Da war und ist doch noch was? Long Covid bzw. das Post-Covid-Syndrom. Einerseits nicht so viele Fälle, andererseits lange Ausfallzeiten

Die Corona-Pandemie ist nicht nur offiziell als beendet erklärt worden, auch für die allermeisten Menschen ist wieder Alltag nach dem lange anhaltenden Ausnahmezustand eingekehrt und man versucht, mehr oder weniger schnell an die Prä-Corona-Zeiten anzuknüpfen. Und einige nutzen die Gunst der Stunde und stellen jetzt alles das, was in der Vergangenheit an Maßnahmen der Pandemiebekämpfung durchgeführt oder versucht wurde, als unsinnig, überzogen und übergriffig dar.

Aber da ist ja noch dieses Long Covid, über das immer wieder berichtet wird. Auch die hiervon (angeblich?) betroffenen Menschen sind einer grundsätzlichen und teilweise mehr als übergriffigen Infragestellung der Existenz dessen, was als Long Covid beschrieben wird, ausgesetzt. Im Grunde, so ein häufig versteckt vorhandenes oder offen vorgetragenes Vorurteil, ist das sowas wie Einbildung oder irgendeine „Psycho-Sache“, aber keine „richtige“ Erkrankung. Andere hingegen berichten davon, dass bislang gesunde Menschen durch Long Covid schwer aus der Bahn geworfen wurden und werden.

Für das Durcheinander gibt es natürlich nicht nur eine Ursache, aber man muss letztendlich berücksichtigen, dass wir es nicht mit einer Erkrankung zu tun haben, die seit Jahren bekannt, beobachtet und systematisiert ist, sondern wir haben es mit einem höchst beweglichen und dann auch noch mehrdimensioanlen Bild zu tun. Martin Roesler (2023) hat in seinem Übersichtsbeitrag Long Covid – vier klinische Subgruppen und aktuelle gesellschaftliche Folgen ausgeführt: »Das Erkrankungsbild ist initial durch eine Vielzahl von Beschwerden gekennzeichnet, die auch in der nicht erkrankten Allgemeinbevölkerung mit hoher Prävalenz vorkommen. In einer systematischen Übersichtsarbeit (Lopez-Leon et al. 2021) wurden über 50 Symptome als kennzeichnend beschrieben. Solche Beschreibungen erschufen ein kaum fassbares Erkrankungsbild und führen zu einer relevanten Überschätzung der Problematik.« Und weiter: »Ein Meilenstein in der Benennung war die WHO-Falldefinition unter dem Begriff „Post Covid Condition“ im Oktober 2021 (WHO 2021), die die Symptome Luftnot, Fatigue und kognitive Störungen in den Vordergrund stellt.«

Roesler bilanziert am Ende seines Beitrags: »Aktuelle wird in Deutschland ein Bild von Long Covid gezeichnet, in dem bei der Frage nach der Häufigkeit auch leichte Symptome wie anhaltender Husten gezählt werden, und gleichzeitig schwer beeinträchtigte Menschen mit Bettlägerigkeit und schwerer Erschöpfung als das klinische Erscheinungsbild wahrgenommen werden. Dieses Narrativ der schweren Erkrankung mit sehr hoher Häufigkeit ist durch die Daten nicht zu rechtfertigen. Richtig ist: Nachdem große Teile der Bevölkerung bereits infiziert waren, gibt es einerseits einige Millionen Betroffene mit häufig geringen selbstlimitierenden Beschwerden über vier Wochen und andererseits wenige Zehntausend Betroffene, die akut schwer und längerfristig erkrankt sind … Virale Infektionen können bei einem kleinen Teil der Betroffenen zu schweren postviralen Syndromen führen. Diese Erkrankungen können die Lebensqualität über viele Jahre stark einschränken. Bisher kann die Erkrankung nur durch Ausschluss diagnostiziert werden und es gibt keine Therapien mit gesicherter Wirksamkeit. Es besteht erheblicher Forschungsbedarf bei der Diagnose und Therapie dieser postviralen Syndrome.« (Roesler 2023: 13-14).

