Duale Berufsausbildung: Die Zahl neuer Ausbildungsverträge ist im Jahr 2023 gestiegen. Zugleich diskutiert man über Leerstellen statt Lehrstellen und leere Lehrstellen

Vor genau zwei Jahren konnte man hier lesen: »Der eine oder andere auf der Suche nach positiven Nachrichten in diesen wahrlich dunklen Zeiten wird eine solche Meldung aus dem Statistischen Bundesamt sicher neugierig zur Kenntnis genommen haben: Zahl der neuen Ausbildungsverträge leicht über Vorjahresniveau. In den zurückliegenden zwei Corona-Jahren war doch immer wieder von Einbrüchen im System der dualen Berufsausbildung die Rede, sogar von einer „verlorenen Corona-Generation“ wurde stellenweise spekuliert. Geht es also wieder aufwärts in diesem für die Zukunft so bedeutsamen Bereich der Ausbildung?« Der Beitrag vom 13. April 2022 war überschrieben mit: Eine (nur vorübergehende?) Corona-Delle im System der dualen Berufsausbildung in Deutschland? Am Ende der damaligen Ausführungen findet man nach einem längeren Rückblick dieses Fazit: »Bereits in der Finanzkrise 2008/09 gab es einen Einbruch bei den Ausbildungszahlen … Die Erfahrung in und mit der damaligen Krise war, dass der damit verbundene Rückgang der tatsächlichen abgeschlossenen Ausbildungsverträge nicht wieder korrigiert werden konnte, das Niveau der Zahl der Verträge blieb deutlich unter dem Krisenniveau. Keine guten Perspektiven für die so bedeutsame duale Berufsausbildung in unserem Land.« Wie sieht die Bilanz heute aus?

»Im Jahr 2023 haben rund 479.900 Personen in Deutschland einen neuen Ausbildungsvertrag in der dualen Berufsausbildung abgeschlossen«, berichtet das Statistische Bundesamt unter der Überschrift Duale Berufsausbildung: Zahl neuer Ausbildungsverträge 2023 um 2,1 % gestiegen. Das hört sich (wieder einmal) gut an. Die Zahl der Neuverträge ist im dritten Jahr in Folge leicht angestiegen.

Allerdings zeigt schon der Blick auf die Entwicklung der Ausbildungszahlen (im dualen System) seit dem Jahr 2007, dass es leider keinen Grund gibt zur Entwarnung oder gar zu einer Revision der eingangs zitierten Einordnung, dass nach krisenhaften Einbrüchen das Ausgangsniveau wieder erreicht werden kann. Im Gegenteil scheint sich die Erkenntnis. dass der mit schweren Krisen verbundene Rückgang der tatsächlichen abgeschlossenen Ausbildungsverträge in der Vergangenheit nicht wieder korrigiert werden konnte, auch mit Blick auf die Folgewirkungen der Corona-Pandemie zu bestätigen.

Wenn man sich verdeutlicht, dass das dualen Berufsausbildungssystem immer noch das Herzstück der beruflichen Ausbildung der so wichtigen mittleren Qualifikationsebenen ist, dann muss einen die Entwicklung beunruhigen, die man in den Zahlen erkennen kann. Und natürlich gibt es nicht die eine Ursache für die hier sichtbar gewordenen Abnahme neuer Ausbildungsverträge, wenn man nur ausreichend zurück schaut.

Neben den beiden schweren krisenbedingten Schocks mit ihren sich verfestigenden Auswirkungen muss man natürlich in Rechnung stellen, dass zum einen die demografische Entwicklung ihren Anteil hat an dem Rückgang, also es gibt schlichtweg weniger junge Menschen in der Grundgesamtheit und zugleich gibt es in größerem Umfang Alternativen im Ausbildungssystem, vor allem aufgrund der hochschulischen Expansion der vergangenen Jahre.

Gibt es einen „Ausbildungsboykott“ der Wirtschaft?

Die Industriegewerkschaft Metall behauptet das und meint das mit diesem Hinweis belegen zu können: Nur jeder fünfte Betrieb in Deutschland bilde noch Berufseinsteiger aus. »Und selbst wer ausbildet, tut dies in zu geringem Umfang: Nicht einmal fünf Prozent der Beschäftigten in ausbildenden Unternehmen sind Azubis. Mit einer Ausbildungsquote von 4,3 Prozent sind die Arbeitgeber in den Branchen der IG Metall sogar unterdurchschnittlich. 4,8 Millionen Beschäftigten folgten dort im Jahr 2023 nur 209.000 Auszubildende nach, wie aus einer Bilanz der IG Metall hervorgeht. Gewerkschaftliches Nahziel ist eine Ausbildungsquote von mindestens fünf Prozent«, so Hermannus Pfeiffer in seinem Artikel Leerstellen statt Lehrstellen. Hinzu kommt: Etwa jede vierte Ausbildung endet vorzeitig, weil entweder der Betrieb oder aber der Azubi kündigt. Das Thema Ausbildungsabbruch ist vielgestaltig und kann hier nicht im Detail ausdifferenziert werden.

