Neues aus der Welt einer entgrenzten Sterbehilfe: Demenzkranke Menschen als am stärksten wachsende Teilgruppe und jetzt auch Kinder

»Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.«

Mit diesen Worten hat das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 eine dieser wegweisenden Entscheidungen gefällt, die wie ein Fallbeil wirken. Es handelt sich um den Anfang der Mitteilung des hohen Gerichts, die unter der unmissverständlichen Überschrift Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verfassungswidrig gestellt wurde. Die wegweisende Entscheidung des Gerichts im Original und damit in aller Ausführlichkeit: BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15

Seit diesem Urteil des BVerfG ringt die Politik um eine notwendig gewordene Neuregelung der Suizidassistenz und man tut sich damit sehr schwer, was nicht nur, aber auch daran zu erkennen ist, dass es bis heute keine entsprechend vom Verfassungsgericht geforderte Neuregelung gibt. Aber sehr wohl intensive und höchst kontroverse Debatten (vgl. dazu als nur ein Beispiel dem Bericht über eine Anhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages am 28. November 2022: Intensive Befassung mit einer möglichen Neuregelung des assistierten Suizides.

Andere Länder sind da bereits viel weiter – auf dem Weg oder inmitten der aktiven Sterbehilfe. In den vergangenen Jahren wurden hier zahlreiche Beiträge zum Thema Sterbehilfe veröffentlicht und immer wieder wurde dabei auch ein Blick auf Länder wie Belgien oder die Niederlande geworfen, bei denen weitaus „liberale“ Regelungen gegeben sind. Die dann nicht nur immer mehr auch in Anspruch genommen werden, sonder man weitet der möglichen Kreis der zu tötenden Menschen kontinuierlich aus.

Neue Zahlen aus unserem Nachbarland verdeutlichen diese Entwicklung: In den Niederlanden fast 14 Prozent mehr Menschen auf Verlangen getötet, so ist ein Artikel von Florian Staeck zu dem Thema überschrieben. Um welche Größenordnung es hier geht? »8.720 Menschen wurden in den Niederlanden im Vorjahr auf eigenen Wunsch von Ärzten getötet, heißt es im Bericht der staatlichen Kontrollkommission für 2022. Die am stärksten wachsende Teilgruppe: Demenzkranke.«

Die Entwicklung der Inanspruchnahme der „Tötung auf Verlangen“ ist in der folgenden Abbildung dargestellt:

Die Zahlen basieren auf Angaben der staatlichen Kontrollkommission (Regionale Toetsingscommissies Euthanasie) in den Niederlanden.

Im vergangenen Jahr entfielen 5,1 Prozent aller 169.938 Sterbefälle in den Niederlanden auf Tötung auf Verlangen (2021: 4,6 Prozent). In vier von fünf Fällen nahmen Hausärzte die Tötung der Patienten vor.

»Rechtsgrundlage ist das 2002 in Kraft getretene „Gesetz zur Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und Hilfe bei der Selbsttötung“. Es schreibt den Ärzten unter anderem vor, sie müssten sich überzeugen, dass der Sterbewunsch „freiwillig und nach reiflicher Überlegung geäußert wurde“.«

In fast 98 Prozent der Fälle handelte es sich um eine Tötung, die allein vom Arzt vorgenommen wurde. Also aktive Sterbehilfe.

Der Vorsitzende der Kontrollkommission, Jeroen Recourt, wird mit der Aussage zitiert, der Trend zu immer Fällen von Tötung auf Verlangen halte seit mehreren Jahren an. Man habe aber keine wissenschaftlichen Studien vorliegen, die der Frage nachgehen, was denn diesen Trend befördert.