Dass die Langzeitfolgen einer COVID-19-Erkrankung noch wenig verstanden und effektive Therapien hierfür noch nicht etabliert sind, findet man als eine Kernaussage auch in dieser Übersichtsarbeit, die im Deutschen Ärzteblatt im März 2023 veröffentlicht wurde: Carmen Scheibenbogen et al. (2023): Post COVID und Post-Vakzin-Syndrom: Die Pandemie nach der Pandemie. Allerdings werden hier am Anfang die sehr hohen (undifferenzierten) angeblichen Fallzahlen in den Raum gestellt: »Die als Post-COVID-Syndrom (PCS) zusammengefassten, alltagsrelevanten chronischen Verläufe haben erhebliche soziale und gesundheitsökonomische Auswirkungen: Die Krankheitslast ist hoch, internationale Studien gehen von einer Prävalenz von 10–15 % nach SARS-CoV-2-Infektion aus. Nach internationaler Studienlage persistiert mindestens die Hälfte der adulten PCS-Fälle über mehr als 12 Monate, von denen wiederum 20 % mit schweren Einschränkungen im Alltag einhergehen.«

Bleiben wir im Land und bei den unvollkommenen Daten aus der Welt der Krankenkassen: Wenige Betroffene, aber lange Ausfallzeiten

Von sozialpolitischer Relevanz ist das Thema Long Covid neben der individuellen bedeutung für jeden einzelnen Betroffenen und dem Umfeld zum einen hinsichtlich der Folgen für das Gesundheitssystem, was nicht nur Diagnostik und Therapie(versuche) angeht. Mittlerweile sind auch zahlreiche Angebote im Rehabilitationsbereich entstanden. Roesler (2023) sieht das durchaus kritisch und schreibt dazu in seiner Zusammenfassung: »Rehabilitationsmaßnahmen werden häufig durchgeführt. Die Empfehlungen hierzu beruhen auf Leitlinien und nicht auf dem Nachweis eines Nutzens gegenüber dem Spontanverlauf. Insbesondere bei ausgeprägter Belastungsintoleranz sind sie zudem nur begrenzt indiziert. Bei vielen Betroffenen bessern sich die Beschwerden im Laufe des ersten Jahres.« Zum anderen aber zeigt sich eine besondere sozialpolitische Relevanz des Themas auch mit Blick auf die arbeitsmarktlichen Auswirkungen aufgrund der mit der Erkrankung einhergehenden Arbeitsunfähigkeiten. Und zu denen legt das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) regelmäßig Auswertungen vor, bei denen nun auch Long Covid eine Rolle spielt.

Mit Blick auf das vergangene Jahr muss man zur Kenntnis nehmen: Mit 6,7 Prozent hat der allgemeine Krankenstand im Jahr 2022 den höchsten Stand seit Beginn der gesamtdeutschen Analyse von Daten AOK-versicherter Beschäftigter im Jahr 1991verreicht. Und keine wirkliche Überraschung: »Treiber dieser Entwicklung waren vor allem Atemwegserkrankungen: Während im Jahr 2021 20,6 Prozent (n = 3.004.264) aller versicherten Beschäftigten aufgrund von Atemwegserkrankungen arbeitsunfähig waren, so hat sich diese Quote 2022 mit 41,6 Prozent (n = 6.293.757) verdoppelt.« Diese Information und darüber hinaus ein genauerer Blick auf das Geschehen rund um das Thema Post-Covid findet man in diesem Beitrag:

➔ WIdo (2023): Post-Covid-Erkrankungen: Wenige Betroffene, aber lange Ausfallzeiten, 16.03.2023
Version mit Abbildungen

Die Auswertung der Krankenkassendaten relativiert zum einen viele der an anderen Stellen vorgetragenen Zahlen hinsichtlich der Größenordnung der Betroffenheit von Long- bzw- Post-Covid:

»Eine aktuelle Auswertung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigt, dass seit Pandemiebeginn knapp 30 Prozent aller durchgehend erwerbstätigen AOK-Versicherten mindestens einmal im Zusammenhang mit einer Covid-19-Erkrankung in ihren Unternehmen ausgefallen sind. Bis einschließlich Dezember 2022 waren knapp 1 Prozent der Beschäftigten von einer Post-Covid-Erkrankung betroffen.«

