Der deutsche Mindestlohn und ein vergleichender Blick über den nationalen Tellerrand am Anfang des Jahres 2024

Regelmäßig veröffentlicht das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung einen Mindestlohnbericht, in dem nicht nur die Entwicklung der allgemeinen Lohnuntergrenze in Deutschland betrachtet wird. Auch die Entwicklung in anderen Ländern wird unter die Lupe genommen. Dabei ist natürlich das, was in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) passiert, von besonderem Interesse.

»Zum Jahreswechsel sind die gesetzlichen Mindestlöhne in der Europäischen Union kräftig gestiegen: Die 22 EU-Staaten mit einem allgemeinen Mindestlohn erhöhten diesen vor dem Hintergrund hoher Inflationsraten im Mittel (Median) um 9,7 Prozent. Besonders stark fielen die nominalen Zuwächse in vielen osteuropäischen Ländern aus, aber auch die Niederlande (+12,9%) und Irland (+12,4%) haben ihren jeweiligen Mindestlohn deutlich angehoben.«

Und was ist in Deutschland passiert? »In Deutschland fiel die Anhebung zum Jahreswechsel mit einem nominalen Plus von nur 3,4 Prozent auf nun 12,41 Euro hingegen deutlich kleiner aus; EU-weit stieg der Mindestlohn nur in Belgien (+2,0%) noch langsamer.« So die Ausführungen der Hans-Böckler-Stiftung unter der Überschrift Mindestlohn: Deutliche Anhebungen in den meisten EU-Ländern – Deutschland mit Mini-Zuwachs weit hinten. Da hat man eine zentrale Botschaft schon im Titel untergebracht – also die von dem nur geringen Zuwachs, den der deutsche gesetzliche Mindestlohn zum 1. Januar 2024 verbuchen konnte.

Das ist richtig, aber gerade im europäischen Vergleich auch nur die halbe Wahrheit, wenn der Eindruck erweckt werden sollte, dass der deutsche Mindestlohn zurückbleibt, abgehängt wird, anders als in anderen Ländern „zu niedrig“ sei.

Schauen wir uns in einem ersten Schritt die Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohnes in Deutschland seit seiner Einführung im Januar 2015 sowie die prozentualen Anhebungen, die diese Lohnuntergrenze für (fast) alle seitdem erfahren hat, an:

Zum Januar 2024 ist der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland tatsächlich nur um 3,42 Prozent angehoben worden, aber man muss berücksichtigen, dass es im Gefolge des politischen Eingriffs in die Dynamisierung des Mindestlohns im Gefolge des Koalitionsvertrages zwischen SPD, Grünen und FDP im Jahr 2022 zwei erhebliche Anhebungen gegeben hat und die Lohnuntergrenze das 12 Euro-Niveau erreicht hat.

Richtig ist: Gemessen am nationalen Verbraucherpreisindex (VPI) stiegen die Preise zwischen Oktober 2022, dem Zeitpunkt der vorangegangenen Anpassung, und Januar 2024 um 3,6 Prozent und damit stärker als der Mindestlohn. Es ist also zu einem Kaufkraftverlust gekommen. Aber blickt man länger zurück, dann ergibt sich das folgende Bild:

Seit 2015 legte der deutsche Mindestlohn real, also preisbereinigt, um 15,2 Prozent zu. Allerdings: Dieser Kaufkraftgewinn ist aber fast vollständig der außerordentlichen Erhöhung auf 12 Euro durch den Gesetzgeber im Oktober 2022 zu verdanken.

Wo steht der deutsche Mindestlohn im europäischen Vergleich?

Das WSI hat die Mindestlöhne in unterschiedlichen Ländern betrachtet. Dazu ausführlicher:

➔ Malte Lübke und Thorsten Schulten (2024): WSI-Mindestlohnbericht 2024. Reale Zugewinne durch die Umsetzung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie. WSI Report Nr. 93, Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI), Februar 2024

In 22 der EU-Staaten gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn. Kein gesetzlicher Mindestlohn existiert in Österreich, den nordischen Ländern und Italien. In diesen Staaten besteht aber eine sehr hohe Tarifbindung, die auch vom Staat stark unterstützt wird. Faktisch ziehen dort also Tarifverträge eine allgemeine Untergrenze.

Die Höhe des deutschen Mindestlohns ist dabei auf den ersten Blick im oberen Bereich angesiedelt, allerdings haben Irland, die Niederlande und Luxemburg nominal höhere Stundenlohn-Beträge.

