Wer erinnert sich nicht an die beiden Corona-Jahre 2020 und 2021. Da wurden wir immer wieder konfrontiert mit Berichten über (angeblich) systemrelevante Berufe, deren Wert man nun endlich zu schätzen habe. Vor allem Gesundheitsberufe waren darunter, hin und wieder und mit deutlichem Abstand wurde auch auf die vielen überwiegend Frauen im Einzelhandel, vor allem in den Supermärkten, hingewiesen. Und an der einen oder anderen Stelle schafften es dann sogar die LKW-Fahrer in den Strom der zahlreichen Berichte über diejenigen, die für uns alle und ihre tägliche Versorgung unverzichtbar sind. Aber das waren nur punktuelle Eruptionen, zu weit weg für die meisten Menschen ist die eben nicht (mehr?) romantisierbare Trucker-Welt. Zu viele Hinweise auf katastrophale Arbeitsbedingungen lassen sich in der Medienberichterstattung finden, wenn man denn suchen würde. Aber das ist für meisten Menschen ganz weit weg, da geht es eher um das Erstaunen, wenn Lieferungen nicht sofort zugestellt werden oder gar mehrere Tage vergehen, bis die gewünschten Produkte direkt an die Haustür und das selbstverständlich ohne zusätzliche Kosten für die Endabnehmer transportiert werden.
Aber die mehr oder weniger krisenerfahrenen Bürger in Deutschland mögen sich einmal vorstellen, dass nicht nur irgendwelche mehr oder weniger exotische Produkte aus fernen Ländern nicht mehr greif- und kaufbar wären, sondern selbst derart einheimische Güter des existenziellen Bedarfs wie Toilettenpapier würden in den Regalen der Einkaufsläden fehlen, nicht wegen fehlender Produktion, sondern weil schlichtweg zu wenig LKW-Fahrer vorhanden sind, über die dann die zahlreichen Verkaufsstellen in den hintersten Winkeln des Landes wie selbstverständlich täglich beliefert werden können. Spätestens dann würde man merken, dass das Gerede von systemrelevanten Berufen nicht eines ist, das man als skurrile Ausformung einer hyperventilierenden Gesellschaft, die lediglich unter Befindlichkeitsstörungen leidet, abtun kann. Und der Zeitpunkt, an dem das – anfangs hier und da, dann sich durch die gesamte Gesellschaft fressend – Wirklichkeit geworden ist oder zu werden droht, ist längst erreicht.
Der LKW-Fahrermangel als seit langem bekanntes, zunehmend aber an Brisanz gewinnendes Problem
Wer das bezweifelt, der mag sich diese Zahlen anschauen: »Das Phänomen des Fahrermangels ist in der EU schon seit vielen Jahren bekannt. Im Jahr 2008 schätzte die Europäische Kommission den Mangel an Fahrern in den EU-Mitgliedstaaten auf 74.000. Der aktuelle Mangel in der Industrie liegt jedoch bereits bei 400.000 Fahrern. Das bedeutet, dass der Mangel an Arbeitskräften im Transportgewerbe in den letzten 15 Jahren innerhalb der Europäischen Gemeinschaft um mehr als 440 Prozent zugenommen hat. Allein in Deutschland fehlten im Jahr 2008 etwas mehr als 7.000 Fahrer, heute fehlen verschiedenen Schätzungen zufolge zwischen 80.000 und 100.000. In 2027 werden in der Bundesrepublik 185.000 Lkw-Fahrer fehlen, prognostiziert die International Road Transport Union (IRU).« So Artur Lysionok in seinem Beitrag Die Löhne der Lkw-Fahrer müssen endlich steigen. Sind Frachtführer aber bereit, mehr zu zahlen?, der Anfang Dezember 2022 veröffentlicht wurde. Dort wird weiter ausgeführt: »Die Transportindustrie befindet sich an einem Scheideweg. Die Gründe für den Personalmangel in den Unternehmen sind bekannt, aber die Maßnahmen zur Verbesserung der Marktsituation kommen so langsam voran, dass sie für die Wirtschaft kaum bemerkbar sind. Es ist nicht einfach, neue Mitarbeiter für die Branche zu gewinnen, besonders, weil der Beruf des LKW-Fahrers ein sehr schlechtes Image hat.«
»Das Gehalt von LKW-Fahrern variiert in der EU sehr stark und hängt von vielen Faktoren (Größe des Transportunternehmens, Betriebszugehörigkeit und Arbeitssystem, zusätzliche Qualifikationen der Arbeitnehmer) und Komponenten (Grundgehalt, Zuschläge für Bereitschaftsdienst, Überstunden, Nachtarbeit, Reisekostenerstattung) ab. Der wichtigste Faktor ist jedoch der unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungsstand in den Mitgliedstaaten. In den Peripherieländern sind die Löhne viel niedriger als in den Ländern, die vor dem Beitritt der neuen Mitglieder im Jahr 2004 zur Europäischen Union gehörten.«
»Deutschland gehört zu den Mitgliedstaaten, in denen die Fahrerlöhne zu den höchsten in Europa zählen und regelmäßig steigen, obwohl das Problem der Unterbezahlung auf dem Markt seit langem besteht. Im Jahr 2020 verdienten die Fahrer durchschnittlich 14,21 € pro Stunde. Im Vergleich dazu lag der durchschnittliche Bruttostundenlohn für Facharbeiter auf dem Markt bei 19,97 € und für angelernte Arbeiter bei 16,02 €. LKW-Fahrer verdienten im Durchschnitt 2.623 € brutto im Monat, während Arbeitnehmer mit vergleichbarer Ausbildung und Erfahrung 3.286 € erhielten«, so Artur Lysionok.