Etwas genauer: »Etwa 2,3 Millionen der insgesamt 7,7 Millionen durchgehend erwerbstätigen AOK-Versicherten wurden zwischen März 2020 und Dezember 2022 im Zusammenhang mit einer Covid-19-Erkrankung mindestens einmal arbeitsunfähig geschrieben. 71.651 Beschäftigte waren von einer Post-Covid-19-Erkrankung betroffen. Nach mehreren Auf- und Abwärtsbewegungen erreichten sowohl akute als auch Post-Covid-Erkrankungen im Frühjahr 2022 ihren vorläufigen Höhepunkt.«

Zum methodischen Vorgehen des WIdO erfahren wir: Zur Analyse der Auswirkungen der verschiedenen Virus-Varianten wurden die AU-Daten von Beschäftigten mit einer AU-Meldung aufgrund einer akuten Covid-19-Erkrankung sieben Monate lang nachbeobachtet.

Man ist mit diesem Vorgehen auf erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Virus-Varianten Delta und später Omikron gestoßen:

»Dabei zeigte sich, dass zwischen September und Dezember 2021, als die sogenannte Delta-Variante dominierte, bei 2,5 Prozent (n = 5.477) der akut Erkrankten eine Post-Covid-Erkrankung folgte. Damit ist deren Anteil doppelt so hoch wie in der Zeit, in der die Omikron-Variante vorherrschte. Hier folgte bei nur 1,1 Prozent (n = 9.171) aller von Akut-Covid-Betroffenen eine Post-Covid-Erkrankung. Auch die durchschnittliche Länge der Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer Post-Covid-Erkrankung ist in der Zeit, in der die Delta-Variante vorherrschte, mit durchschnittlich 43,2 Tagen deutlich höher als in dem Zeitraum, in dem die Omikron-Variante vorherrschend war (30,9 Tage).«

Ein Fazit: Im bisherigen Verlauf der Pandemie sind nur vergleichsweise wenige Beschäftigte wegen Post-Covid krankgeschrieben worden. Diese relativ wenigen Betroffenen haben aber lange AU-Zeiten von durchschnittlich 30 Tagen. Festzuhalten bleibt, dass sowohl die Zahl der Betroffenen als auch die Schwere der Erkrankung, die aus den Ausfalltagen abgeleitet werden kann, im Verlauf der Pandemie nachgelassen haben.

Ältere Beschäftigte länger vom Arbeitsausfall betroffen

»Die Ergebnisse des WIdO zeigen zudem, dass die Arbeitsunfähigkeitsdauer von Beschäftigten, die von Covid-Erkrankungen betroffen sind, mit zunehmendem Alter deutlich ansteigt. Das gilt sowohl für Akut- als auch für Post-Covid-Erkrankungen. Während unter 30-jährige Beschäftigte im Mittel 7,2 Tage aufgrund einer akuten und 16,7 Tage aufgrund einer Post-Covid-Erkrankung arbeitsunfähig geschrieben wurden, fielen Berufstätige ab 60 durchschnittlich 11,8 Tage bzw. 45,1 Tage aus. Über alle Beschäftigten hinweg waren bei akuten Covid-Erkrankungen durchschnittlich neun Ausfalltage zu verzeichnen, bei Post-Covid-Erkrankungen durchschnittlich 30 Tage.«

Und wo hat das Virus überdurchschnittlich stark zugeschlagen?

»Wie bereits frühere Auswertungen des WIdO zeigt auch die aktuelle Analyse, dass es bei Berufen in der Kinderbetreuung und -erziehung im bisherigen Verlauf der Pandemie die meisten akuten Covid-Erkrankungen gab (32.240 Erkrankte je 100.000 Beschäftigte). Bei Post-Covid-Erkrankungen liegen sie mit 1.377 Erkrankten je 100.000 Beschäftigte auf dem zweiten Platz hinter den Beschäftigten in der Ergotherapie mit 1.578 Erkrankten je 100.000 Beschäftigte. Besonders viele Arbeitsausfälle wegen akuter Covid-Diagnosen gab es zudem in Berufen der Sozialverwaltung und -versicherung (31.152 Erkrankte je 100.000 Beschäftigte), der pharmazeutisch-technischen Assistenz (30.886 Erkrankte je 100.000 Beschäftigte) und unter Medizinischen Fachangestellten (30.454 Erkrankte je 100.000 Beschäftigte).«

Dann kommt aber eine interessante Einschränkung: „Es fällt auf, dass die Berufsgruppen, die am stärksten von akuten Covid-Erkrankungen betroffen waren, in der Folge nicht unbedingt die meisten Post-Covid-Ausfälle zu verzeichnen hatten“, wird Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WIdO, zitiert.