Zu diesem hochkomplexen Thema vgl. weiterführend beispielsweise diese Veröffentlichungen:
➔ Alexandra Uhly und Frank Neises (2023): Vorzeitige Vertragslösungen in der dualen Berufsausbildung. Aktuelle empirische Befunde der Berufsbildungsstatistik und Maßnahmen – Ein Überblick, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), November 2023
➔ Matthias Siembab et al. (2023): Warum entscheiden sich Jugendliche dazu, ihre Ausbildung vorzeitig zu beenden? Die Rolle von Berufswahlkompromissen und subjektiven Bewertungen der Ausbildung, BIBB-Report Nr. 1/2023, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), August 2023

Aber man muss natürlich auch sehen, dass die dualen Berufsausbildung, also die Kombination der Ausbildung in Berufsschulen und im Betrieb für die ausbildende Betriebe erst einmal Kosten verursacht, die umso mehr zu Buche schlagen, wie andere Unternehmen bzw. Branchen sich dann nachgehend bedienen an dem Nachwuchs.

Dazu aus dem Artikel von Pfeiffer: »Fachkräfte selbst auszubilden, kostet Betriebe nicht bloß Zeit und Nerven, sondern auch viel Geld. Das Bundesinstitut für Berufsbildung … hat in einer Studie aus dem Jahr 2020 ermittelt, dass die duale Ausbildung einer Nachwuchskraft im Schnitt 21.000 Euro kostet. Größter Kostenblock ist dabei mit rund 60 Prozent die Ausbildungsvergütung, gefolgt von den Personalkosten für eigenes und externes Ausbildungspersonal mit 25 Prozent. Hinzu kommen je nach Beruf noch Kosten für Übungs- und Unterrichtsmaterial, Werkzeug, Berufs- oder Schutzkleidung, externe Kurse oder eine eigene Lehrwerkstatt. Zusammen mit Kammergebühren, Rekrutierungs- und Verwaltungskosten addieren sich diese sonstigen Ausbildungskosten auf mehr als 3.000 Euro oder rund 15 Prozent des Gesamtbetrages.
Den Bruttokosten stehen indes Erträge von durchschnittlich knapp 14.500 Euro gegenüber, die ein Azubi im Laufe seiner Lehrzeit erwirtschaftet. Auch das hat das dem Bildungsministerium unterstellte Institut ausgerechnet. Bedeutet im Klartext: Bis zur Abschlussprüfung muss jeder Ausbildungsbetrieb netto erst mal mehrere tausend Euro in jeden Lehrling investieren. Der genaue Betrag variiert je nach Branche, Beruf und Unternehmensgröße. Kleinbetrieben kostet ein Azubi unterm Strich etwa 6.000 Euro. Großbetriebe müssen die doppelte Summe investieren.«

Bei der angesprochenen Studie aus dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) handelt es sich um diese Veröffentlichung:

➔ Gudrun Schönfeld et al. (2020): Ausbildung in Deutschland – eine Investition gegen den Fachkräftemangel. Ergebnisse der BIBB-Kosten-Nutzen-Erhebung 2017/18, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), 2020

In ihrer Zusammenfassung schreiben die Wissenschaftler:

»Die Ergebnisse der aktuellen BIBB-Kosten-Nutzen-Erhebung für das Ausbildungsjahr 2017/18 zeigen, dass viele Betriebe in Deutschland nach wie vor in die eigene Ausbildung investieren. Obwohl rund zwei Drittel der Brutto- kosten durch die produktiven Leistungen der Auszubildenden selbst gedeckt werden, entstehen dem größten Teil der ausbildenden Betriebe nicht unerhebliche Kosten durch die Ausbildung. Eine reine Durchschnittsbetrachtung  über alle Betriebe greift jedoch zu kurz.  Bruttokosten, Erträge und damit auch  Nettokosten variieren stark nach Beruf, Ausbildungsbereich, Region und  Betriebsgröße … Insgesamt stellt sich aber die Frage, warum Betriebe überhaupt bereit sind, Ausbildungskosten zu tragen. Eine mögliche Erklärung bietet das  Motiv der Fachkräftegewinnung durch  die Ausbildung. Die Ergebnisse der  Studie zeigen auch, dass Betriebe hohe  Kosten bei der Gewinnung von Fachkräften vom externen Arbeitsmarkt in  Kauf nehmen müssen. Insbesondere  die Einarbeitung neuer Fachkräfte ist  für rekrutierende Betriebe kostspielig.  Diese Kosten fallen weg, wenn Betriebe  ihre Auszubildenden übernehmen und  damit einen hohen Nutzen durch die  Einsparung der Personalgewinnungskosten realisieren können. Dieses Ergebnis bekommt insofern zusätzliche  Bedeutung, als sich die Fachkräftesituation in den letzten Jahren deutlich  zugespitzt hat: Ein wachsender Teil der  Betriebe berichtet von Fachkräfteengpässen. Vor allem für kleine Betriebe  hat sich die Rekrutierungsdauer von  Fachkräften deutlich erhöht. Mögliche  Ursachen hierfür sind die zum Erhebungszeitpunkt gute konjunkturelle  Lage, die demografische Entwicklung  und die damit verbundene Knappheit  von Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt.«  

