Ernährungsarmut? Die könnte in Deutschland unter Haushalten mit Kindern weit verbreitet sein, so ein Bericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE)

Wir laufen auf die Adventszeit und die Weihnachtsfeiertage zu. Da wird von vielen auf den Tischen aufgetragen, bis sich die Platten biegen. Einkommensarme Menschen spielen in dieser Zeit – wenn überhaupt – in Berichten eine Rolle, wo sie beklagen müssen, dass sie ihren Kindern keine auch nur annähernd vergleichbaren Geschenke machen können wie das in „normalen“ Familien passiert. Aber Mangel an Essen? Wohl kaum in unserem Land. Immer wieder trifft man in der Armutsdiskussion auf die Aussage: Hungern muss in unserem Land keiner. Punkt.

Wie kann man dann über „Ernährungsarmut“ schreiben und gar behaupten, dass eine solche gerade in Haushalten mit Kindern „weit verbreitet“ sei?

»Insgesamt 22,4 Prozent der bei einer neuen Studie befragten Haushalte waren demnach 2022 und 2023 von moderater oder starker Ernährungsunsicherheit betroffen«, kann man diesem Beitrag entnehmen: Wenn gesundes Essen zu teuer ist. Und mit der neuen Studie gemeint ist der neue Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE).

Immer diese Begrifflichkeiten. „Ernährungsunsicherheit“? Das bedeutet laut Definition der Vereinten Nationen, die Betroffenen hatten nur einen eingeschränkten Zugang zu ausreichenden, sicheren und nahrhaften Lebensmitteln.

Hier der angesprochene neue Bericht der DGE, in dem auch das Thema Ernährungsarmut aufgegriffen wird:

➔ DGE (Hrsg.) (2024): 15. DGE-Ernährungsbericht. Bonn: Deutsche Gesellschaft für Ernährung, 2024

Nach dem Kapitel „Die Entwicklung und Verbreitung von Übergewicht in Deutschland“ findet man dann das Kapitel „Die Ernährungs- und Gesundheits­situation armutsgefährdeter Familien mit minderjährigen Kindern – ­ Ergebnisse der Studie MEGA_kids“ mit einer ausführlichen Darstellung der Studie:

➔ Anja Simmet et al. (2024): Die Ernährungs- und Gesundheitssituation armutsgefährdeter Familien mit minderjährigen Kindern – ­ Ergebnisse der Studie MEGA_kids, in: DGE (Hrsg.): 15. DGE-Ernährungsbericht, Bonn, S. 116-188

Dort erfahren wir: »Die Studie MEGA_kids hat das Ziel, die Ernährungs- und
Gesundheitssituation von Personen in armutsgefährdeten Haushalten mit minderjährigen Kindern umfassend darzustellen.«

➔ Zur Methodik der Studie: »MEGA_kids ist eine aus vier Modulen bestehende Querschnittstudie, die quantitative und qualitative Methoden kombiniert. In dem ersten Modul BERNA wurden über standardisierte Fragebögen soziodemografische Angaben und zahlreiche Aspekte der Ernährungs- und Gesundheitssituation, wie z. B. der Lebensmittelverzehr, die Ernährungsunsicherheit und der subjektive Gesundheitsstatus der Kinder bzw. Jugendlichen im Alter zwischen 1 und 17 Jahren sowie Erwachsenen aus armutsgefährdeten Haushalten, erfasst. Zur Schätzung der Ausgaben für Lebensmittel und Mahlzeiten wurden zudem von den Haushalten über zwei Wochen ge­­sammelte Kassenbelege ausgewertet. In dem zweiten Modul IDEE wurden über einen semi-strukturierten Interviewleitfaden Faktoren identifiziert, die aus Sicht von Erwachsenen in armutsgefährdeten Haushalten mit Kindern die Ernährungsqualität und -sicherheit beeinflussen. Im dritten Modul BEA wurden über zwei World-Cafés und eine Fokusgruppe Interventionsideen zur Förderung einer gesunden Ernährung aus Sicht von Erwachsenen in armutsgefährdeten Haushalten mit Kindern exploriert. Das vierte Modul KENNER befragte schließlich Eltern aus armutsgefährdeten Haushalten mit Kindern über ein Online-Erhebungsinstrument zu der Kenntnis, Inanspruchnahme und Bewertung von ernährungsbezogenen Präventionsangeboten und -maßnahmen.« (Simmel et al. 2024: 116 f.)

