Aus der Mangelwirtschaft: Der Kindernotdienst versinkt in der Not und dem Rettungsdienst geht die Puste aus

Zwei Anmerkungen vorweg: Die in diesem Beitrag beschriebenen Beispiele stammen nicht ohne Grund aus Berlin, denn die Hauptstadt der auf dem Papier viertgrößten Volkswirtschaft der Welt mag zwar (noch nicht völlig) eine „gescheiterte Stadt“ sein, sie ist aber in vielerlei Hinsicht aufgrund der Problemkonzentration ein Frontrunner dessen, was mit dem Begriff der Mangelwirtschaft umrissen werden soll. Zugleich muss darauf hingewiesen werden, dass die traurige Perspektive mangelwirtschaftlicher Permanenz für viele vor uns liegende Jahre auf gar keinen Fall eine auf diese Stadt begrenzte ist – sondern zahlreiche Lebensbereiche werden überall in diesem Land in Mangellagen abrutschen und mit mehr oder weniger gelingenden kompensatorischen Klimmzügen versuchen, den Mangel zu bewältigen, besser: zu verwalten. Der aus der hier besonders interessierenden sozialpolitischen Perspektive relevante Mangel wird nicht nur einer des Geldes sein, sondern vor allem der Menschen, dabei nicht nur der Fachkräfte.

Die beiden hier präsentierten Fallbeispiele aus den Untiefen der Mangelwirtschaft beziehen sich auf den Kernbereich der Sozialpolitik, in dem es immer um die schwächsten und/oder verletzlichsten Glieder in einer Gesellschaft geht. Wo Hilfe besonders notwendig ist und sich nicht selten jeglicher Verwertungslogik entzieht.

„Katastrophe mit Ansage“: Der Kindernotdienst in schwerer Not

»Kinder aus gefährlichen Situationen herauszuholen, so lautet der Auftrag des Kindernotdienstes. Rund um die Uhr soll die Stelle erreichbar und mobil sein, um Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt oder Vernachlässigung wurden oder deren Eltern plötzlich verstorben sind, kurzfristig in Obhut zu nehmen. In einem offenen Brief schlägt die Berliner Stelle jedoch Alarm: Die Lage in den Aufnahmestellen sei so schlimm, dass Kinder dort keinen Schutz fänden«, so dieser Beitrag: Überlastung und Gewalt: Berliner Kindernotdienst schlägt Alarm. Ein anderer Artikel, verfasst von Xenia Balzereit, trägt diese beunruhigende Überschrift: „Einige der Kinder bewaffnen sich“: Berliner Kindernotdienst beschreibt in Brandbrief dramatische Zustände: »Mitarbeiter des Kindernotdienstes schlagen wegen Überlastung Alarm. Es drohe eine „Katastrophe mit Ansage“.«

In einem offenen Brief haben sich Beschäftigte des Kindernotdienst Berlin mit einer (erneuten) Problembeschreibung und dringenden Forderungen an ihren Arbeitgeber, die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, gerichtet.

Den offenen Brief im Original gibt es hier:

Der Zusammenbruch des Kindernotdienstes. Offener Brief an den Regierenden Bürgermeister Berlins Herrn Kai Wegner und die Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, Frau Katharina Günther-Wünsch (07.06.2023)

Was berichten die betroffenen Fachkräfte aus diesem im wahrsten Sinne des Wortes existenziellen Dienst?

»Seit Jahren existiert im Kindernotdienst eine zunehmende strukturelle Überlastung. Die Ursache liegt insbesondere in der viel zu langen Aufenthaltsdauer von Kindern mit besonderen Bedarfen, denen von der öffentlichen Jugendhilfe kein bedarfsgerechtes Angebot gemacht wird. Für die dauerhafte Betreuung dieser Kinder fehlt dem Kindernotdienst die räumliche, personelle und fachliche Ausstattung. Die genannten Kinder bleiben monatelang bei uns, während der Kindernotdienst strukturell nur auf eine Aufenthaltsdauer von wenigen Tagen ausgelegt ist.«

Angesichts der Tatsache, dass der Kindernotdienst ja gerade Kinder schützen soll vor Gewalt, sind die folgenden Schilderungen kaum zu ertragen:

»Infolgedessen kommt es unter unserem eigenen Dach regelmäßig zu neuen Kindeswohlgefährdungen, die abzuwenden unser eigentlicher Auftrag ist. Kinder mit schwersten seelischen Behinderungen, z.B. aufgrund von Traumatisierungen, die aufgrund von selbst- und/oder fremdgefährdendem Verhalten Psychopharmaka einnehmen müssen, sind von der monatelangen Dauer ihrer Aufenthalte zunehmend frustriert und verzweifelt. Infolge dessen kommt es immer wieder zu Selbstverletzungen, sowie zu körperlichen und mehrfach auch sexualisierten Übergriffen. Diese finden auch zum Nachteil von jüngeren schutzbedürftigen Kindern statt, die sich nach einer akuten Notsituation in der Obhut des Kindernotdienstes befinden. Einige der Kinder bewaffnen sich mit spitzen Gegenständen oder Messern, um sich vor Übergriffen zu schützen oder selbst welche zu begehen. Zum Schutz der Mitarbeitenden und anderen Kindern werden deshalb seit mehreren Monaten sogar Security-Mitarbeiter eingesetzt. Polizei und Rettungsdienste sind Dauergäste im Kindernotdienst.«

Und es wird deutlich darauf hingewiesen, dass das alles jetzt nicht über Nacht über Berlin gekommen ist, sondern Resultat jahrelanger Versäumnisse: »Obwohl jahrelang von der Leitungsebene des Kindernotdienstes gegenüber dem Senat, den bezirklichen Jugendämtern und anderen Kooperationspartnern die Grenzen und Möglichkeiten des Kindernotdienstes und dessen gesetzlicher Auftrag hingewiesen wurde, haben sich die Verhältnisse in dieser Zeit nur immer weiter zugespitzt.«

Und keiner, vor allem keiner in den verantwortlichen Positionen, kann sagen, man habe so etwas nun wirklich nicht gewusst:

»Seit März 2022 wurden die zuständigen Stellen im Senat von Mitarbeitenden des Kindernotdienstes durch eine große Anzahl von Gefährdungs- und Überlastungsanzeigen auf die Situation aufmerksam gemacht. Es gibt dutzende Vorfallsberichte bei der Heimaufsicht, die Vorfälle von körperlicher Gewalt gegenüber Kindern oder Mitarbeitenden, oder sexueller Gewalt unter Kindern dokumentieren. Es gab Presseberichte und eine parlamentarische Anfrage im Abgeordnetenhaus.«

Immer wieder kann man lesen oder hören, dass Personalmangel einen „Teufelskreislauf“ in Gang setzt. Hier mal ein mehr als eindrückliches Beispiel, wie das vor Ort dann aussieht:

»Eine Situation die nicht auszuhalten ist, führt auf der einen Seite zu Krankheit, Rückzug, Selbstschutz, Resignation und auf der anderen Seite zu immer wiederkehrender eskalierender Gewalt gegen sich selbst und andere. Der beispiellos hohe Krankenstand im Kindernotdienst ist ein Zeugnis davon. Allein auf die neun Mitarbeitenden im Betreuungsbereich entfallen Stand Anfang Mai 1.008,5 Überstunden. Durch diese Überlast entstehen Personalausfälle, die durch die Mitarbeitenden der Beratungsstelle ausgeglichen werden müssen. Dadurch ist immer wieder die Beratungsstelle unterbesetzt. Ist diese nicht mehr arbeitsfähig, werden durch eine Telefonschaltung, die eigentlich als kurzfristige Lösung für akute Notfälle im Haus gedacht ist, alle Anrufe zum Jugendnotdienst weitergeleitet. Mittlerweile muss diese Schaltung teilweise für ganze Tage und Nächte aktiviert werden. Der Druck wird so zu unseren Kolleg*innen dort verlagert, die ihrerseits aber mit ganz ähnlichen strukturellen Problemen konfrontiert sind wie der Kindernotdienst.«

Man sollte sich verdeutlichen, was es für ein Kind bedeutet, Monate im Notdienst zu verbringen. »Zum Vergleich: Stellen Sie sich vor, sie lägen vier Monate im Gang der Rettungsstelle eines Krankenhauses, die Diagnose ist längst klar, aber die  Ärztin sagt Ihnen: „Sorry – es gibt keinen Platz auf Station“ oder „Es tut uns leid, wir wissen was sie bräuchten, aber die Behandlung für Sie ist leider zu teuer.“«

Und der eine Mangel potenziert den Mangel an einer anderen Stelle, der Druck verteilt sich durch das ganze fragile System – ein System, das sich um existenzielle Notlagen kümmern soll und muss, es geht hier nicht um Hausaufgabenhilfe oder eine Kinderfreizeit:

Der Kindernotdienst ist der Auffassung, dass es nicht sein kann (und darf), »dass ein Kindernotdienst mit 10 Betten dauerhaft als Außenstelle der Kinder- und Jugendpsychiatrie herhalten muss. Kurzfristige Aufenthalte von Kindern mit solchen Bedarfen sind Teil unseres Auftrags. Neben diesen Fällen kommt die eigentliche Aufgabe aber gegenwärtig unter die Räder. Das sind die Kinder, die in akuten Notsituationen unseren Schutz brauchen. Seien es Findelkinder, seien es Kinder, die häusliche Gewalt erlebt haben, Kinder die Opfer von körperlicher, seelischer oder sexueller Gewalt geworden sind, Kinder, die gerade durch Unfall, Krankheit, Suizid oder Femizid ihre Eltern verloren haben, oder Kinder, deren Familien sich vorübergehend nicht um sie kümmern können, etwa wegen Sucht, psychischen Erkrankungen oder Inhaftierung. Dies ist eine herausfordernde, aber wichtige Aufgabe. Die Kinder, die zu ihrem Schutz zu uns kommen, haben es verdient, dass sie fachliche und empathische Mitarbeitende treffen. Niemals darf es dazu kommen, dass Kinder mit Gewalterfahrungen bei uns neue Gewalt erleben. Und doch geschieht dies täglich.«

Und was fordern die Beschäftigten des Kindernotdienst Berlin? Zum einen Selbstverständlichkeiten, sollte man meinen, wie eine „bedarfsgerechte Versorgung jedes einzelnen Kindes wie im SGB VIII vorgesehen“. Und bei den „handfesten“ Forderungen, also wo es um Personal geht, muss man dann für eine Stadt wie Berlin so eine Forderung lesen:

„Die Sicherstellung, dass zu jedem Zeitpunkt des Tages und der Nacht zwei Fachkräfte zur Prüfung von Kindeswohlgefährdungen und zur Krisenintervention ausrücken können, wie es unserem gesetzlichen Auftrag als Inhaber der Garantenstellung für das Wohl der Kinder dieser Stadt entspricht.“ Offensichtlich wird das derzeit in Berlin nicht realisiert! Man kommt aus dem Kopfschütteln nicht heraus.

Wenn dem Rettungsdienst die Puste ausgeht – der Ausnahmefall als Normalität

Ein weiteres Epizentrum des mangelwirtschaftlichen Bebens in der deutschen Hauptstadt ist seit langem der Rettungsdienst (vgl. dazu bereits den letzten Beitrag des Jahres 2022: Feuer frei nicht nur in Berlin. Das bedeutet wieder Ausnahmezustand für die Rettungsdienste. Den gibt es aber zunehmend als Normalität an immer mehr Tagen des Jahres vom 31.12.2022). »Eine Horrorvorstellung: Atemnot und stechender Brustschmerz – Verdacht auf Herzinfarkt. Und der Rettungswagen braucht ewig, bis er endlich da ist. Das sind die Zustände in Berlin. Es gibt Momente, in denen ist nicht ein einziger Rettungswagen verfügbar. Da ist es nur eine Frage der Zeit, bis jemand nachweislich wegen des desolaten Notfallrettungs- und Gesundheitssystems stirbt.« So beginnt der Beitrag Berliner Rettungsdienst ist wieder im Ausnahmezustand – jetzt soll eine Lösung her von Andreas Kopietz. Man muss an dieser Stelle an das Krisenjahr 2022 in Berlin erinnern: »Von 0 auf 30 in zwei Jahren: Die Zahl der monatlichen Ausnahmezustände der Berliner Feuerwehr ist rapide gestiegen«, wurde vor einem Jahr, im Juli 2022 berichtet: Beinahe täglich im Ausnahmezustand. Im Juni 2022 gab es sogar eine Nacht (vom 25. auf den 26. Juni 2022 – und in den 16 Stunden gab es 1.641 Einsätze, 1.108 davon im Rettungsdienst, 296 mit Notärzten), in der die Berliner Berufsfeuerwehr (die auch den größten Teil des Rettungsdienstes abdeckt) mehr als 16 Stunden im Ausnahmezustand war. Die Entwicklung hatte sich seit längerem aufgebaut und das waren schon im vergangenen Jahr keine Ausnahmefälle, sondern eher die Normalität. 2020 gab es den Ausnahmezustand 64-mal, 2021 dann 178-mal – und allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 2022 wurde bereits 134-mal der Krisenfall ausgerufen. Für das gesamte Jahr 250 gab es 350-mal den Ausnahmezustand.

