»Nach zweijähriger Pause darf Berlin wieder böllern – die Feuerwehr plant den Ausnahmezustand«, so dieser Artikel kurz vor dem Jahreswechsel: Feuer frei. Nach dem zweijährigen pandemiebedingten »Böllerverbot« darf in Berlin dieses Jahr wieder fast überall gezündelt werden. Die Berliner Feuerwehr weist auf die fatalen Folgen in Form zahlreicher medizinischer Notfälle hin: abgetrennte Gliedmaßen, insbesondere Finger, Verbrennungen, oftmals im Gesicht, Augenverletzungen. In über 30 Prozent der Fälle seien Menschen betroffen, die den Feuerwerkskörper nicht selbst gezündet hatten. Und das gilt nicht nur für Berlin: An den Silvester- und Neujahrstagen in der Vergangenheit gab es immer ein Mehfaches an medizinischen Notfällen im Vergleich zu den anderen „normalen“ Tagen eines Jahres. Und das hat nicht nur, aber eben auch mit der Böllerei zu tun, wie eine Auswertung von Abrechnungsdaten seitens der Barmer Krankenkassen zeigt, die auch einen besonderen, hier positiven „Corona-Effekt“ in den beiden ersten Jahren der Pandemie zu Tage gefördert hat (vgl. dazu auch Deutlich weniger Notfallbehandlungen in Krankenhäuser zu Silvester 2020 und 2021).
Kurz noch zurück in die Hauptstadt: Neben Appellen zum verantwortungsvollen Umgang mit Feuerwerk bereitet sich die Feuerwehr in Berlin auf Silvester 2022 vor, indem sie das Personal für die „ereignisreichste Nacht des Jahres“ fast verdreifacht. 1.500 Einsatzkräfte warten dann auf ihren Einsatz – darunter nicht nur die Berliner Berufsfeuerwehr, sondern zahlreiche Mitarbeiter der Rettungsdienste von Hilfsorganisationen, Kräfte des technischen Hilfswerks, Teile der Bundeswehr sowie die Freiwilligen Feuerwehren.
Trotz der personellen Verstärkung rechnet man mit einem Ausnahmezustand und verweist auf die ohnehin anhaltende Überlastung der Rettungsdienste.
Eine „anhaltende Überlastung der Rettungsdienste“ – ein weiteres Kapitel aus dem voluminösen Bericht über das Mangelland Deutschland
Man kann mittlerweile Bibliotheken füllen mit den Berichten aus den verschiedensten Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft, in denen darüber geklagt wird, dass es vorne und hinten mangelt, vor allem aber mangelt es an Personal, nicht nur Fachkräfte, sondern zunehmend ein Mangel an irgendwelchen Arbeitskräften. Gerade aus dem Gesundheitsbereich – man denke hier an die Krankenhäuser oder an die Pflegeheime und ambulanten Pflegedienste – erreichen uns täglich teilweise skandalöse Berichte über Personalmangellagen.
Und nun auch der Rettungsdienst – ein im wahrsten Sinne des Wortes existenzieller Bereich der Daseinsvorsorge, der aber das strukturelle Problem in sich trägt, dass man ihn nicht so organisieren kann und darf und sollte wie eine Schrauben- oder Autofabrik, wo man dann Schritt für Schritt die Produktivität der Beschäftigten steigern kann und damit deren Wertschöpfung, aus welchen Produkten oder Dienstleistungen die auch immer besteht. Zugespitzt formuliert muss man ein (wie auch immer definiertes) ausreichendes Angebot vorhalten, auch und am besten, wenn gar keine Nachfrage gegeben ist. Die an sich und gerade hier ja äußerst positiven Leerkosten, die mit der Vorhaltung verbunden sind, stoßen auf Kostenträger, wie das in Deutschland immer so bezeichnet wird, die ein großes Interesse daran haben, diese Kosten so niedrig wie möglich zu halten. Das aber stößt auf strukturelle Begrenzungen, die wir auch in anderen stationären Angeboten wie Kliniken oder Pflegeheime haben, die daraus resultieren, dass man hier 24 Stunden an 7 Tagen in jeder Woche eine ausreichende Kapazität sicherstellen muss oder müsste. Insofern droht nicht nur eine für diese sensiblen Bereiche fatale strukturelle Unterausstattung mit Personal, um darüber Kosten „sparen“ zu können.
Und dieses grundsätzliche Problem wird dann noch potenziert, wenn sich auf der Nachfrageseite Wachstumseffekte zeigen, die zu einer stärkeren Inanspruchnahme beispielsweise von Rettungsdiensten führen. Nun kann man richtigerweise argumentieren, dass darauf dann eben mit einer Ausweitung und personellen Verstärkung der Angebote reagiert werden muss. Aber es wird nicht einfacher, wenn zumindest ein Teil der Nachfrage nicht wirklich berechtigt ist, sondern gleichsam ein „Missbrauch“ der mit hohen Kosten verbundenen Rettungsdienste darstellt.
