»BAföG steht für mehr Chancengleichheit im deutschen Hochschulsystem. Diese staatliche Studienfinanzierung gibt es seit 1971, und sie hat sich millionenfach bewährt. Mehr als vier Millionen Menschen konnten bisher dank BAföG studieren.« Das kann man auf der Seite des Deutschen Studierendenwerks (DSW) lesen. »Studierenden-BAföG wird in der Regel zur Hälfte als Zuschuss (= Geschenk) und zur Hälfte als zinsloses Darlehen gewährt. Von der Darlehenssumme muss man insgesamt maximal 10.010 Euro zurückzahlen.«
Im Jahr 2022 wurden für die Förderung von Studierenden 2,5 Milliarden Euro bereitgestellt . Im Durchschnitt erhielten Studierende monatlich 611 Euro pro Person.
Die erste Ausbildungsförderung für Studierende gab es bereits ab 1957 – nach dem „Honnefer Modell“. Das Geld wurde in diesem System aufgrund von Richtlinien vergeben. Gefördert wurden nur Studierende an Universitäten und gleichgestellten Hochschulen mit besonders guten Leistungen. 1971 trat dann das Bundesausbildungsförderungsgesetz – das BAföG – in Kraft. Größte Neuerung in diesem Gesetz ist der Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung, der somit auch einklagbar ist. Voraussetzung für eine Förderung nach dem BAföG ist, dass das Einkommen der Eltern (Elternabhängigkeit) und der Ehegatten/Lebenspartner unter einer bestimmten Einkommensschwelle liegt (vgl. Geschichte und Statistik zum BAföG).
In den 1970er Jahren gab es BAföG-Gefördertenquoten von über 40 Prozent – diese Werte werden schon lange nicht mehr erreicht. Von 2012 bis 2020 erreichte die Quote jedes Jahr einen neuen Rekordtiefstand. 2020 waren es nur noch 10,9 Prozent. 2021 gab es dann den ersten leichten Anstieg auf 11,3 Prozent der Studierenden. Dies ist allerdings im Wesentlichen zurückzuführen auf die temporäre Verlängerung der Regelstudienzeit durch die Bundesländer aufgrund der Corona-Pandemie. Zwischen den Bundesländern gibt es eine erhebliche Streuung bei den Gefördertenquoten: So lag die Quote 2021 im Saarland bei 8,3 und in Hamburg bei 8,7 Prozent, während am oberen Ende in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern 17,3 und Sachsen 18,0 Prozent der Studierenden BAföG-Empfänger waren (vgl. zu den Zahlen CHECK – Studienfinanzierung in Deutschland 2022).
Ulrich Müller, Experte für Studienfinanzierung beim Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), spricht angesichts der dramatisch geringen Förderquote von einem „Ausgestaltungs- und Akzeptanzproblem“ des BAföG.
Die Auswirkungen des 27. BAföG-Änderungsgesetzes aus dem Jahr 2022 werden sich erst in den kommenden Jahren zeigen – aber man sollte nicht zuviel oder besser gar nichts erwarten hinsichtlich der Gefördertenquoten. Diese Novelle des Gesetzes in Kurzform: Das 27. BAföG-Änderungsgesetz der Ampel-Koalition wurde zum Wintersemester 2022/23 wirksam. Der Förderungshöchstbetrag stieg von 861 Euro auf 934 Euro. Die Bedarfssätze wurden um 5,75 Prozent erhöht, die Freibeträge vom Elterneinkommen um 20,75 Prozent von 2.000 Euro
auf 2.415 Euro angehoben. Auch der Vermögensfreibetrag wurde deutlich erhöht. Die Altersgrenze stieg von 30 auf 45 Jahre. »Da sich diese Reform jedoch – abgesehen von der Altersgrenze – auf Förderhöhen und Freibeträge beschränkte, bleibt die grundlegend-konzeptionelle BAföG-Krise weiter ungelöst: Die Ausbildungsförderung hat nicht Schritt gehalten mit der Lebensrealität der Studierenden und den Entwicklungen im Hochschulsystem.
