Eigentlich hat die EU in der Sozialpolitik keine Zuständigkeit, das sollen die Mitgliedsstaaten in eigener Verantwortung nationalstaatlich machen. Aber grau ist alle Theorie und in der wirklichen Wirklichkeit hat sich schon seit langem eine zunehmend eigenständigere „EU-Sozialpolitik“ herausgebildet und das europäische Recht und vor allem die europäische Rechtsprechung über den Europäischen Gerichtshof (EuGH) üben immer intensiver Einfluss aus auf die (eigentlich) nationalstaatliche Ausgestaltung der Sozialpolitik.
Gerade die vergangenen Jahre haben immer öfter zeigen können, dass die Bedeutung der europäischen Ebene – und damit des Europäischen Parlaments – in vielen sozialpolitisch relevanten Handlungsfeldern zugenommen hat. Auch wenn die Befugnisse und die konkreten Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments im komplizierten Zusammenspiel mit Kommission sowie dem Rat der Europäischen Union (noch?) begrenzt bis verbaut sind, können aus dem Parlament sozialpolitisch förderliche oder eben auch hemmende Impulse gesetzt werden. Von daher ist die EU-Ebene nicht nur vor dem Hintergrund der Wahlen zum Europäischen Parlament von einer (wichtiger werdenden) sozialpolitischen Bedeutung.
Eine gute Zusammenfassung wie auch eine Herausarbeitung dessen, was sich viele Akteure im Sozial- und Gesundheitswesen wünschen oder erhoffen von der neuen Legislaturperiode des Europäischen Parlaments hat im Dezember 2023 der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge* veröffentlicht:
➔ Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (2024): Europa sozial machen. Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. zur Wahl des Europäischen Parlaments 2024, Berlin, Dezember 2023
*) Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge ist der Zusammenschluss der öffentlichen und freien Träger sozialer Arbeit. Der Verein hat über 2.500 Mitglieder, hierzu gehören Landkreise, Städte und Gemeinden sowie deren Spitzenverbände und die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ebenso wie Bundesministerien und -behörden, Länderverwaltungen, überörtliche Träger der Sozialhilfe, Hochschulen, Vereine, soziale Einrichtungen, Ausbildungsstätten, Einzelpersonen und Unternehmen der Sozialwirtschaft.
Zu den Empfehlungen berichtet der Deutsche Verein:
»Die Europäische Integration und die Gründung der Europäischen Union ist eines der erfolgreichsten politischen Friedensprojekte der neueren Geschichte. Entstanden aus dem Schrecken zweier Weltkriege und in der Hoffnung auf Versöhnung sind wir in der Europäischen Union zu unserem Glück vereint. Wir sind überzeugt, dass in einer Zeit sich überlagernder Krisen eine friedliche, lebenswerte Zukunft nur gemeinsam gesichert werden kann. Europa lebt von der uneingeschränkten Achtung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Diese Werte verteidigen wir gemeinsam gegen populistische, nationalistische oder anti-demokratische Strömungen. Daher ist es Aufgabe der Europäischen Union, zivilgesellschaftliche Strukturen zu stärken. Starke gemeinnützige Organisationen und Kommunen bauen mit ihren sozialen Diensten soziale Unterschiede und Spaltungen ab und arbeiten für gleichwertige Lebensverhältnisse in allen europäischen Regionen.
Die Bewältigung von Krisen und politischen Herausforderungen wird mehr und mehr vom Ausnahmefall zum allgemeinen Handlungsmodus der europäischen Politik. Die nun endende Legislatur war geprägt von der Corona-Pandemie, der sich verschärfenden Klimakrise, humanitären Notlagen an den EU-Außengrenzen, dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine sowie den daraus resultierenden Fluchtbewegungen und gestiegenen Energie- und Lebenshaltungskosten. Die herausfordernden Ereignisse und Entwicklungen der letzten fünf Jahre haben erneut deutlich gemacht, dass es eine handlungsfähige EU und ein geeintes Europa braucht, um auf aktuelle Problemlagen zu antworten. Bei der Bewältigung der multiplen Krisen erwiesen sich die europäischen Institutionen als reaktions- und handlungsfähig. Für zukünftige Szenarien der Krisenbewältigung gilt es allerdings, höhere Anforderungen an Transparenz und demokratische Legitimation zu stellen. Die Frage der Weiterentwicklung des europäischen Institutionengefüges bleibt bestehen, um die EU nach innen und außen resilienter zu machen. Auch zeigten die Krisenlagen Versäumnisse in der transnationalen Koordinierung zum Beispiel im Bereich der Asylpolitik, im Bereich des Gesundheitswesens und der sozialen Infrastruktur auf. Die Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten in Bereichen der Grundversorgung muss weiter intensiviert und insbesondere müssen kommunale Kooperationen verstärkt werden.