Ein Rettungsruf aus den Reihen der Rettungsdienste
»Das neu gegründete „Bündnis pro Rettungsdienst“ hat wegen gravierender Probleme bei den Rettungsdiensten Alarm geschlagen. Vertreter des Bündnisses warnen, dass die Notfallrettung in Deutschland gefährdet sei und befürchten einen Kollaps des Systems. Bei seiner Vorstellung verwies das Bündnis aus insgesamt sechs Verbänden und Gewerkschaften am 12. Dezember in Berlin auf den hohen Personalmangel bei gleichzeitig steigenden Einsatzzahlen, die zu einer hohen Belastung und zu Engpässen bei den Notfalldiensten führten. Es gebe einen „dramatischen Personalmangel“, sagte Oliver Hölters, Sprecher der Mitarbeiterseite des Deutschen Caritasverbandes bei der Vorstellung«, kann man diesem Bericht entnehmen: Neues Bündnis warnt: „Der Rettungsdienst kollabiert“. Das Bündnis selbst hat diese Mitteilung veröffentlicht:
»Die Überlastung des Rettungsdienstes und Fehlsteuerungen im System haben den Rettungsdienst bundesweit in die Krise geführt … Die Aufgaben für den Rettungsdienst nehmen zu; er ist grundsätzlich leistungsfähig, kommt aber immer mehr an seine Grenzen.«
Schauen wir auf die Ursachenanalyse, die uns von dem Bündnis (das sich am 27. Oktober in Frankfurt am Main konstituiert hat) präsentiert wird – und da stoßen wir dann u.a. auch auf die bereits angesprochene Nachfrageseite:
»Eine gesunkene Schwelle für die Inanspruchnahme, unzureichende Kenntnis, welche Notrufnummer die jeweils richtige ist und lange Wartezeiten sowie eingeschränkte Verfügbarkeit im ambulanten Sektor führen zu einer Überlastung des Rettungsdienstes. Rettungsleitstellen haben oft nur die Möglichkeit, Rettungswagen oder Notarzt zu schicken, nicht aber eine Gesundheitsberatung zu machen oder anzustoßen.«
»Mehrere Probleme gleichzeitig machen dem Rettungsdienst zu schaffen: Laut Verbänden gibt es 20 Prozent mehr Einsätze als im Vorjahr, dazu kommen Personalmangel und Überbelastung der Rettungskräfte. Notfallsanitäter quittieren den Dienst, weil sie immer mehr Einsatzstunden schieben müssen. Außerdem gelangen auch Kliniken und Krankenhäuser an ihre Grenzen: auch hier fehlt Pflegepersonal, wodurch weniger Patienten aufgenommen werden können und an der Notaufnahme abgewiesen werden«, so Lisa Hänel in ihrem Artikel 112 – Rettungsdienste schlagen Alarm. Dort finden wir dieses Beispiel:
»Dreizehn Einsätze in 24 Stunden – Kathrin Möller hat eine intensive Schicht als Notfallsanitäterin hinter sich: „Die Belastung ist ziemlich hoch.“ Möller ist seit 23 Jahren im Nordwesten Deutschlands im Rettungsdienst unterwegs. Die Belastung ist nicht nur bei ihr im Landkreis hoch – allgemein im Land ist die Lage des Rettungsdienstes so angespannt, dass Verbände vor dem Kollaps warnen … Notfallsanitäterin Kathrin Möller sieht diese Abwärtsspirale regelmäßig bei ihren Einsätzen. Von den dreizehn Einsätzen ihrer vergangenen 24-Stundenschicht waren nur zwei wirkliche Notfälle. Der Rest waren Bagatelleinsätze. „Kürzlich hatten wir einen jungen Mann Anfang 30, der hat uns gerufen, weil er eine Wimper im Auge hatte.“ Solche Einsätze, so Möller, raubten Zeit, kosten Energie und seien schlussendlich „unendlich frustrierend.“«
Diese Bagatell-Fahrten sind zahlreich – und sie binden das dringend benötigte Personal. Mehr als 30.000 Mal am Tag rückt der Rettungsdienst in Deutschland für Einsätze aus.
Eine Studie im Auftrag der Bertelsmanns-Stiftung und der Björn Steiger Stiftung, die 2022 veröffentlicht wurde, hat ergeben, dass ein Drittel dieser Einsätze keine Notfälle sind. Vielfach seien Rettungsdienste inzwischen vielfach eine Art „soziale Dienste“ oder werden als solche in Anspruch genommen.