Der normorientierte Ansatz des BAföG geht zum Beispiel davon aus, dass Studierende in Vollzeit und in Regelstudienzeit studieren,« so das CHE. Ein Studium in Regelstudienzeit zu absolvieren haben 2021 gerade 32 Prozent geschafft. Dieser Aspekt taucht an anderer Stelle mit Blick auf ein noch ausstehendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Ausgestaltung des BAföG wieder auf: »Die durch Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip zum staatlichen Gestaltungsauftrag erhobene, faktische Bildungschancengerechtigkeit kann allerdings nicht erreicht werden, wenn der Gesetzgeber von denjenigen Studierenden, die ihre Bedarfe nicht aus eigenen bzw. elterlichen Mitteln decken können, faktisch erwartet, zu den schnellsten 32% der Studierenden zu gehören«, so Shari Gaffron und Julian Seidl in ihrem Beitrag Zum Studieren genug, zum Leben zu wenig. Die derzeitige Ausgestaltung der Bedarfssätze in der Ausbildungsförderung, die unter denen der Grundsicherung liegen, wird von Teilen der Rechtsprechung mit der Annahme legitimiert, dass Studierenden typischerweise eine Nebenerwerbstätigkeit zumutbar sei, um die Differenz zum tatsächlichen Grundbedarf sowie darüber hinausgehende ausbildungsbedingte Bedarfe zu decken. Gleichzeitig erwartet man von ihnen aber eine vollumfängliche Konzentration auf das Vollzeit-Studium, das nur dann in Regelstudienzeit abgeschlossen werden kann – und genau daraufhin ist die Ausbildungsförderung ausgerichtet worden ( § 2 Abs. 5 Nr. 2 und § 15a BAföG).
➔ Ein Blick auf die von Gaffron/Seidl 2023 angesprochene Existenzsicherungsproblematik: »Die Leistungen nach dem BAföG liegen … deutlich unter dem für die existenzsichernden Leistungen maßgeblichen Regelsatz nach dem SGB II bzw. SGB XII. Gründe dafür sind sowohl die Ermittlung als auch die Fortschreibung der Grundbedarfssätze: Ihnen liegen keine konkreten statistischen Bezugsgrößen zugrunde, sie wurden vielmehr 1971 erstmals normativ wertend festgelegt und seitdem in ihrer „relativen Weiterentwicklung“ (prozentual) alle zwei Jahre fortgeschrieben.« Und weiter heißt es in dem Beitrag: »Den Maßstab für die Fortschreibung bildet die Entwicklung der Einkommensverhältnisse und der Vermögensbildung, der Lebenshaltungskosten sowie der finanzwirtschaftlichen Entwicklung (§ 35 S. 2 BAföG). Damit sind die BAföG-Sätze zwar an die wirtschaftliche Entwicklung und Inflation gekoppelt, orientieren sich aber nicht am tatsächlichen Bedarf der Studierenden. Die Diskrepanz zur bedarfsorientierten Ermittlung und Fortschreibung der Regelsätze nach dem SGB II bzw. SGB XII ist deutlich: Während die Sätze der Regelbedarfsstufe 1 im SGB II von 2022 bis 2023 um rund 12 Prozent stiegen, wurde der Grundbedarf für Studierende nach dem BAföG zum Wintersemester 22/23 um 5,75% angehoben. Die bundesweit einheitliche Wohnpauschale stieg „überproportional“ um 11% auf 360 Euro. Dies steht freilich, gerade in Großstädten, in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Höhe der Mietpreise. Zur Veranschaulichung: Im Rahmen der Grundsicherung gilt für eine Einzelperson in München aktuell eine Bruttokaltmiete von bis zu 781 Euro als angemessen.«
Doppelschlag: Verloren in der Antragswelt … und in der halbierten Digitalisierung
Ein nach der Medienberichterstattung besonders drängendes „Ausgestaltungsproblem“ des BAföG betrifft die Wartezeit, um das Geld überhaupt bekommen zu können. »Vielen Studierenden geht gerade das Geld aus. Denn die Bearbeitung der BAföG-Anträge dauert länger als gewöhnlich. Das Amt ist überfordert – es hakt auch bei der Digitalisierung«, berichtet Leon Spachmann in seinem Beitrag Wieso Studierende aus Tübingen monatelang auf BAföG-Zahlungen warten müssen, der am 18. November veröffentlicht wurde. »Subarna (25) und Isabelle (24) haben beide ihren BAföG-Antrag im August gestellt. Seitdem warten sie. Die Bearbeitung zieht sich über Monate hin.«
»Um Anträge schneller bearbeiten zu können, hat das Studierendenwerk die telefonischen Sprechzeiten eingeschränkt. Es bittet darum, nicht anzurufen, um die Bearbeitungszeit nicht noch zu verlängern.«
Zuständig für die Bearbeitung und Bescheidung sind die Studierendenwerke.
»Das Studierendenwerk, das für alle BAföG-Anträge aus Tübingen, Reutlingen und der Region zuständig ist, sagte auf Anfrage des SWR, dass es aktuell überlastet sei. Letztes Jahr haben sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um rund 8.000 Anträge gekümmert. Gerade dauere die Bearbeitung deutlich länger als üblich. Dafür gebe es mehrere Gründe:
➞ Anträge gehen gleichzeitig ein: Laut dem Amt gehen die meisten Anträge sehr konzentriert ab Anfang August für das Wintersemester ein. Das führe zu einem Rückstau.
➞ Personalmangel: Gerade habe das Amt große Schwierigkeiten, offene Stellen zeitnah zu besetzen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssten sich außerdem noch um andere Aufgaben kümmern, zum Beispiel um den Heizkostenzuschuss.