Wie sieht es mit der Altersverteilung aus? »Die größte Altersgruppe unter den Getöteten sind die 70- bis 80-Jährigen gewesen (2.873, 32,9 Prozent). 2.314 Personen waren 80 bis 90 Jahre alt (26,5 Prozent). Der älteste Patient, der seine Tötung wünschte, war dem Bericht zufolge 104 Jahre alt.«

Allerdings ist auch eine Zunahme der „Tötung auf Verlangen“-Fälle bei jüngeren Menschen zu beobachten: So »hat sich im Vorjahr auch die Zahl der bis zu 60-Jährigen, die ihren Arzt um Tötung baten, auf 964 addiert. Darunter sind 86 Personen im Alter von 18 bis 40 Jahre gewesen. Bemerkenswert: In 24 dieser Fälle wurde ein psychisches Leiden als Grund für den Tötungswunsch angegeben.«

Was sagen die Daten zu den Ursachen der Tötungswünsche? Zum einen immer mehr demenziell erkrankte Menschen

»Das mit Abstand häufigste Leiden, das als Grund für den Todeswunsch angegeben wird, ist eine Krebserkrankung (5.046, 57,8 Prozent). Über alle Altersgruppen hinweg fällt der Anstieg der gemeldeten Tötungsfälle bei zwei Gruppen besonders stark aus: So wurden 288 demenzerkrankte Menschen getötet – das ist ein Anstieg von 34 Prozent im Vergleich zu 2021. Bei sechs dieser Personen habe keine vorherige schriftliche Willenserklärung vorgelegen. Der Zuwachs in dieser Teilgruppe hat damit im Vergleich zu 2020/21 weiter an Tempo gewonnen – damals betrug der Anstieg bei Demenzerkrankten 26,5 Prozent.«

➔ Nicht nur diejenigen, die der Sterbehilfe, vor allem in Form der aktiven Sterbehilfe, kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, werden an dieser Stelle die berechtigte Frage stellen, wie man denn bei demenzkranken Menschen zweifelsfrei feststellen kann, dass der Sterbewunsch „freiwillig und nach reiflicher Überlegung geäußert wurde“. Das war (und ist) auch in den Niederlanden ein Thema. Vgl. dazu bereits ausführlicher den Beitrag Wenn das „frühere Selbst“ das „gegenwärtige Selbst“ beendet: Die höchstrichterliche Bestätigung der aktiven Sterbehilfe von demenzkranken Menschen in den Niederlanden auch in Zweifelsfällen, der hier am 25. April 2020 veröffentlicht wurde.

… und zum anderen immer mehr Menschen „mit Altersbeschwerden“

Ebenfalls überdurchschnittlich gestiegen ist die Zahl der Getöteten, bei denen als Grund eine „Häufung von Altersbeschwerden“ angegeben wird (plus 23,5 Prozent).

Aus Sicht der in den Niederlanden einflussreichen Sterbehilfeorganisation NVVE (Nederlandse Vereniging voor een Vrijwillig Levenseinde) gibt es insbesondere in dieser Gruppe „Nachholbedarf“. »Es herrsche sowohl in der niederländischen Öffentlichkeit, als auch bei Ärzten Unklarheit darüber, wann eine Vielzahl altersbedingter Beschwerden Betroffene berechtigt, eine Tötung auf Verlangen zu beantragen« – was aber als Problem gesehen wird, man müsse die Ärzte „aufklären“, dass „Altersmüdigkeit“ oder „Lebenssattheit“ (angeblich) berechtigte Gründe für einen Sterbehilfewunsch sind. Vor diesem Hintergrund überrascht dann der nächste „Problemhinweis“ nicht: »Dass die Zahl der Getöteten mit psychischen Erkrankungen im Vorjahr mit 115 Fällen im Vergleich zu 2021 konstant geblieben, wertet die Sterbehilfeorganisation als Defizit. Viele Sterbewillige mit diesen Erkrankungen fänden keinen Hausarzt oder Psychiater, die bereit wären, eine Tötung vorzunehmen. Für diese Gruppe gebe es im „Kompetenzzentrum Euthanasie“ (Expertisecentrum Euthanasie) in Den Haag eine lange Warteliste«, so die Klage der Sterbehilfeorganisation NVVE.

➔ Das „Kompetenzzentrum Euthanasie“ (Expertisecentrum Euthanasie) in Den Haag ist ein Lehrbuchbeispiel, wie sich neue Angebote ausdifferenzieren: »Die Gründung dieser Einrichtung wurde 2012 von dem Sterbehilfeverein angestoßen, ist aber mittlerweile eigenständig. Die Organisation arbeitet dazu landesweit mit ambulanten Teams zusammen, bestehend aus einem Arzt und einer Krankenschwester, die Sterbewillige aufsuchen, die sonst keinen Arzt finden, der zur Tötung dieser Patienten bereit ist.«

Laut den Kontrollkommissionen haben Ärzte im Vorjahr in dreizehn Fällen nicht die gesetzlichen Sorgfaltskriterien im Vorfeld einer Tötung auf Verlangen beachtet, das seien sieben Verfahren mehr als 2021. Aus Sicht der niederländischen Kontrollkommissionen zeige dieser Wert, dass die Euthanasie-Praxis „sehr vorsichtig“ gehandhabt werde.