Es wird aber auch darauf hingewiesen: »Insbesondere für  Klein- und Kleinstbetriebe bleiben Ausbildungsinvestitionen jedoch mit dem  erheblichen Risiko verbunden, dass die  selbst ausgebildeten Fachkräfte abwandern und sich damit die getätigte Investition nicht amortisieren kann.« Ein Problem, das wir aber nicht erst seit kurzem beobachten, sondern das ein Grunddilemma im seit vielen Jahrzehnten bestehenden dualen Ausbildungssystems charakterisiert.

Im Jahr 2022 wurde eine weitere Arbeit aus dem BIBB zum Thema Kosten (und Nutzen) der dualen Ausbildung veröffentlicht:
➔ Felix Wenzelmann und Gudrun Schönfeld (2022): Kosten und Nutzen der dualen Ausbildung aus Sicht der Betriebe. Ergebnisse der sechsten BIBB-Kosten-Nutzen-Erhebung, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), 2022.

Pfeiffer beendet seine Ausführungen mit einer an vielen anderen Stellen ebenso vorgetragenen Kritik: »Trotz allseits beklagten Fachkräftemangels steigt die Zahl der unversorgten Jugendlichen, wie Zahlen der Bundesagentur für Arbeit zeigen. Gesamtwirtschaftlich standen im vergangenen Jahr 73.400 unbesetzte Ausbildungsplätze 63.700 unversorgten und suchenden Jugendlichen gegenüber. Vertreten sind alle Lernniveaus vom Hauptschulabschluss bis zum (Fach-)Abitur. Dazu kommen noch 2,6 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 34 Jahren, die keinen berufsqualifizierten Abschluss haben.«

Allerdings muss man wie in anderen Bereichen, in denen mit der einen großen (bundesdeutschen) Zahl hantiert wird, mehr als vorsichtig sein, denn die auch hier zitierte Gegenüberstellung blendet die Tatsache aus, dass es den bundesdeutschen Ausbildungsmarkt eben gerade nicht gibt, sondern wir sind konfrontiert mit zahlreichen regionalen Märkten, die man sich dann wieder im Einzelfall anschauen muss. Eine Generalisierung macht an dieser Stelle wenig Sinn und verstellt zugleich den Blick auf oftmals vorhandene regionale Ungleichgewichtslagen. Einem Unternehmen, das im Schwarzwald ansässig ist, nutzt es wenig, wenn es im Schwarzwald ansässig ist, aber in Berlin oder im Ruhrgebiet zahlreiche unversorgte junge Menschen sind, die keinen Ausbildungsplatz vor Ort vorfinden (können). Eine Annäherung an einen Ausbildungsmarkt würde man nur mit einer erheblichen Ausweitung der Mobilität junger Auszubildender erreichen können. Davon sind wir weit weg.

Und schlussendlich muss man auch berücksichtigen, dass es tatsächlich gute Gründe – gerade für die Kleinst- und Kleinunternehmen – gebebn kann, selbst bei Vorhandensein von Bewerbern auf die Einstellung eines Auszubildenden zu verzichten, weil man beispielsweise überfordert ist mit mehr oder weniger stark ausgeprägten Verhaltensproblemen.

Zum anderen hat man aber angesichts des grassierenden und sich verstärkenden Mangels oftmals den Druck, jeden, der halbwegs laufen kann, einzustellen, weil man sonst immer mehr Ausbildungsplätze hat, für die es überhaupt keinen einzigen Bewerber gibt. Wenn es dann aber aufgrund der Nicht-Passungsfähigkeit – ob von Azubi-Seite oder vom Unternehmen ausgehend – zu einer Auflösung des Ausbildungsverhältnisses kommt, dann schlägt sich das in einem Anstieg der Abbrecherquoten nieder, die an anderer Stelle problematisiert oder gar skandalisiert werden, zugleich sind solche Erfahrungen dann eine der Ursachen für einen frustrierten Rückzug eines Unternehmens aus dem Ausbildungsangebot. Und wenn Ausbildungsangebote erst einmal verloren gegangen sind, dann wird es sehr schwer bis unmöglich, diese Betriebe wieder zu reaktivieren.

Es ist und bleibt nicht einfach.