Man muss sich klar machen, was Ausnahmezustand bedeutet: »Wir verschieben in solchen Fällen Personal aus den Bereichen Brandbekämpfung und Technische Hilfeleistungen, um weitere Rettungswagen (RTW) besetzen zu können. Oder es wird gegebenenfalls Personal auf eine andere Wache geschickt, um dort Lücken zu schließen.« So der Landesbranddirektor Karsten Homrighausen in diesem Interview, das am 8. September 2022 veröffentlicht wurde: Dauerhaft im Ausnahmezustand. Das geht natürlich zu Lasten des Brandschutzes. Aber einen Tod muss man mangelbedingt eben sterben. Mangelbewirtschaftung wie sie im Lehrbuch steht.

Wieder zurück zu dem Beitrag von Andreas Kopietz. Der berichtet, wie man die Mangelbewirtschaftung gleichsam perfektioniert. Zielgröße war bzw. ist offensichtlich, die Zahl der Ausnahmezustände zu verringern – und wenn man das schon nicht durch eine Lösung des offensichtlichen Personalproblems hinbekommen kann, dann greift man zu retuschierenden Maßnahmen. Die sehen dann so aus:

➔ »Höherqualifizierte Notfallsanitäter sollen nicht mehr zum gewöhnlichen Beinbruch ausrücken, sondern nur dann, wenn Menschenleben in Gefahr sind oder schwere gesundheitliche Schäden drohen. Auf diese Weise will die Behördenleitung die zahllosen Krisenmomente verringern, in denen der „Ausnahmezustand Rettungsdienst“ ausgerufen werden muss.« Eine solche Regelung gilt seit dem 16. Mai 2023 für die Besetzung der Rettungswagen (RTW). Genauer liest sich das dann so: »Demnach sollen die sogenannten RTW-B, die zu Einsätzen mit geringerer Priorität ausrücken, nur noch mit Rettungssanitätern als „Medizinisch verantwortlicher Einsatzkraft“ besetzt werden. Die höher qualifizierten Notfallsanitäter hingegen fahren nur noch auf den RTW-C zu den dringenden und lebensbedrohlichen Fällen. Freie Notfallsanitäter sollen unbesetzte RTW der „Organisationseinheit Rettungsdienst“ besetzen. Diese befindet sich in der Feuerwache an der Voltairestraße in Mitte. Deren Personal besetzt Einsatzfahrzeuge des Rettungsdienstes auf mehreren Feuerwachen und Rettungswachen im gesamten Stadtgebiet.«

„Natürlich“ gibt es dafür bei uns auf alle Fälle eine rechtliche Grundlage – die sogenannte „Rettungsdienst-Abweichverordnung“ (ganz korrekt heißt das Ding „Fahrzeug- und Besetzungsabweichungsverordnung Rettungsdienst – RDAbweichV“). Die ist eine Konsequenz aus dem Jahr 2022, als fast jeden Tag Ausnahmezustand Rettungsdienst ausgerufen werden musste – und zwar mehrmals am Tag. Zeitweise stand überhaupt kein Rettungswagen zur Verfügung.

Das hat seinen Preis: »Denn wenn die Feuerwehrleute, die sämtlich eine Sanitäterausbildung haben, nun verstärkt die RTW-B besetzen, heißt das: Es wird noch mehr Personal von den Löschfahrzeugen abgezogen. Schon jetzt sind diese Fahrzeuge nur zur Hälfte besetzt.«

Gleichzeitig werden an anderer Stelle neue Lücken in das sowieso löchrige Netz gerissen: Auch DRK, Johanniter oder Malteser, die die Berliner Berufsfeuerwehr täglich unterstützen, haben große Probleme, ihre Rettungswagen mit Nofallsanitätern zu besetzen. Sie streiten sich derzeit mit den Krankenkassen, weil diese weniger für einen Einsatz zahlen, wenn „nur“ Sanitäter zum Beinbruch fahren. Verschlimmert wird der Zustand dadurch, dass die Kassenärztliche Vereinigung seit Februar keine privaten Krankentransporte mehr vermittelt, weil sie das von den Kassen nicht bezahlt bekommt. Rund 17.000 Transporte waren das pro Jahr. Patienten, die zeitnah einen Krankentransport benötigen und diesen nicht selbst organisieren können, wenden sich nun an die Feuerwehr, so Kopietz.