Sterbehilfe „erst“ ab 12 Jahren? Da geht noch was …

Bereits jetzt können Kinder, die älter als zwölf Jahre sind, in den Niederlanden Sterbehilfe mit Zustimmung der Eltern beantragen (und Sterbehilfe ist in den Niederlanden auch für Babys unter einem Jahr legal – mit Zustimmung der Eltern). Aber diese Altersgrenze soll fallen: Ärzte in den Niederlanden sollen zukünftig das Leiden von unheilbar kranken Kleinkindern beenden können, so diese Meldung vom 14.04.2023: Niederlande wollen Sterbehilfe für Kinder ermöglichen: Die Regierung in den Niederlanden macht den Weg frei für die von dortigen Kinderärzten seit Jahren geforderte Sterbehilfe für unheilbar kranke jüngere Kinder. Wie die Regierung in Den Haag am Freitag mitteilte, betrifft die Neuregelung eine »kleine Gruppe« von pro Jahr fünf bis zehn Kindern unter zwölf Jahren, »bei denen die Möglichkeiten der Palliativmedizin nicht ausreichen, um ihr Leiden zu lindern«. Die Regelung werde Kinder betreffen, »die an einer so schweren Krankheit oder Störung leiden, dass der Tod unvermeidlich und in absehbarer Zeit zu erwarten ist«, erklärte der niederländische Gesundheitsminister Ernst Kuipers. Sterbehilfe werde dann ermöglicht, »wenn es die einzige vernünftige Alternative für einen Arzt ist, das verzweifelte und unerträgliche Leiden des Kindes zu beenden«, so der Minister.

»Für die Neuregelung muss die Regierung die bestehenden Vorschriften ändern, ohne dass eine parlamentarische Genehmigung erforderlich ist. Die Verordnung soll nach Angaben der Regierung noch in diesem Jahr veröffentlicht werden. Einige Jahre nach ihrem Inkrafttreten soll dann eine Evaluierung erfolgen.«

Damit würden die Niederlande mit Belgien gleichziehen (auch dort wurde die Sterbehilfe im Jahr 2002 legalisiert, es waren die beiden ersten Länder weltweit). Belgien verabschiedete 2014 als weltweit erstes Land ein Gesetz, das Sterbehilfe bei Kleinkindern erlaubt – allerdings nur mit Zustimmung des Kindes. Was sich einfacher liest als es in der Praxis sein kann.

Die neuen Entwicklungen in den Niederlanden werden auch in Deutschland beobachtet und kritisch kommentiert: »Die Deutsche Stiftung Patientenschutz übt Kritik am Beschluss der niederländischen Regierung, Sterbehilfe auch für Kinder zwischen einem und zwölf Jahren möglich zu machen«, so diese Meldung: Sterbehilfe für jüngere Kinder: Stiftung Patientenschutz kritisiert Beschluss der niederländischen Regierung. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz warnt vor einer schleichenden Gewöhnung an aktive Sterbehilfe. Der Vorstand der Stiftung, Eugen Brysch, wird mit den Worten zitiert: „Die Niederlande zeigen mit diesem Schritt, dass sich eine Gesellschaft mit der organisierten Tötung von Menschen arrangieren kann. Denn die Ausdehnung von Tötung auf Verlangen für alle Altersgruppen wird größtenteils akzeptiert.“ Deshalb müsse die deutsche Politik in der aktuellen Debatte um Suizidassistenz die zwanzigjährige Entwicklung des Nachbarlandes in den Blick nehmen. „Denn der gesellschaftliche Gewöhnungseffekt stärkt nicht die Hilfe und den Beistand für kranke und lebensmüde Menschen. Vielmehr führt der Einstieg zum organisierten Angebot auf Tötung immer zu einer Ausweitung.“