienstes Bund 2.013 Versicherte im Alter zwischen 18 und 80 Jahren vom Marktforschungsinstitut forsa befragt.« Die bevölkerungsrepräsentative Befragung wurde von Prof. Dr. Jonas Schreyögg von der Universität Hamburg wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Und Schreyögg wird mit diesen Worten zitiert: „Unsere Studie belegt, dass gesetzlich Versicherte mindestens 2,4 Milliarden Euro für IGeL-Angebote ausgeben“. Und kritisch weiter: „Besorgniserregend ist, dass die meisten Patientinnen und Patienten viel zu wenig Wissen haben, um eine informierte Entscheidung für oder gegen eine IGeL treffen zu können.“ Zwei von drei Befragten gingen zudem von der falschen Annahme aus, dass die Selbstzahlerleistungen medizinisch notwendige Leistungen seien.
Die IGeL-Leistungen sind nicht über alle Arztpraxen gleichverteilt: »Der IGeL-Report 2024 zeigt, dass mit jeweils 500 Millionen Euro die höchsten Umsätze in den Fachgebieten Gynäkologie und Augenheilkunde erzielt werden. Aber auch in den Fachgebieten Allgemeinmedizin (341 Millionen Euro) sowie Orthopädie und Unfallmedizin (397 Millionen Euro) werden hohe Summen umgesetzt.«
Und das Spektrum der IGeL-Leistungen ist sehr heterogen: »In der Liste der umsatzstärksten IGeL findet man einerseits Leistungen, die zu relativ geringen Preisen sehr häufig verkauft werden wie zum Beispiel der … Ultraschall der Gebärmutter und Eierstöcke (Gesamtumsatz von 143 Millionen Euro). Andererseits findet man Leistungen, die sehr teuer sind, aber aufgrund einer kleineren Zielgruppe seltener verkauft werden wie zum Beispiel Laser-Operationen am Auge.«
Region, Geschlecht und Einkommen haben einen Einfluss auf die Inanspruchnahme von IGeL-Leistungen: »In den südlichen Bundesländern (37%) werden IGeL häufiger in Anspruch genommen als in westlichen (33%), nördlichen (31%) oder östlichen (26%). Maßgeblich dafür scheinen geografisch-kulturell geprägte Präferenzen zu sein. Ein Stadt-Land-Gefälle ist nicht feststellbar. Frauen (41%) nutzen etwa doppelt so häufig IGeL wie Männer (22%). Die Inanspruchnahme von IGeL steigt mit zunehmendem Alter: Ab einem Alter von 45 Jahren nutzen jede zweite Frau (50%) und etwa jeder dritte Mann (29%) Selbstzahlerleistungen. Bei beiden Geschlechtern zählen die meisten der in Anspruch genommenen IGeL zum Bereich der Früherkennungsuntersuchungen. Frauen nennen am häufigsten den transvaginalen Ultraschall und Männer die PSA-Bestimmung zur Früherkennung von Prostatakrebs. Die Befragungsergebnisse zeigen auch: Wer sich mehr leisten kann, bekommt IGeL häufiger angeboten und gibt dafür auch mehr Geld aus.«
Und das alles bei einer (angeblich) „dünnen Evidenz“?
Seit über zehn Jahren werden Nutzen und Schaden von Individuellen Gesundheitsleistungen wissenschaftlich bewertet und laienverständlich aufbereitet, um Patienten eine „wissenschaftsbasierte Entscheidungshilfe für oder gegen den Kauf einer IGeL“ zu ermöglichen. »Der IGeL-Monitor hat aktuell 56 IGeL bewertet – davon 30 Leistungen entweder mit „tendenziell negativ“ oder „negativ“. 23 IGeL haben das Ergebnis „unklar“ − das heißt für ihren Nutzen gibt es meistens keine ausreichende Evidenz . Mit „tendenziell positiv“ schneiden lediglich 3 Selbstzahlerleistungen ab; keine Leistung konnte mit „positiv“ bewertet werden.« Vgl. dazu ausführlicher IGeL A – Z. Übersicht über die veröffentlichten Bewertungen / Beschreibungen (Satnd: Dezember 2024).
Das Gesamtbild sieht dann so aus:
➔ Was muss man sich unter „tendenziell positiv“ bewerteten IGeL-Leistungen vorstellen? Dazu gehört beispielsweise die „Akupunktur zur Vorbeugung von Migräneanfällen“. Hier gebe es keine Hinweise auf einen Nutzen im Sinne einer Überlegenheit im Vergleich zur medikamentösen Standardtherapie, auf der anderen Seite aber wurden Hinweise auf weniger Schäden gefunden im Sinne von weniger Nebenwirkungen und weniger Therapie-Abbrüchen im Vergleich zur Standardtherapie.