Dass bei der der Feuerwehr Berlin der Ausnahmezustand inzwischen Normalzustand ist, kommentiert Andreas Kopietz unter der Überschrift Kaputter Berliner Rettungsdienst: Die Folgen eines heruntergewirtschafteten Gesundheitssystems mit Blick auf die beschriebenen Mangel(um)verteilungsklimmzüge so: »Feuerwehrleute, die eigentlich auf Löschfahrzeugen eingetaktet sind, müssen … aushelfen. Einen Großbrand oder zwei Feuer zur gleichen Zeit sollte es dann besser nicht geben.« Zu den Ursachen des eklatanten Mangels: »Unter anderem mangelt es an Personal. Schichtbetrieb, laue Bezahlung, aber auch ein Mangel an bezahlbaren Wohnungen wirken nicht gerade motivierend, diesen Beruf zu ergreifen oder als gelernter Notfallsanitäter aus einem anderen Bundesland nach Berlin zu ziehen. Laut Landesrechnungshof bräuchte die Berliner Feuerwehr 1.000 Mitarbeiter mehr, um die Arbeit sicherzustellen.« Aber es ist nicht fehlendes Personal an sich: »Angesichts von 1.000 bis 1.400 Rettungsdiensteinsätzen pro Tag in Berlin erscheint Aufgabenkritik dringend nötig: Der Rettungsdienst sollte sich wieder um Fälle kümmern, die lebensbedrohlich sind oder bei denen schwere Gesundheitsschäden drohen. So war es schon einmal. Bis durch eine Änderung des Rettungsdienstgesetzes die Aufgaben erweitert wurden.« Und die auch in vielen anderen Kommunen kritisierten Nachfrageverschiebungen werden von ihm aufgerufen: »Rettungswagen, deren Einsatz die Feuerwehr beziehungsweise das Land Berlin bei den Krankenkassen mit 299 Euro und 11 Cent abrechnet, werden mit Vorliebe angefordert, obwohl es etwa 100 private Krankentransportunternehmen in Berlin gibt. Dann muss ein RTW schon mal einen Senior vom Krankenhaus Neukölln nach Nikolassee bringen. Oder eine Pflegekraft eines Seniorenheims, die es bei zwei Unternehmen telefonisch probiert hat, wählt dann lieber doch die 112.«

Aber Kopietz sieht nicht nur die eine, von vielen immer wieder gerne kritisierte Seite einer übermäßigen Inanspruchnahme des Rettungsdienstes, denn: »Wenn sich der Rettungsdienst auf die dringenden und lebensbedrohlichen Fälle konzentrieren soll, wie von verschiedener Seite gefordert, müssen die Aufgaben, die ihm abgenommen werden, von anderen übernommen werden: von Hilfsorganisationen, privaten Krankentransporteuren, Arztpraxen.« Es ist ihm zuzustimmen, wenn er schreibt, dass es um den „Wiederaufbau eines heruntergewirtschafteten Gesundheitssystems“ geht. Um nichts weniger.

Und nein, dass ist kein Einzelproblem einer unregierbaren und schon immer chaotisch daherkommenden Stadt Berlin. Selbst in Bayern heit es mit Blick auf Rettungsdienst und Notärzte: Land unter. Dazu als ein Beispiel die Berichterstattung aus dem März dieses Jahres: Wenn der Notarzt zu spät kommt. Dort wird über einen Praxisfall des Mangels aus der bayerischen Provinz berichtet:

»Ein Einsatz am Abend: Eine Frau ist bei ihrem Hausarzt zusammengebrochen, Herzrasen, der Puls über 180. Mit Blaulicht und so schnell wie möglich fährt Notfallsanitäter Markus Wagner los. Die Frau muss dringend ins nächste Krankenhaus. Ein Notfall – und doch Routine für ihn. Eine Sorge schwingt jedoch immer mit, auch jetzt, während eines Einsatzes: Hoffentlich kommt kein zweiter Notruf. Denn Wagner fährt in der niederbayerischen Gemeinde Schöfweg das einzige Fahrzeug im Umkreis: Ein Fahrzeug für drei Landkreise mit 80.000 Menschen. Wenn ein zweiter Anruf kommt, muss ein Team aus der Rettungsstelle des Nachbarbezirks einspringen. Dann gibt es keine Chance, die 12-Minuten-Frist einzuhalten.« In Bayern sollen Rettungswagen innerhalb dieser Zeit am Einsatzort sein. Und das schaffen sie immer weniger.