Sarah Yolanda Koss berichtet in ihrem Beitrag: Immerhin 3,2 Prozent der Teilnehmer an der Befragung mussten sogar tageweise hungern. Unter sozialer Ernährungsunsicherheit litten 68,9 Prozent der Elternteile, fühlten sich also aufgrund der Nahrungssituation aus Aspekten des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen.

Aber sie weist auch auf eine wichtige Restriktion bei der Interpretation der berichteten Ergebnisse, vor allem der Anteilswerte, hin:

»Die Studie hat allerdings eine Einschränkung: Etwa 46 Prozent der teilnehmenden Eltern lebten zu Untersuchungsbeginn kürzer als ein Jahr in Deutschland, ein Großteil von ihnen wurde in der Ukraine geboren. Damit sind die Ergebnisse nur bedingt auf die armutsgefährdete Bevölkerung in Deutschland übertragbar.«

Aber man sollte sich davor hüten, mit Hinweis auf diese Besonderheit der in der Studie untersuchten Betroffenen von Ernährungsarmut kurzzuschließen, dass das eben „nur“ ein Sonderproblem für ukrainische Kriegsflüchtlinge sei. Denn über das Thema „Ernährungsarmut“ in Deutschland wird schon seit vielen Jahren immer wieder diskutiert, nicht nur im Kontext der mittlerweile mit vielen Veröffentlichungen bestückten Diskussion über die Tafeln in Deutschland.

Dazu nur zwei Beispiele aus den Veröffentlichungen, die schon vor vielen Jahren das Thema Ernährungsarmut in Deutschland explizit aufgerufen haben.

So die Arbeit von Sabine Pfeiffer aus dem Jahr 2011:
➞ Sabine Pfeiffer (2015): Die verdrängte Realität: Ernährungsarmut in Deutschland. Hunger in der Überflussgesellschaft, Wiesbaden
Am Anfang dieser Publikation findet man dieses nachdenkenswerte Zitat:
»Vielleicht ist es kein Zufall, dass das englische Wort für Existenzminimum so viel sprechender ist als unseres: Breadline. Anders als die deutschen Begriffe Armutsgrenze oder Existenzminimum zeigt das englische Wort, dass Armut – auch in an sich reichen Ländern – schnell die grundsätzliche Frage nach Ernährung aufwirft. In England und den USA ist Ernährungsarmut stärker sichtbar und wird gesellschaftlich breiter diskutiert als in Deutschland.« (Pfeiffer 2015: 1). Und dann durchaus für die aktuelle Diskussion um die „Mega_kids“-Studie relevant: »Das hat zum einen damit zu tun, dass in beiden Ländern besser und kontinuierlicher zum Ernährungsverhalten geforscht wird und dabei schichtspezifische Unterschiede ernster genommen werden als in Deutschland.«

Oder die 2021 veröffentlichte Arbeit von Christine Meyer:
➞ Christine Meyer (2021): Hunger und Soziale Arbeit. Eine Einführung, Wiesbaden

Simmel et al. (2024: 118) weisen darauf hin: »Zu der Ernährung und den Bedingungen, unter denen armutsgefährdete und -betroffene Menschen ihre Ernährung realisieren (müssen), liegen nur vereinzelt Studien in Deutschland vor.« Dazu schreibt Koss: »Das hänge, so die Vermutung, mit der verfehlten Annahme zusammen, die Ernährungslage sei in Deutschland nicht problematisch. In Schweden und Großbritannien gibt es dagegen eine sogenannte nationale Verzehrsstudie, in Frankreich Schuleingangsprüfungen, die die Versorgung der Kinder testen.« Und Simmel et al. (2024) kritisieren, dass die bislang vorliegenden Studien die Ernährungsbedingungen dieser Bevölkerungsgruppe nur unzureichend abbilden. Beispielsweise wird in diesen bevölkerungsweiten Befragungen bisher die Ernährungsunsicherheit nicht erfasst.