➔ Thomas Krafft et al. (2022): Notfallversorgung & Rettungsdienst in Deutschland. Partikularismus vs. Systemdenken, Gütersloh/Winnenden: Bertelsmann Stiftung und Björn Steiger Stiftung, 2022
sowie:
➔ Christian Hermanns und Jan Böcken (2022): Notfallversorgung und Rettungsdienst. Status-quo-Beschreibung, Defizitanalyse und Reformvorschläge, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, November 2022
Ideen, das verkrustete System zu reformieren, gibt es viele, berichtet Lisa Hänel: »eine davon ist die zentrale gemeinsame Leitstelle der Nummern 112 und 116/117, die vorher die Fälle aussiebt, die keine Notfälle sind und an andere Praxen weiterleitet. So ein System gibt es zum Beispiel in Niederösterreich … In manchen Gemeinden in Norddeutschland wird auch das Konzept des Gemeindenotfallsanitäters erprobt. Der soll den Rettungsdiensten die Fahrten abnehmen, die keine Notfälle sind – beispielsweise ältere Menschen, die verunsichert und einsam sind und deshalb die 112 wählen. Diese Pilotprojekte wurden bereits wissenschaftlich begleitet und es hat sich gezeigt: ein solcher Gemeindenotfallsanitäter entlastet tatsächlich das System.
Flächendeckende Reformen und neue Konzepte wie dieses wurden jedoch dennoch noch nicht umgesetzt. Denn es gibt einen Knackpunkt, der jede Reform schwierig macht: Rettungsdienst ist in Deutschland Ländersache. Jedes Bundesland entscheidet also selbst, wie es seinen Rettungsdienst strukturiert. Für das „Bündnis pro Rettungsdienst“ ein Bremser in der Krise.
Das Bündnis formuliert das eindeutig: »Der Rettungsdienst kann nicht ohne eine gemeinsame Reform der Notfallversorgung verbessert werden; punktuelle Nachbesserungen bringen keine Verbesserung. Ambulante, stationäre und rettungsdienstliche Versorgung der Patientinnen und Patienten sind gleichberechtigte Säulen der Notfallversorgung, die nur ganzheitlich reformiert werden können.«
Das Bündnis fordert sogar eine Grundgesetzänderung: »Denn im Moment ist der Rettungsdienst laut Gesetz lediglich eine Transportleistung und nicht Teil der Notfallversorgung. So hat der Bund keinen Zugriff und kann beispielsweise auch keine Gemeindenotfallsanitäter einsetzen. Um das zu ändern, müsste das Grundgesetz geändert werden – wozu die Bundesländer zustimmen müssten. Und dagegen wehren sie sich.«
So »bleibt der Rettungsdienst ein Flickenteppich in Deutschland. Das geht so weit, dass die Hilfsfrist, also die gesetzliche Vorgabe, wann ein Rettungsdienst beim Patienten sein soll, variiert. In Nordrhein-Westfalen sind es zwölf Minuten, in Hessen sind es zehn Minuten. Abgesehen davon, dass diese zwei Minuten Varianz medizinisch nicht erklärbar sind, werden diese Fristen immer seltener eingehalten. In Sachsen-Anhalt schaffte es der Rettungsdienst im vergangenen Jahr nur in 83 Prozent der Fälle in der vorgegebenen Frist zum Patienten. Der Rest musste warten – auch wenn das potenziell lebensbedrohlich werden kann«, schreibt Lisa Hänel.
Aber die strukturellen Probleme gehen über den leider auch an vielen anderen Stellen zu beobachtenden Föderalismus-Mehltau hinaus. Nur 10 bis 15 Prozent aller Notarzteinsätze seien wirklich nötig (vgl. dazu Nur wenige Notarzteinsätze gerechtfertigt) – und auch deshalb kommt es hier zu einer übermäßigen Inanspruchnahme, weil man die Fachkräfte im Rettungsdienst seit vielen Jahrzehnten klein hält, ihnen Kompetenzen verweigert oder nur ganz langsam nach jahrelangen mühsamen Diskussionen scheibchenweise zugesteht. Seit 2013 gibt es Notfallsanitäterinnen und -sanitäter. Deren Ausbildung umfasst laut dem neuen Bündnis pro Rettungsdienst deutlich mehr Inhalt, als dann in vielen Bundesländern tatsächlich abgerufen werden darf – weil die genauen Aufgaben der Rettungsdienste Ländersache sind. Wir müssen hier eine ähnliche Deprofessionalisierung zur Kenntnis nehmen, wie man sie auch in der Pflege sehen kann, was uns jetzt in einer sich zuspitzenden Mangellage allerorten auf die Füße fällt.
Man kann nur hoffen, dass der Rettungsdienst als elementarer Teil eines anspruchsvollen Ganzen gesehen und bei den nun anstehenden Reformen beispielsweise im Krankenhausbereich von Anfang an und konsequent mitgedacht wird. Das ist kein Rummelplatz, auf dem man mal die Sache gegen eine gepolsterte Wand fahren lassen kann. Aber genau das passiert derzeit.