Man vermutet, dass diese Abweichungen durch Unterschiede zwischen den Berufsgruppen hinsichtlich Altersverteilung, Geschlechtsverteilung und Vorerkrankungen erklärt werden können.

Das WIdO weist allerdings auch auf methodische Einschränkungen hin, die man bei der Bewertung der präsentierten (niedrigen) Zahlen Long- bzw. Post-Covid betreffend berücksichtigen muss:

Hohe Dunkelziffer bei akuten Covid-Erkrankungen: »Nur bei knapp der Hälfte aller durchgängig versicherten Personen mit Post-Covid-Diagnose wurde vorab eine akute Covid-Diagnose dokumentiert (n = 38.723). Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass bei der anderen Hälfte keine akute Covid-Erkrankung vorlag. Vielmehr ist zu vermuten, dass falsch-negative Testergebnisse, symptomfreie bzw. nicht detektierte akute Covid-Erkrankungen, Akut-Covid-Erkrankungszeiten von bis zu drei Tagen Arbeitsunfähigkeit und unterschiedliche Dokumentationsgewohnheiten bei den Leistungserbringern zu den vorliegenden Zahlen geführt haben. Ebenfalls auffällig ist, dass die Arbeitsunfähigkeitszeiten der Personen, bei denen vor der Post-Covid-Erkrankung eine akute Covid-Erkrankung dokumentiert worden war, mit durchschnittlich sechs Wochen (37,2 Tage) erheblich länger waren als bei denen ohne vorab dokumentierte akute Covid-Erkrankung (21,4 Tage).«

Langzeitfolgen von Covid nach wie vor schwer zu beziffern: »Die Abbildung der langfristigen Folgen von Covid-bedingten Erkrankungen für die Arbeitsfähigkeit wird durch die Verteilung des Krankheitsgeschehens auf viele unterschiedliche Abrechnungsdiagnosen erschwert. So spricht man beispielsweise von „Long Covid“, wenn Beschwerden im Zusammenhang mit einer akuten Covid-Erkrankung länger als 28 Tage andauern, ohne dass dies als eigenständige Abrechnungsdiagnose dokumentiert wird. In den vom WIdO analysierten Daten betrifft dies 2 Prozent (n = 77.017) aller von akuten Covid-Erkrankungen Betroffenen. Eine andere Erschwernis ist die Beobachtung, dass eine akute Covid-Infektion unterschiedliche Folgeerkrankungen auslösen kann. So ist zum Beispiel das „Chronische Fatiguesyndrom/Myalgische Enzephalopathie“ mit 21.399 Betroffenen und durchschnittlich 32,4 beruflichen Fehltagen pro Erkrankungsfall zwischen März 2020 und Dezember 2022 in der Auswertung berücksichtigt worden. Hinzu kommen organspezifische Erkrankungen sowie unterschiedliche psychosomatische und psychiatrische Beschwerden, in denen sich Covid-Spätfolgen äußern können. Legt man des Weiteren die Falldefinition der WHO zugrunde, die unter dem Begriff „Post-Covid Condition“ die Symptome Luftnot, Fatigue und kognitive Störungen als wesentlich für die Erkrankung nennt, erschwert das eine realistische Abbildung des Erkrankungsgeschehens auf Basis von Routinedaten abermals. In den Abrechnungsdaten, die dem WIdO vorliegen, kann es zudem zu einer Untererfassung sowohl von akuten Infektionen als auch von Post-Covid-Erkrankungen kommen, da akute Covid-Infektionen auch unspezifisch als Atemwegsinfekte dokumentiert sein können. Auch Post-Covid-Erkrankungen lassen sich über eine Vielzahl von Symptomen codieren – zum Beispiel Fatigue (ICDs: G93, F43, F48), Dyspnoe (ICDs: R06, J96, F45) oder kognitive Störungen (ICDs: F06, F07).«