➔ Und wie sieht es bei den IGeL-Leistungen aus, die mit „negativ“ bewertet werden? Dazu beispielsweise der „Ultraschall der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung“: Hier werden einerseits keine Hinweise auf Nutzen im Sinne einer geringen Treffsicherheit des Ultraschalls sowie kein Überlebensvorteil hervorgehoben und gleichzeitig werden Belege für Schäden genannt: viele falsch-positive Befunde; indirekte Schäden durch unnötige Operationen mit möglichen gravierenden Nebenwirkungen.
Gibt es Studien, die sich mit der „Wissenschaftlichkeit“ der Bewertungen auseinandergesetzt haben? Dazu ein Beispiel:
➔ Monika Becker, Ute Hansen und Michaela Eikermann (2023): Stehen die Bewertungen von Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) des IGeL-Monitors im Einklang mit Leitlinien?, in: Das Gesundheitswesen, 2023; 85: 1192–1199
Der IGeL-Monitor des Medizinischen Dienstes Bund untersucht Nutzen und Schaden Individueller Gesundheitsleistungen (IGeL). Das Ziel der Analyse war eine systematische Gegenüberstellung von Bewertungen aktueller IGeL-Themen und den Empfehlungen aus evidenzbasierten Leitlinien. Zu den Ergebnissen: Es wurden 41 Leitlinien zu 24 aktuellen IGel-Themen identifiziert. 19 (79 %) Bewertungen stimmten (nahezu) mit den Leitlinienempfehlungen überein. Zu fünf IGeL-Themen war kein Abgleich möglich, da zum Beispiel die Empfehlungen spezifischer waren. Zehn der 13 IGeL, die (tendenziell) negativ bewertet wurden, wurden auch in den Leitlinien nicht empfohlen. Als Schlussfolgerung bilanzieren die Verfasserinnen der Analyse: »In der Gesamtschau stimmen die Aussagen aus den IGeL-Bewertungen mit den Empfehlungen aktueller Leitlinien überein. Hiernach scheinen Leitliniengruppen die Evidenz ähnlich einzuschätzen wie das Team des IGeL-Monitors. Insbesondere zu (tendenziell) negativ bewerteten IGeL, die auch in Leitlinien nicht empfohlen werden, sollten Versicherte ehrlich über die Evidenz aufgeklärt werden.«
Man muss aber auch diesen Hinweis am Ende des Artikels unter dem Stichwort „Interessenkonflikt“ zur Kenntnis nehmen: »Die Autorinnen sind Mitarbeiterinnen des Medizinischen Dienst Bund. Dieser ist Herausgeber des IGeL-Monitors.«
Schon seit vielen Jahren steht – neben dem augenärztlichen – der frauenärztliche Bereich an der Spitze der IGeL-Umsätze. Vor diesem Hintergrund ist die kritische Einordnung von sechs niedergelassenen Frauenärztinnen in einem Beitrag (immer noch) interessant, der bereits 2014 veröffentlicht wurde:
➔ Maria J. Beckermann et al. (2014): IGeL und WANZ: Wie die Ökonomisierung in der Medizin die ambulante Versorgung verändert – Beispiele aus gynäkologischen Praxen, in: Alexandra Manzei und Rudi Schmiede (Hrsg.): 20 Jahre Wettbewerb im Gesundheitswesen. Theoretische und empirische Analysen zur Ökonomisierung von Medizin und Pflege, Wiesbaden 2014, S. 265-288
»Selbstverständlich gab und gibt es sinnvolle Leistungen, die nicht zur Kassenversorgung gehören und daher selbst bezahlt werden müssen, z.B. Reiseimpfungen und Bescheinigungen fürs Sportstudio. Aber ein Großteil der IGeL sind medizinische Angebote, die aus gutem Grund nicht in den GKV-Katalog aufgenommen worden sind, meistens weil der Wirknachweis nicht erbracht ist oder weil auf der Basis der Evidenzbasierten Medizin für die betreffende PatientInnen- (oder treffender KundInnen-)Gruppe die Nachteile gegenüber den Vorteilen überwiegen. Überflüssige Untersuchungen sind für die Gesetzlichen Krankenkassen nicht kostenneutral. Sie gehen mit einem hohen Risiko für falsch positive Befunde einher. Die Folgekosten, z.B. in Form von (Labor-)Kontrollen, müssen dann wieder von der Gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden. Es ist also eine Milchmädchenrechnung, den parallelen privatärztlichen Wirtschaftszweig als Entlastung für die gesetzliche Krankenversicherung zu betrachten. Im Gegenteil werden über die Fehl- und Überdiagnostik so viele gesunde Menschen mit pathologischen Befunden in das Kassensystem eingespeist, dass die Ressourcen für die tatsächlich Kranken noch knapper werden.« (Beckermann et al. 2014: 278 f.)