Seit Monaten erleben wir eine sich selbst befeuernde Debatte über das Bürgergeld, die verengt wurde auf die Aussage, dass es sich „nicht mehr lohnen“ würde, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, weil man mit diesem Bürgergeld ohne anstrengende Arbeit das gleiche auf die Hand bekommen würde, als wenn man den Buckel krumm machen muss. Die teilweise extrem vereinfachenden und zahlreiche Komponenten außer Acht lassende „Modellrechnungen“ wurden durch die Medienlandschaft getrieben (die damit transportierte Erzählung von der bürgergeldbedingten Sinnlosigkeit ordentlicher Erwerbsarbeit wurde bereits im Vorfeld der Umoperation von Hartz IV zum Bürgergeld vor allem in den sozialen Medien verbreitet, vgl. hierzu bereits im Oktober 2022 die Veröffentlichung Das Narrativ von der nicht lohnenden Arbeit von Johannes Steffen).
Im vergangenen Jahr hyperventilierte die Debatte und es wurden Berichte lanciert, dass es sogar Beschäftigte in typischen Niedriglohnjobs geben würde, die mit ausdrücklicher Bezugnahme auf das Bürgergeld ihren Job hinschmeißen. So meldete sich – dann vielfach zitiert – im Oktober 2023 der Bundesinnungsverband „Die Gebäudereiniger“ im Rahmen ihrer Herbst-Konjunkturumfrage 2023 zu Wort: »28,4 % der befragten Unternehmen geben an, dass bereits mehrere Beschäftigte mit konkretem Verweis auf das Bürgergeld gekündigt bzw. eine Kündigung in Aussicht gestellt haben.« Und das vor der Anhebung des Bürgergeldes zum 1. Januar 2024.
Im November 2023 hat sich Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit zu Wort gemeldet, in der Überschrift noch netterweise mit einem Fragezeichen hantierend: Jobkiller Bürgergeld?: Grundsätzlich gibt es zwei Wege, die beschritten werden können, wenn das Bürgergeld Menschen von der Erwerbsarbeit abhalten sollte: Es wechseln mehr Personen aus Jobs in das Bürgergeld – oder weniger Bürgergeld-Bezieher nehmen Jobs auf. Hier geht es um den Fall des Abgangs aus Erwersbarbeit in den Bürgergeld-Bezug. Weber hat sich die Daten bis Oktober 2023 angeschaut und kam zu folgendem Befund: »Tatsächlich liegen die monatlichen Zugänge aus Beschäftigung in die Grundsicherung (SGB-II-Arbeitslosigkeit) aber aktuell bis Oktober so niedrig wie noch nie. Nach der Bürgergeldeinführung Anfang 2023 sind die Zugänge sogar weiter gesunken.«
Die – allerdings in der öffentlichen Diskussion weit gestreute – Vorstellung, Reinigungskräfte würden vermehrt kündigen und stattdessen auf das Bürgergeld umsteigen, war schon im vergangenen Jahr nicht haltbar. Speziell zu dieser Berufsgruppe hatte Enzo Weber in dem Beitrag „Fakten, bitte!“: Ökonom ärgert sich über Bürgergeld-Debatte ausgeführt: »Nimmt man die Zugänge in die Grundsicherung aus der Reinigungsbranche genauer unter die Lupe, gibt es keine Ausschläge seit der Einführung des Bürgergelds. Im Gegenteil: Es sei „überhaupt keine Änderung ersichtlich, der leichte Abwärtstrend setzt sich fort“ … In Einzelfällen gäbe es womöglich eine absichtliche Inanspruchnahme von staatlichen Leistungen, aber „eine Flucht aus Beschäftigung sieht anders aus“.«
Die Kritik an den vielzitierten Berichten aus dem Bereich der Gebäudereiniger sind also schon im vergangenen Jahr breit in Frage gestellt und anders eingeordnet worden: Kündigungen wegen Bürgergeld? „Menschen mit niedrigem Einkommen sollen gegeneinander ausgespielt werden“, so einer der entsprechenden Artikel. Auch hier waren die Ausführungen in der Herbstumfrage der Gebäudereiniger Ausgangspunkt der Kritik: »„Diese Umfrage ist höchst unseriös, die Grundlage sind Annahmen statt Fakten“, wird Ulrike Laux, Vorständin der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) und zuständig für die Gebäudereiniger,« zitiert. Die Gewerkschafterin verwies »auf Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Über alle Berufsgruppen hinweg stieg demnach die Zahl der Arbeitslosen von September 2022 bis 2023 um 5,6 Prozent – in den Reinigungsberufen jedoch nur um 2,5 Prozent. „Das sind die Fakten, alles andere sind weit hergeholte Behauptungen“, so Laux.«
Substanz jenseits der Stimmungsmache?