Aus sozialpolitischer Sicht unterschied sich das europäische Krisenmanagement fundamental vom Umgang mit der Finanz- und Schuldenkrise ab 2008. Mit der Schaffung von Instrumenten zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktstabilisierung als Reaktion auf die Corona-Pandemie wurden soziale Verwerfungen eingedämmt und eine schnelle wirtschaftliche Erholung ermöglicht. Ein europäisches Auseinanderdriften, wie im Nachgang der Schuldenkrise, konnte dadurch weitestgehend verhindert werden. Es gilt nun von diesen Erfahrungen und den sozialpolitischen Aspekten des Krisenmanagements zu lernen. Die letzten fünf Jahre haben gezeigt, dass eine Aufwertung der sozialen Dimension der EU zu konkreten Erfolgen in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den Mitgliedstaaten führte. Es gilt an diese Fortschritte anzuknüpfen und bestehende soziale Herausforderungen zu adressieren, indem das soziale Europa weiter ausgebaut wird.
Der Deutsche Verein hat hierfür nachstehend Empfehlungen in fünf Themenbereichen für ein soziales Europa formuliert. Mit seine Empfehlungen richtet sich der Deutsche Verein an die Abgeordneten des zukünftigen Europäischen Parlaments, an die neu eingesetzte Europäische Kommission sowie an nationale Ministerien, die über ihre Einbindung in den Europäischen Rat an europäischen Entscheidungsprozessen beteiligt sind.«
Eine sozialpolitikwissenschaftliche Sicht auf die Bedeutung der Europawahl für die Sozialpolitik
Das Deutsche Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS) hat in seinem sozialpolitikblog Ende Mai 2024 ein Interview – geführt von Frank Nullmeier – mit Jana Windwehr und Torben Fischer zum Thema Welche Bedeutung hat die Europawahl für die Sozialpolitik? veröffentlicht.
Ist die Europäische Kommission in den vergangenen Jahren zu einem Motor der Sozialpolitik geworden?
»Man muss bis in die Amtszeit von Jean-Claude Juncker (2014-2019) zurückgehen, um den Wandel zu verstehen: Im Jahre 2017 erfolgte die Unterzeichnung der Europäischen Säule sozialer Rechte. Und dieses Dokument ist auch unter der von Frau Von der Leyen geführten Europäischen Kommission Grundlage der Arbeit geblieben. Gegenüber der Europäischen Säule sozialer Rechte gab es zunächst große Skepsis in der Wissenschaft, man hielt die Deklaration für einen Papiertiger und erwartete keine erfolgreichen Umsetzungsinitiativen. Heute kann man sagen, es ist überraschenderweise ein wichtiges Referenzdokument geworden, auf dessen Basis konkrete neue Initiativen für Richtlinien der EU entstanden sind. Insofern können die letzten fünf Jahre sozialpolitisch als Follow-up-Prozess für die Europäische Säule sozialer Rechte verstanden werden. Das prominenteste Beispiel ist sicherlich die Mindestlohnrichtlinie, von der man annahm, dass die EU sich diesem Thema gar nicht annehmen könne. Schließlich ist Lohnpolitik ein Thema, das ausdrücklich nicht zum Kompetenzbereich der Europäischen Union gehört. Auf Umwegen – nämlich mittels des Arguments, dass es um Arbeits- und Lebensbedingungen gehe – ist die Richtlinie aber doch gekommen, wenn auch sicherlich nicht in der Form, wie sich das die ambitioniertesten Player vielleicht gewünscht hätten.«
Der zweite sozialpolitisch relevante Bausteine der zurückliegenden fünf Jahre der EU-Kommission sind »die krisengetriebenen Instrumente, man denke an die Pandemie, nun der russische Angriff auf die Ukraine und die daraus resultierende Lebenshaltungskosten- und Energiekrise. Darauf wurde reagiert mit auch sozialpolitisch wichtigen Maßnahmen. Im Gesundheitsbereich zum Beispiel gab es die gemeinsame Impfstoffbeschaffung. Man ist so einige Schritte weiter gegangen in Richtung von mehr gemeinsamer Verantwortung für Lieferketten. Dann war das Thema Kurzarbeit in der Pandemiezeit sehr wichtig, geregelt über ein europäisches Instrument (SURE), das eine Art europäisches Kurzarbeitergeld bzw. dessen Refinanzierung bereitstellte und mehrheitlich als Erfolgsmodell betrachtet wird.«
Daneben wären noch einzelne weitere Punkte wie die kontrovers diskutierte und erst kürzlich verabschiedete Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit zu nennen oder die Entgelttransparenzrichtlinie.