Wenn man allerdings die unterschiedliche Kaufkraft in den einzelnen Ländern berücksichtigt, dann zeigt sich, dass Deutschland in Kaufkraftstandards auf dem ersten Platz landet.

Es wird generell erkennbar, dass die Kaufkraftbereinigung in den Ländern, die nominal einen hohen Mindestlohn haben, dazu führt, dass der kaufkraftbereinigte Wert niedriger ausfällt. »Das Preisniveau in Deutschland liegt über dem europäischen Durchschnitt, sodass der Mindestlohn in KKS niedriger ausfällt und 9,94 Euro beträgt. Bei den westeuropäischen Nachbarn ist dieser Effekt noch größer, sie fallen entsprechend zurück.«

Auf den ersten Blick fällt die weiterhin ausgeprägte Spannweite der Mindestlohn-Beträge innerhalb der EU auf – vom Schlusslicht Bulgarien mit 2,85 Euro pro Stunden bis hin zu den 14,86 Euro in Luxemburg. Allerdings weisen Lübke/Schulten (2024) darauf hin, dass sich die Spreizung innerhalb der EU trotz weiterhin erheblicher Unterschiede beträchtlich verringert habe. »Während der luxemburgische Mindestlohn im Jahr 2015 noch fast zehnmal so hoch war wie der bulgarische, ist die Spannweite Anfang 2024 auf den Faktor 5,2 zurückgegangen, weil Bulgarien und andere osteuropäische Staaten aufgeholt haben.«

Und dann diese europäische Mindestlohnrichtlinie

Lübke und Schulten weisen darauf hin, dass wir in einer Zeit leben, »in der die Bundesregierung die EU-Mindestlohnrichtlinie in nationales Recht umsetzen muss – dazu haben die Mitgliedsstaaten nur noch bis zum 15. November 2024 Zeit. Die Richtlinie nennt als Referenzgrößen für einen angemessenen Mindestlohn unter anderem mindestens 60 Prozent vom Medianlohn im jeweiligen Land oder 50 Prozent vom Durchschnittslohn. Die Schwelle von 60 Prozent des Medians erreicht oder überschritten haben in der EU lediglich Portugal, Slowenien und Frankreich.«

Was ist das jetzt schon wieder? Und was hat die EU mit den nationalen Mindestlöhnen zu tun?

➔ Es geht um die Richt­li­nie 2022/2041 des Eu­ro­päi­schen Par­la­ments und des Rates vom 19.10.2022 über an­ge­mes­se­ne Min­dest­löh­ne in der Eu­ro­päi­schen Uni­on. Ob­wohl die EU an sich den Mit­glieds­staa­ten beim The­ma Min­dest­lohn kei­ne Vor­schrif­ten ma­chen kann, hat sie das 2022 doch ge­tan – und zwar auf ei­nem Um­weg bzw. un­ter der Vor­aus­set­zung, dass in einem EU-Land be­reits ein Min­dest­lohn gilt. Die­se Län­der, un­ter ih­nen Deutsch­land, müs­sen seit Ok­to­ber letz­ten Jah­res die Richt­li­nie 2022/2041 über an­ge­mes­se­ne Min­dest­löh­ne in der Eu­ro­päi­schen Uni­on be­ach­ten.

Zurück zu den Referenzgrößen der Richtlinie, also den mindestens 60 Prozent vom Medianlohn im jeweiligen Land oder 50 Prozent vom Durchschnittslohn. Dazu Lübke/Schulten (2024): Der Mindestlohn in Deutschland hat sich durch die geringfügige (aktuelle) Anhebung und die Entwicklung des allgemeinen Lohnniveaus wieder von dieser Zielmarke entfernt und liegt erheblich darunter. Bereits 2023 wäre zur Erfüllung des 60-Prozent-Kriteriums ein Mindestlohn von 13,61 Euro nötig gewesen, im laufenden Jahr 2024 von rund 14 Euro, so Berechnungen der Wissenschaftler.

»Bei ihrer jüngsten Entscheidung hat die deutsche Mindestlohnkommission die Vorgaben der Europäischen Mindestlohnrichtlinie – gegen das Votum der Gewerkschaften – außen vorgelassen und angekündigt, auch in Zukunft nur die im Mindestlohngesetz explizit genannten Kriterien zu berücksichtigen.«

Fazit von Lübke und Schulten: Der Referenzwert von 60 Prozent des Medianlohns sollte explizit als Untergrenze für den Mindestlohn in das Mindestlohngesetz aufgenommen werden.