Der unsichtbare Wert der Sorgearbeit und ein Versuch, diesen in Zahlen zu pressen

»Care-Arbeit oder Sorgearbeit beschreibt die Tätigkeiten des Sorgens und Sichkümmerns. Darunter fällt Kinderbetreuung oder Altenpflege, aber auch familiäre Unterstützung, häusliche Pflege oder Hilfe unter Freunden. Bislang wurden diese Arbeiten überwiegend von Frauen geleistet, oft als unbezahlte Hausarbeit gesellschaftlich als notwendig und selbstverständlich angesehen. Aber mit dem Wandel der Geschlechterordnung werden auch Hausarbeit, Sorge und Fürsorge neu verteilt – weiterhin überwiegend zwischen Frauen. Migrantinnen aus armen Ländern bedienen die steigende Nachfrage in Ländern des globalen Nordens.« So eine Beschreibung von Care-Arbeit findet man beispielsweise bei der Bundeszentrale für politische Bildung.

Bekanntlich leben wir in einer Zeit der Zahlen, bei denen es sich am besten um Geldzahlen handeln sollte. Wenn man zudem einen Effekt angesichts der Wirkmechanismen der bestehenden Aufmerksamkeitsökonomie erzielen will, dann sollte man möglichst große Zahlen (und die bezogen auf irgendeine negative und damit skandalisierungsfähige Aussage) produzieren). Dabei besteht natürlich immer die Gefahr bzw. eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass man mit der einen großen Zahl – unter der sich aber tatsächlich zahlreiche teilweise sehr unterschiedliche Einzelfälle verbergen – die Buntheit und Streuung in der Grundgesamtheit im wahrsten Sinne des Wortes erschlägt oder aber einfach falsche Vorstellungen produziert.

Man denke hier aus gegebenem Anlass nur an die erst einmal richtige Information, dass es im Februar 2024 in Deutschland 5.530.927 „Regelleistungsberechtigte“ im SGB II gegeben hat, also mehr als 5,5 Millionen Menschen im „Bürgergeld“ (vormals „Hartz IV“ genannt). Davon wurden 1.798.346 Menschen als „Arbeitslose“ ausgewiesen, was einem Anteil von 32,5 Prozent entspricht. Aber die „Diskussion“, die wir in den vergangenen Monaten rund um das Bürgergeld haben erleben müssen, musste bei dem normalen Bürger den Eindruck erwecken, als würde es bei denen, die auf diese Grundsicherungsleistung angewiesen sind, um Arbeitslose gehen und dann auch noch um viele, die arbeiten könnten, aber angeblich nicht wollen oder die den Leistungsbezug einer Erwerbsarbeit vorziehen würden. Dabei sind Millionen Menschen schlichtweg „untergegangen“, die sehr wohl einer Arbeit nachgehen, aber aufstocken müssen, die als Alleinerziehende individuell und kollektiv bedeutsame Arbeit verrichten, die sich als pflegende Angehörige oftmals rund um die Uhr kümmern oder die schlichtweg nicht werden erwerbsarbeiten können, weil sie zahlreiche „Vermittlungshemmnisse“ mit sich herumtragen. Aber diese hier nur in groben Strichen anzudeutende Heterogenität der Menschen, die auf Grundsicherungsleistungen aus ganz unterschiedlichen Gründen angewiesen sind, ist in den zurückliegenden Monaten fast komplett erschlagen worden von der Debatte über „die“ Arbeitslosen im Bürgergeld-System.

Und was hat es mit der Sorgearbeit auf sich? Da geht es um sehr viele Stunden – und ganz oft um Frauen

Nun wird ebenfalls sehr intensiv und oft auch kontrovers über die Erwerbsarbeit in unserem Land diskutiert – und dabei über deren Volumen und die dann immer wieder aufgerufene Frage, ob „man“ weniger oder mehr arbeiten sollte, man denke hier nur an die gerade wieder einmal verhandelte Frage einer „4-Tage-Woche“. Im Zusammenhang mit der Erwerbsarbeit kann man ebenfalls eine ganz große Zahl in den Raum stellen:

»Das Arbeitsvolumen der Volkswirtschaft, also die Summe aller in Deutschland geleisteten Erwerbsstunden, beträgt jährlich 60,6 Milliarden Stunden

Das hört sich nicht nur nach viel an, das ist auch eine beeindruckende Zahl. Aber die kann man noch in den Schatten stellen, wenn man eine andere, größere Zahl aus dem Schatten versucht, in das Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit zu stellen:

Wenn man die Stunden unbezahlter Sorgearbeit auf ein Jahr und für alle Frauen und Männer über 18 Jahre hochrechnet, dann ergibt sich ein jährlicher Umfang von Sorgearbeit – ein „Carevolumen“ – von 117 Milliarden Stunden. Der zeitliche Aufwand für Sorgearbeit in Deutschland übersteigt den für Erwerbsarbeit also deutlich.