Und da ist dann noch dieser European Green Deal. »Mit dem Just Transition Fund wird die soziale und die ökologische Komponente nicht nur ideell vorangetrieben, sondern konkret mit Mitteln hinterlegt, sodass Regionen, die stark von fossiler Industrie abhängig waren, in ihrem Wandel unterstützt werden. Ein weiterer Klima-Sozialfonds wurde aufgesetzt im Kontext des EU-Emissionshandels für Emissionen aus dem Gebäude- und Straßenverkehrssektor (ETS II) für die Zeit nach 2027. Damit kann man über diesen neuen sozialen Klimafonds vulnerable Gruppen schützen, wenn sie erhöhte Mobilitätskosten oder erhöhte Kosten im Gebäude- bzw. Energiebereich tragen müssen.«
Nicht nur, aber auch mit Blick auf den seit längerem im Vorfeld der Europawahl 2024 vorhergesagten „Rechtsruck“ des neuen Parlaments ist der Hinweis von Torben Fischer interessant, dass im »April 2024 unter der belgischen Ratspräsidentschaft, die nach dem Tagungsort so benannte La Hulpe Declaration, verabschiedet worden (ist). Darin ist relativ ambitioniert versucht worden, die sozialpolitischen Dossiers noch voranzubringen – nicht zuletzt im Sinne einer Haltelinie, falls sich die politische Situation nach der Wahl verschlechtert – und einen verbindlichen Rahmen dafür festzulegen, was die Kommission in Zukunft tun soll.« Die Aufgabenzuschreibungen an die Kommission folgen einem „Social-Investment-Ansatz“, der in der La Hulpe Declaration explizit genannt wird, womit Sozialpolitik nicht mehr allein als Kostenfaktor, sondern auch als ein produktiver Faktor gedacht wird.
Wo verlaufen bereits heute die Konfliktlinien innerhalb des europäischen Parlaments?
»Die Mitte-links- bis linken europäischen Parteien, also die europäischen Sozialdemokraten, die europäischen Grünen und die europäische Linke fordern eine Verstetigung des SURE-Instruments im Sinne einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung, fordern höhere Haushaltsmittel und die Verstetigung von NextGenerationEU in Form einer europäischen Investitionskapazität. Die gegensätzliche Position findet sich bei den anderen Mitte-Parteien, also Mitte-rechts, den Liberalen und der Europäischen Volkspartei, den Christdemokraten im weitesten Sinne. Das ist schon eine recht starke Konfliktlinie.«
Auch wenn es eine Rechtsverschiebung im Parlament nach den Wahlen mit hoher Wahrscheinlichkeit geben wird, so weist doch Jana Windwehr auf einen etwas anders gelagerten Aspekt hin und legt den Finger auf die offene Wunde der Zusammensetzung der EU-Kommission: »Denn auf der nationalen Ebene, wo die Nominierung stattfindet für die einzelnen Kommissarsposten, haben wir in etlichen Mitgliedstaaten nach rechts hin verschobene Mehrheitsverhältnisse, man denke nur an die neue niederländische Regierungskoalition. Durch diese national bestimmten Nominierungen sind richtungspolitische Verschiebungen innerhalb der Kommission zu erwarten.« Sie bringt es auf den Punkt: »Über Nominierungen für die Kommissionspositionen sind gravierendere Verschiebungen zu erwarten als durch das Wahlergebnis zum Europäischen Parlament.«
Und beim Ausblick wird eine der weiteren Ebenen angesprochen, die in dem komplex verfassten Mehrebenensystem EU zu beachten sind:
»Wir werden wahrscheinlich einen gewissen Rechtsruck bekommen, im Parlament, in der Kommission und über die nationale Ebene natürlich auch im Rat, der ja zentrale sozialpolitische Dossiers bekanntlich effektiv blockieren kann. Und in Fragen wie: „Wo brauchen wir neue Mindeststandards und wie streng dürfen diese werden?“, verläuft die Konfliktlinie in der Tat eher zwischen den Mitgliedstaaten, als dass sie primär parteipolitischer Art wäre, stärker sogar Ost-West als Nord-Süd.«