Nun wurde im Bundestag seitens des Grünen-Abgeordneten Frank Bsirske der Bundesregierung die folgende Frage gestellt (vgl. Bundestags-Drucksache 20/10458 vom 23.02.2024, S. 50):
»Welche Informationen, beispielsweise in Form von verlässlichen statistischen Daten zum Übergang von Beschäftigung in das Zweite Buch Sozialgesetzbuch – Bürgergeld, liegen der Bundesregierung hinsichtlich der These vor, dass es seit der Einführung des Bürgergeldes im Jahr 2023 zu einer Welle massenhafter Kündigungen gekommen sei, und welche Schlussfolgerungen zieht sie angesichts der Faktenlage?«
Und was hat das hier zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales für die Bundesregierung geantwortet?
»Der Bundesregierung liegen keine empirischen Befunde zur Unterstützung der genannten These vor.
Im Jahr 2023 gab es nach Angaben der Statistik der Bundesagentur für Arbeit rund 3,28 Millionen Zugänge in Arbeitslosigkeit im Rechtskreis des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II). Das sind 2,0 Prozent bzw. 64.000 mehr Zugänge als im Jahr 2022.
Die Zugänge aus Beschäftigung im 1. Arbeitsmarkt in Arbeitslosigkeit im Rechtskreis SGB II lagen im Jahr 2023 jedoch mit 341.000 Zugängen um 13,7 Prozent bzw. 54.000 Zugängen niedriger als im Jahr 2022.
Damit gab es im Jahr 2023, dem Jahr der Einführung des Bürgergeldes, den bislang niedrigsten Zugang an Arbeitslosen in die Grundsicherung für Arbeitsuchende aus Beschäftigung am 1. Arbeitsmarkt seit ihrer Einführung im Jahr 2005.
Gleichzeitig ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Jahresverlauf 2023 saisonbereinigt weiter gestiegen.«
Derzeit gebe es schlichtweg keine Belege, dass es seit der Einführung des Bürgergelds zu einer Welle massenhafter Kündigungen gekommen sei.
Eine andere Fragestellung wäre die, ob weniger Bürgergeld-Bezieher eine Erwerbsarbeit aufnehmen als früher im Hartz IV-System.
Aber das mit den Kündigungen wegen Bürgergeld ist schlichtweg unter der Rubrik Stimmungsmache abzuheften. Allerdings muss man zur Kenntnis nehmen, dass die monatelange Debatte, dass sich Erwerbsarbeit angeblich oder in bestimmten Konstellationen aufgrund komplizierter Anrechungs- und Wegfallregelungen bei anderen Leistungen auch tatsächlich nur begrenzt lohnen würde, mittlerweile tief verankert wurde bei einer Mehrheit der Bevölkerung, nach Umfragen gehen 75 Prozent der Menschen davon aus, dass das so ist. Da kann man noch so viele Gegenrechnungen machen. Oder auf die Daten verweisen. Das Bild von denen, die ihren Job hinschmeißen und es sich mit dem Regelsatz aus dem Grundsicherungssystem auf dem heimischen Sofa bequem machen, hat sich verselbstständigt. Und wird nicht wieder verschwinden.