➞ Unvollständige Anträge: „Leider ist immer noch der weitaus größte Teil der eingehenden Anträge unvollständig“, schreibt das Studierendenwerk auf Anfrage des SWR. Die Formulare sollten aufmerksam gelesen und Nachweise beigefügt werden. Studierende kritisieren jedoch, dass das Ausfüllen des Antrags extrem kompliziert sei.«
Und diese vielbeschworene Digitalisierung darf nicht fehlen:
Der folgende Passus könnte einer Kabarett-Veranstaltung entnommen sein, bildet aber tatsächlich nicht nur die ernüchternden Realitäten der dutschen Verwaltungslandschaft ab:
»Seit 2021 können Studierende deutschlandweit das BAföG über die Plattform „BAföG-Digital“ online beantragen. Die Antragsstellung wurde also digitalisiert – die danach folgenden Prozesse aber nicht. „Unsere Mitarbeiter müssen die online eingereichten BAföG-Anträge daher ausdrucken“, schreibt das Studierendenwerk Tübingen. Eine elektronische Akte gebe es noch nicht.«
Eine Sprecherin des Bundesbildungsministeriums wird dazu mit diesen erhellenden Worten zitiert: „Den Ländern ist bewusst, dass der momentane Zustand auf Dauer nicht tragbar ist. Es wurden bereits Pilotverfahren zur Einführung einer E-Akte gestartet.“ Pilotverfahren wurden gestartet – man könnte auch formulieren: das wird noch dauern, wenn es denn überhaupt kommt.
»Wer studieren will, der kann – auch ohne vermögende Eltern: Dafür steht das BAföG. Doch bis der Antrag durch ist, vergehen oft Monate. Und ist das Geld da, reicht es vielen nicht aus«, so auch dieser Beitrag: Studierende warten bis zu fünf Monate. Auch hier: »In den Ämtern stapeln sich die Anträge.« Und weiter heißt es mit Bezug auf eine nicht-repräsentative Befragung: »Gut jeder dritte befragte Studierende gab demnach an, zwischen drei und fünf Wochen für die Bearbeitung des Antrags zu brauchen. Neun von zehn der befragten Studierenden schafften es nicht, alle geforderten Unterlagen einzureichen. Das verlängere die Bearbeitungszeit der Anträge erheblich, heißt es auf Anfrage aus den BAföG-Ämtern in Hamburg und Trier. Das Personal sei derzeit knapp.« Und es wird angesichts der Rahmenbedingungen in diesem Teilbereich des Arbeitsmarktes sicher auch absehbar knapp bleiben. Zugleich sind mögliche Entlastungen und Beschleunigungen wie eine digitale Akte noch Zukunftsmusik.
Sollte etwa auch hier am Ende wieder das Bundesverfassungsgericht …?
Die hinsichtlich der Existenzsicherung unzureichende Ausgestaltung könnte »gegen die Verfassung verstoßen – zumindest, wenn es nach dem Hamburger Rechtsanwalt Joachim Schaller geht. Seine Mandantin, eine frühere Psychologiestudentin, hatte 2014/15 gegen den damals geltenden BAföG-Grundbedarf geklagt. Seitdem ging die Klage durch mehrere Instanzen. 2021 hatte das Bundesverwaltungsgericht einem Verstoß gegen die Gewährleistung eines ausbildungsbezogenen Existenzminimums Recht gegeben. Nun werden die BAföG-Sätze vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe geprüft«, so Imke Wrage in ihrem Artikel Studierende warten bis zu fünf Monate. Man wird warten müssen, was die Verfassungsrichter am Ende (nicht) entscheiden. Die Einschätzung von Gaffron/Seidl 2023 zu dem laufenden Verfahren vor dem BVerfG geht so: »Zwar betrifft das aktuell vor dem BVerfG anhängige Verfahren nur den Zeitraum von Oktober 2014 bis Februar 2015 und hat allein die Vereinbarkeit des Grundbedarfssatzes für Studierende mit Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip zum Gegenstand. Die im Vorlagebeschluss des BVerwG aufgeworfene Argumentation hat allerdings Implikationen über den streitgegenständlichen Zeitraum und den streitgegenständlichen Leistungsbestandteil hinaus: Ausgehend von der Prämisse, dass zur Verwirklichung gleichberechtigter Teilhabe am staatlichen Bildungssystem existenznotwendige und ausbildungsbezogene Bedarfe vollständig zu erfassen und durch Leistungen individueller Ausbildungsförderung zu sichern sind, ist eine bedarfsgerechte Anpassung sowohl der derzeitigen Grundbedarfe als auch der Wohnkostenpauschale für … Studierende verfassungsrechtlich geboten … Demgegenüber sind die persönlichen Leistungsausschlüsse bei Überschreiten von Altersgrenzen, der Regelstudienzeit, Vorschriften zu Fachrichtungswechseln und Leistungsnachweisen nicht unmittelbar durch das anhängige Verfahren betroffen.«