Die älteren Semester werden sich noch erinnern, an das Kopfschütteln bis hin zu einer neudeutsch wohl Shitstorm genannten Welle der Empörung über die Äußerung eines Politikers im Jahr 2000. Die ist als „Kinder statt Inder“ etwas verkürzt in die Annalen der bundesdeutschen Geschichte eingegangen, aber ein kurzer Blick auf die damalige Gefechtslage ist aus heutiger Sicht durchaus aufschlussreich, denn rückblickend kommt einem vieles höchst aktuell vor.
Ausgangspunkt im Jahr 2000 war der Vorschlag des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) auf der Computermesse CEBIT gewesen, zur Linderung des schlimmsten Personalmangels in Zukunftsbranchen 20.000 Computerexperten aus dem Ausland – etwa aus Indien – nach Deutschland zu holen. Die Industrie war begeistert, seit Beginn der 1990er Jahre beklagte die Computerindustrie Nachwuchsmangel, verzweifelt gesucht wurden Computerexperten. In einem Beitrag des ARD-Politikmagazins „Panorama“ aus dem März 2000 unter dem Titel Kinder statt Inder – Die Parolen eines gescheiterten Zukunftsministers hieß es: »Manche Unternehmen gaben schon damals auf und begannen ganze Betriebsteile ins Ausland zu verlegen. Die Lufthansa etwa lässt seit 1992 ihre elektronische Ticketverarbeitung in Indien erledigen. Auch SAP und die Deutsche Bank haben dorthin ausgelagert.«
Aber gar nicht begeistert von dem „Green Card“-Vorschlag des Gerhard Schröder war die oppositionelle CDU. Besonders hervorgetan hatte sich in diesem Zusammenhang der damalige CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers. Der war mal „Zukunftsminister“ in der Bundesregierung von Helmut Kohl (CDU) gewesen, von 1994 bis 1998. Vor der Landtagswahl im Nordrhein-Westfalen hatte er in einem Interview im März 2000 gesagt: „Statt Inder an die Computer müssen unsere Kinder an die Computer“. Daraus wurde dann die Schlagzeile „CDU-Politiker: Kinder statt Inder an die Computer“, was dann reduziert wurde auf das Schlagwort „Kinder statt Inder“. In der Sprache des deutschen Stammtisches empörte er sich: „Statt sich um die Integration der hier lebenden Ausländer zu kümmern, sollen jetzt noch Hindus hinzukommen“. Und legte noch eine Schippe rauf: »Es gehe nicht nur um 30.000 Computer-Fachleute, inklusive ihrer Angehörigen kämen sofort bis zu 150.000 Menschen. Angesichts der nicht gelungenen Integration der Moslems sei dies unverantwortlich.« Außerdem sei es „schlichtweg unmoralisch“, aus Ländern der Dritten Welt die Eliten abzuziehen, weil in Deutschland Fachleute fehlten, so dieser Artikel: Rüttgers verteidigt verbalen Ausrutscher. Die Kritik kam damals auch aus den eigenen Reihen, so von dem vormaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth, zu der Zeit der Chef des ostdeutschen Technologie-Konzerns Jenoptik: „Was Rüttgers gesagt habe, sei der größte Schwachsinn“, so Späth.