Handlungsempfehlungen auf der Grundlage der neuen Studie

Simmel et al. (2024: 181) heben hervor: »Armutsgefährdete Bevölkerungsgruppen gelten nicht nur als vulnerabel gegenüber ernährungsbezogenen und gesundheitlichen Belastungen; für viele Forschende gelten sie auch als besonders schwer zu erreichen. Um die regelmäßige Beteiligung armutsgefährdete Bevölkerungsgruppen an der Ernährungs- und Gesundheitsforschung zu gewährleisten, müssen geeignete Zugangswege identifiziert, die vorhandenen Erhebungsinstrumente auf Passung zu der Zielgruppe überprüft und gegebenenfalls innovative Erhebungsmethoden wie Photovoice* erprobt werden.«

*) Photovoice ist eine visuelle Datenerhebungsmethode. Dabei fotografieren die Teilnehmer ihre Umgebung unter einer bestimmten Fragestellung. Ziel ist es, den Blick für den Ist-Zustand zu schärfen, diesen zu dokumentieren und zu reflektieren. Die Teilnehmer werden aktiv und zeigen ihren eigenen Blick. Die aktive Teilhabe motiviert und erhöht die Identifikation mit dem Projekt. Die Methode kann sowohl zur Bedarfsbestimmung als auch zum Aufzeigen von Stärken und Schwächen verwendet werden. Man kann mit dieser Methode beispielsweise in der Mobilitätsplanung arbeiten, vgl. dazu ausführlicher Bernd Bienzeisler et al. (Hrsg.) 2022: Was Bürgerinnen und Bürger bewegt. Handbuch für eine partizipative Mobilitätsplanung, Stuttgart: Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, 2022.

»Wie viele Menschen in Deutschland tatsächlich von Ernährungsunsicherheit betroffen sind und wie sich die Prävalenz der Ernährungsunsicherheit im Zeitverlauf entwickelt, kann durch MEGA_kids jedoch nicht beantwortet werden«, so Simmel et al. (2024: 181). Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die Studienautoren sich der Empfehlung anschließen, ein »systematisches Monitoring der Ernährungsunsicherheit sowohl in der armutsgefährdeten als auch in der Allgemeinbevölkerung« einzuführen, die vom Wissenschaftlichen Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) beim BMEL in dessen Gutachten Politik für eine nachhaltigere Ernährung. Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten im Jahr 2020 gegeben wurde. Es wird von. Simmel et al. kritisch darauf hingewiesen, dass man in Deutschland versucht, das Ernährungsverhalten in wissenschaftlichen Untersuchungen fast ausschließlich über individuelle und allenfalls noch soziale Faktoren zu erklären. Damit wird die Verantwortung für eine nachhaltige, gesundheitsfördernde Ernährung zum Individuum verschoben, während in anderen Ländern der Einfluss der Ernährungsumgebung herausgestellt wird.

Aber Simmel et al. (2024) schlagen nicht nur mehr Forschung, Messung und Datenproduktion vor. Ihre Handlungsempfehlungen gehen weiter:

Es gilt als Konsens, dass ausschließlich an Betroffene gerichtete verhaltenspräventive ernährungsbezogene Maßnahmen nur begrenzt wirksam sind … Statt einer ausschließlichen Fokussierung auf verhaltenspräventiven Maßnahmen sollten zusätzlich verhältnispräventive Maßnahmen initiiert, also an dem Lebensumfeld der Betroffenen angesetzt werden.

Zunächst muss sichergestellt sein, dass sich eine nachhaltige, nährstoffreiche und kulturell akzeptable Ernährung mit Transferleistungen wie dem Bürgergeld für Kinder und Erwachsene realisieren lässt … Tafeln und ähnlichen Einrichtungen (können) diese Aufgabe aus diversen Gründen, wie z. B. aufgrund der starken Variabilität des Angebots, nicht übernehmen, sondern sollten allenfalls als ergänzendes, nicht notwendiges Angebot verstanden werden.