Wer das berechnet hat? In diesem kurzen Paper wird man fündig:

➔ Prognos (2024): Der unsichtbare Wert von Sorgearbeit, 2024

Die liefern aber nicht nur die eine große Zahl an Stunden der unbezahlten Sorgearbeit.

»Sie wird wie ein Nebenschauplatz des Wirtschaftslebens behandelt, doch unbezahlte Sorgearbeit leistet einen elementaren Beitrag zur Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft. In politischen Diskussionen oftmals übersehen, wird ihre Bedeutung unterschätzt. Weiterhin gilt: Der Großteil unbezahlter Sorgearbeit, also Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, Hausarbeit, Besorgungen und Reparaturen, wird von Frauen getragen.«

Das Gefälle zwischen den beiden Geschlechtern wird zusammenfassend so quantifiziert:

»Werden die Stunden summiert, die Frauen (über 18 Jahre) in einer Woche mit diesen Tätigkeiten verbringen, ergibt sich das Äquivalent einer Vollzeitstelle: 39,1 Stunden. Bei Männern in gleicher Altersabgrenzung sind es 25,2 Stunden unbezahlter Sorgearbeit.«

Und mit Blick auf die Frauen: »Frauen in Deutschland leisten jährlich 72 Milliarden Stunden unbezahlte Sorgearbeit, allein für Kinderbetreuung und Angehörigenpflege wenden sie 28 Milliarden Stunden auf.«

»Der Blick in die Tätigkeitsbereiche zeigt: Mit 40,3 Milliarden Stunden bezieht sich mehr als ein
Drittel der unbezahlten Sorgearbeit auf Kinderbetreuung und Angehörigenpflege. Auch hier findet sich die bekannte Ungleichverteilung: Frauen leisten mit jährlich 28,2 Milliarden Stunden
mehr als doppelt so viel Sorgearbeit in diesen Bereichen wie Männer (12,1 Mrd. Stunden). Sowohl der Umfang der Sorgearbeit in diesen Tätigkeiten als auch die Differenz zwischen Frauen und Männern wären ohne die öffentlich finanzierten Infrastrukturen wie Kitas, Horte oder Pflegedienste noch deutlich größer.«

Und was bedeutet das in Euro-Beträgen? Die Monetarisierung darf heutzutage nicht fehelen

Im Prognos-Paper wird das alles auch in Euro-Beträge umgerechnet – und auch hier mit einem beeindruckenden Befund, selbst wenn man sich nur auf die beiden Bereiche Kinderbetreuung und Angehörigenpflege fokussiert:

»Da Sorgearbeit meistens unbezahlt ist, bleibt sie im Schatten von Wirtschaftsstatistiken. Somit
hat sie auch keinen Anteil an der gemessenen volkswirtschaftlichen Wertschöpfung. Würden unter den verschiedenen Tätigkeiten unbezahlter Sorgearbeit lediglich Kinderbetreuung und Angehörigenpflege durchschnittlich entlohnt, beliefe sich allein ihr Wert auf 1,2 Billionen Euro. Nur der Wert der von Frauen geleisteten Kinderbetreuung und Pflege beliefe sich auf 826 Milliarden Euro. Im Vergleich: Das BIP in Deutschland im Jahr 2021 belief sich auf 3,6 Billionen Euro.«

Das Fazit geht dann so:

»Die Basis für einen angemesseneren Umgang mit unbezahlter Sorgearbeit ist …, ihre große gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung anzuerkennen und zu würdigen.«

Und mit einem besonderen Blick auf die Frauen:

»Das enorme Volumen der unbezahlten Sorgearbeit unterstreicht die immense Bedeutung dieser zu wenig wertgeschätzten Form der Arbeit, die die Grundlage für soziales Wohlbefinden bildet und Wertschöpfung überhaupt erst möglich macht. Da Frauen den Großteil der unbezahlten Sorgearbeit leisten, tragen sie auch den Großteil der negativen Folgen dieser Diskrepanz. Wäre die unbezahlte Sorgearbeit weniger geschlechtsspezifisch verteilt, hätten Frauen im Vergleich zu Männern weniger Nachteile in der Erwerbsarbeit, dem
Lebenseinkommen und der Alterssicherung.«

Ergänzende Befunde zu diesem Thema finden sich in dem Beitrag Die Sorgearbeit ist derzeit sicher. Weiterhin überwiegend eine Sache der Frauen, der hier am 29. Februar 2024 veröffentlicht wurde.