Wie dem auch sei – die angesprochene Verlagerung von Tätigkeiten nach Indien ist seitdem munter ausgeweitet worden. Und umgekehrt sind seitdem auch zahlreiche Inder nach Deutschland gekommen. Im Januar 2022 veröffentlichte das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) diesen Kurzbericht:
➔ Wido Geis-Thöne (2022): Zuwanderung aus Indien: Ein großer Erfolg für Deutschland. Entwicklung und Bedeutung für die Fachkräftesicherung. IW-Report, Nr. 1/2022, Köln
Darin wurde darauf hingewiesen, dass mit Blick auf die Fachkräftesicherung nicht jede Form der Zuwanderung gleich erfolgreich ist. Mit Blick auf die Inder: »Einen besonders großen Beitrag leisten hier Personen aus Indien. Im März 2021 arbeiteten 57,6 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten Inder in Deutschland in Spezialisten- oder Expertentätigkeiten, die typischerweise ein Hochschulstudium oder einen Fortbildungsabschluss, wie den Meister, voraussetzen. Hingegen betrug der entsprechende Anteil bei allen Ausländern nur 16,5 Prozent und bei den Inländern 28,3 Prozent. Besonders stark vertreten waren sie bei den von Fachkräfteengpässen besonders betroffen Expertentätigkeiten im MINT-Bereich, wo ihr Anteil mit 1,3 Prozent rund siebenmal so hoch lag wie bei der Gesamtbeschäftigung.«
Und das vor dem Hintergrund eines „dynamischen Anstiegs“ der Zuwanderung aus Indien nach Deutschland, wenngleich die zahlenmäßige Bedeutung zur Kenntnis genommen werden muss. »So ist die Zahl der Personen mit indischer Staatsangehörigkeit in Deutschland zwischen den Jahren 2010 und 2020 von 48.000 auf 151.000 angewachsen und ihr Anteil an der gesamten ausländischen Bevölkerung von 0,7 Prozent auf 1,6 Prozent gestiegen.« Interessant ist der Hinweis von Geis-Thöne auf die veränderten Zugangswege: »Kamen die Inder zu Beginn des Jahrzehnts vorwiegend im Rahmen der Erwerbszuwanderung, absolviert inzwischen ein bedeutender Teil von ihnen (zunächst) ein Hochschulstudium in Deutschland. Dies ist durchaus zu begrüßen, da die Qualifikationen so passgenauer den Anforderungen des deutschen Arbeitsmarkts entsprechen und sich Deutschland an den Investitionen in die Ausbildung beteiligt.« Das sei, so das Fazit 2022, durchaus bemerkenswert, denn: »Dass sich die Zuwanderung aus Indien in den letzten Jahren so positiv entwickelt hat, ist keinesfalls selbstverständlich. Vielmehr steht Deutschland hier in einer starken Konkurrenz mit den angelsächsischen Ländern, die mit der englischen Sprache und starken indischstämmigen Communities zwei große Vorteile haben.«
Was wissen wir über die indischen Arbeitskräfte in Deutschland?
Dazu gibt es einen neue Datenauswertung aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA):
➔ Davit Adunts et al. (2024): Indische Arbeitskräfte in Deutschland. Aktuelle Daten und Indikatoren, Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), 21.02.2024
Auch hier wird darauf hingewiesen, dass die Anzahl indischer Staatsangehöriger in Deutschland ist in den Jahren von 2010 bis 2022 deutlich gestiegen ist. Im Verhältnis zur ausländischen Bevölkerung insgesamt bzw. Drittstaatsangehörigen machen indische Staatsangehörige dennoch einen relativ kleinen Teil aus. Die Zuwanderung von indischen Staatsangehörigen ist überdurchschnittlich geprägt durch Erwerbs- und Bildungsmigration. Insbesondere die Einwanderung zur Aufnahme eines Studiums ist seit dem Jahr 2010 vergleichsweise stark gestiegen.
Die Beschäftigung von indischen Staatsangehörigen lag im Dezember 2022 bei 120.000 Personen. Im März 2023 waren knapp 116.000 der über über 210.000 hier lebenden Menschen mit indischer Staatsangehörigkeit erwerbstätig.
Die Arbeitsmarktintegration von indischen Staatsangehörigen ist gemessen an gängigen Indikatoren insgesamt positiv. Die Beschäftigungsquote ist vergleichsweise hoch und die Arbeitslosen- und SGB-II-Hilfequoten sind relativ niedrig. Unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist das Anforderungsniveau der Tätigkeit der indischen Staatsangehörigen überdurchschnittlich hoch, was sich auch in vergleichsweise hohen Arbeitsentgelten widerspiegelt.
➞ Unter den indischen (Vollzeit-) Beschäftigen lag der Medianlohn im Dezember 2022 bei 5.200 Euro. Im Vergleich hierzu lag der Medianlohn der Beschäftigten insgesamt bei 3.600 Euro und bei den ausländischen Beschäftigten bei 2.900 Euro. Aber: Diese Unterschiede sind allerdings stark durch das Qualifikationsniveau bestimmt. Vergleicht man die Löhne nach Berufsabschluss oder Anforderungsniveau, dann fallen diese deutlich geringer aus.