Für eine Reduzierung der Ernährungsunsicherheit in Haushalten mit Kindern wird vorgeschlagen, beispielsweise den Ausbau verlässlicher, niedrigschwelliger Unterstützungsangebote (z. B. Familien-/Gemeinschaftszentren mit Mittagstisch) ergänzend mit in den Blick zu nehmen. »Zur Förderung ernährungsbezogener sozialer Teilhabe sollten innovative Ansätze, wie z. B. Restaurants und Cafés mit differenzierten Preisen bzw. Zuschüssen für armutsgefährdete Familien, diskutiert und gegebenenfalls erprobt werden.« Und weiter: »In Anbetracht des zum Teil eingeschränkten Zugangs der Teilnehmenden zu Mahlzeiten in den Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen sollte dieser Zugang für Kinder und Jugendliche aus armutsgefährdeten Haushalten, z. B. durch weniger bürokratischen Aufwand, deutlich vereinfacht werden.«

»In Ergänzung verhältnisorientierter Maßnahmen sollten gezielt verhaltenspräventive Maßnahmen entwickelt werden, die die Lebensbedingungen armutsgefährdeter Familien berücksichtigen.« Darunter verstehen Simmel et al. beispielsweise eine stärkere Berücksichtigung des Themas im Schulunterricht sowie die »Erschließung neuer Kommunikationskanäle z. B. über Tafeln und die Verfügbarkeit der entsprechenden Materialien in mehreren Sprachen.«

Auch im Parlament wurde nach der „Ernährungsarmut“ gefragt und es gab Antwort(versuche)

Immer wieder war das Thema „Ernährungsarmut“ Thema im Bundestag. Dazu beispielsweise aus dem Jahr 2022 die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage „Maßnahmen gegen Ernährungsarmut in Deutschland“ (BT-Drs. 20/3847 vom 06.10.2022).

Und mit Blick auf die Grundsicherung aus dem Jahr 2023 die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage „Gesunde Ernährung in der Grundsicherung“ (BT-Drs. 20/7638 vom 06.07.2023). Darin wurde auf wissenschaftliche Kritik hingewiesen, dass gesunde Ernährung nicht für alle finanziell möglich ist, insbesondere nicht mit dem Regelbedarf, der für Bürgergeld, Sozialhilfe und Alterssicherung gilt. Die Fragesteller beziehen sich hierbei u.a. konkret auf diese Stellungnahme, bei der es explizit um Ernährungsarmut geht:

➔ Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Ver-
braucherschutz beim BMEL (2023): Ernährungsarmut unter Pandemiebedingungen. Stellungnahme, Berlin, März 2023

Darin wurde erneut festgestellt, dass der Anteil, der bei der Regelbedarfsberechnung für Ernährung angesetzt wurde, nicht für eine gesundheitsförderliche Ernährung ausreicht:

»Im Grundsatz spricht aus Sicht des WBAE aber vieles für das deutsche System zur Bekämpfung der Ernährungsarmut, das im Kern auf einem Bürgergeld beruht. Ein solches Bürgergeld muss jedoch ausreichend sein, um materielle und soziale Ernährungsarmut zu vermeiden. Die aktuellen, im Bürgergeld für Essen und Getränke zur Verfügung stehenden Beträge entsprechen allerdings nicht diesem Anspruch. Bei der Einführung des Bürgergelds im Jahr 2023 wurde zwar zeitnah auf die hohe Inflation reagiert. Die Berechnungsmethodik für die Bedarfsermittlung wurde aber nicht angepasst, sodass der Regelsatz nach wie vor nicht für eine gesundheitsfördernde Ernährung ausreicht. Die soziale Funktion von Ernährung wird bei der Berechnung des Regelsatzes nicht berücksichtigt.« (WBAE 2023: I)

Das Jahr 2024 war hingegen durchzogen von Debatten über ein „zu hohes Bürgergeld“ und Forderungen, das Bürgergeld abzusenken bzw. zu sanktionieren. Das Thema „Ernährungsarmut“ wurde dabei in den vergangenen Monaten „vergessen“, trotz der jahrelangen wissenschaftlichen Vorarbeiten und entsprechender Forderungen aus den Reihen der Sozialverbände und von den Betroffenen selbst. Wieder einmal muss man zur Kenntnis nehmen: Wir haben kein oder kaum ein Erkenntnisproblem. Wir haben etwas anderes.