Der Großteil der Inderinnen und Inder möchten für immer in Deutschland bleiben und knapp zwei von fünf Menschen indischer Herkunft besitzt bereits die deutsche Staatsangehörigkeit.
Differenziert nach Wirtschaftszweigen sind indische sozialversicherungspflichtig Beschäftige überdurchschnittlich häufig beschäftigt in den Branchen Information und Kommunikation, freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen sowie dem Gastgewerbe.
Regionale Schwerpunkte der Migration aus Indien sind vor allem die Ballungszentren Berlin (25.000), München (16.000) und Frankfurt am Main (11.000). Eine wichtige Rolle spielen hier die Hochschulen, denn viele indische Staatsangehörige kommen zum Studieren nach Deutschland. Mehr als 35.000 Inder studieren in Deutschland. Nur aus China kamen noch mehr Studierende.
Indische Perspektiven für den deutschen Arbeitsmarkt?
Der eine oder andere wird im Hinterkopf haben, dass es viele, sehr viele Menschen in Indien gibt. Immerhin hat Indien nach Angaben der Vereinten Nationen mittlerweile China als bevölkerungsreichstes Land abgelöst und hat weiterhin eine erhebliche Wachstumsdynamik, während China immer noch unter den Folgen der Ein-Kind-Politik leidet, die von 1979 bis 2015 in Kraft war und mittlerweile offiziell von einer Drei-Kind-Politik abgelöst wurde, der allerdings die meisten Chinesen nicht folgen können oder wollen. China befindet sich bereits in einer demografischen Alterungs- und Schrumpfungsphase (vgl. dazu Gero Kunath: Nachwehen der Ein-Kind-Politik: China im demografischen Wandel, 2024).
Seit 2023 ist Indien mit 1,4 Milliarden Einwohnern das bevölkerungsreichste Land der Erde mit einer jungen Altersstruktur. Da werden sofort erhebliche Potenziale für eine Fachkräfteeinwanderung angedockt.
So beispielsweise in dieser neuen Veröffentlichung ebenfalls aus dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW):
➔ Gesina Leininger et al. (2024): Indien als wichtiges Fokusland bei der Fachkräfteeinwanderung. IW-Kurzbericht, Nr. 9/2024, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Februar 2024
Die Fachkräfterekrutierung aus Indien biete vielfältige Potenziale für Deutschland, die mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) seit dem Jahr 2020 und der aktuellen Novellierung noch einmal größer geworden sind, so die Autoren des Kurzberichts.
Es wird darauf hingewiesen, dass die »Anzahl der Anträge auf Anerkennung von Berufsabschlüssen qualifizierter Fachkräfte aus Indien ist von 150 Anträgen im Jahr 2015 auf 1.695 im Jahr 2022 dynamisch angestiegen (sei) … Eine besondere Zunahme der Anträge für Indien ist für den Zeitraum 2020 bis 2021 zu verzeichnen. Das könnte auf das Inkrafttreten des FEG im März 2020 zurückzuführen sein.«
Generell entfällt ein Großteil der Anerkennungsanträge in Deutschland auf die Gesundheitsberufe. Da diese reglementiert sind, ist die Anerkennung verpflichtend, um in diesen Berufen arbeiten zu dürfen.
Aber das Spektrum reicht weiter, denn zu den häufigsten Ausbildungsberufen in Indien zählen IT-Berufe, Fahrzeug- und Kfz-Mechaniker, Elektrotechniker sowie Berufe im Textil- und Bekleidungsgewerbe.
Die berufliche Bildung in Indien wird größtenteils durch das staatliche Directorate of General Training (DGT) angeboten. Die Berufsabschlüsse der DGT haben hohes Potenzial zur Anerkennung in Deutschland, so Leininger et al. (2024).
Trotz der gut strukturierten Ausbildungsberufe in Indien sei die Vermittlung indischer Fachkräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt „herausfordernd“. Durch das deutsch-indische Migrationsabkommen aus dem Jahr 2022 soll die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte aus Indien nach Deutschland weiter gefördert werden. Wichtig für eine schnelle und nachhaltige Fachkräftesicherung aus Drittstaaten ist eine bedarfsorientierte Abwicklung der Visa-Anträge vor Ort. Hier bestehen derzeit lange Wartezeiten in Indien, so die IW-Autoren.