Aber tut sich aktuell nicht einiges in diesem so bedeutsamen Spielfeld der Logistik? »Beobachtet man die Stellenanzeigen auf den Jobbörsen, so liegen die Gehälter für LKW-Fahrer in Deutschland derzeit bei durchschnittlich 3.000 bis 4.000 € brutto im Monat, wobei Fahranfänger … selten mehr als 1.800 € verdienen. Erfahrene Fahrer, die lange Strecken fahren oder gefährliche Güter transportieren, können mit einem höheren Verdienst rechnen. Ihre Gehälter können monatlich bis zu 5.000 € betragen.«
➔ Es muss auf erhebliche regionale Unterschiede hingewiesen werden. So berichtet das BAG (2002: 20, siehe unten): »Während in Nordrhein- Westfalen die Stundenlohnsätze für Berufskraftfahrerinnen und -fahrer mit einer abgeschlossenen Ausbildung und anschließender mehrjähriger Fahrpraxis im Jahr 2021 bei rund 14,08 Euro lagen, wurden in Niedersachsen trotz Lohnsteigerungen zu Jahresbeginn in Höhe von rund 2,42 Prozent lediglich 11,83 Euro pro Stunde bei ähnlicher Qualifikation erreicht.«
»Die Unterbezahlung ist seit vielen Jahren ein Thema in der öffentlichen Diskussion. Frank Huster, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Spedition und Logistik (DSLV), (kritisiert) die niedrigen Löhne in der Branche … „Die Lohnentwicklungen kommen der allgemeinen Preisentwicklungen nicht nach” … Grund dafür ist seiner Meinung nach der hohe Wettbewerbsdruck, insbesondere durch Transportunternehmen aus Osteuropa, die noch ein anderes Sozial- und Lohngefüge haben. Nach Ansicht von Experten ist die Unterbezahlung einer der Hauptgründe für den Fahrermangel.«
Ein (offizieller) statistischer Blick auf die Welt der Berufskraftfahrer in Deutschland
Das Bundesamt für Güterverkehr (BAG), das seit dem 1. Januar 2023 umbenannt wurde in Bundesamt für Logistik und Mobilität (BALM), veröffentlicht regelmäßig sogenannte Marktbeobachtungen Güterverkehr mit einer Auswertung der Arbeitsbedingungen in Güterverkehr und Logistik.
➔ Bundesamt für Güterverkehr (2022): Marktbeobachtung Güterverkehr. Auswertung der Arbeitsbedingungen in Güterverkehr und Logistik 2022-I. Fahrerberufe, Köln, September 2022
»Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit befanden sich am Ende des Jahres 2021 insgesamt 561.561 Berufskraftfahrerinnen und -fahrer (Güterverkehr/Lkw) in Deutschland in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis – rund 0,4 Prozent weniger als im Vorjahr. Neuerlichen Rückgängen bei den deutschen Beschäftigten standen abermals Zuwächse bei Beschäftigten mit ausländischer Staatsbürgerschaft gegenüber … Der Anteil der Berufskraftfah- rerinnen und -fahrer mit ausländischer Staatsbürgerschaft erreichte mit rund 26,1 Prozent im Jahr 2021 einen neuen Höchstwert. Besonders stark waren die prozentualen Zuwächse bei Fahrerinnen und Fahrern aus anderen EU-Ländern – insbesondere aus Bulgarien und Polen. Darüber hinaus waren zum Stichtag 31.12.2021 insgesamt 2.217 Fahrerinnen und Fahrer aus Syrien beschäftigt – rund 34,9 Prozent mehr als im Jahr 2020.«
Frauen haben einen Anteil von rund 2,1 Prozent an den Gesamtbeschäftigten.
Und mit Blick auf den Einfluss der demografischen Entwicklung auf den anstehenden Ersatzbedarf an LKW-Fahrern höchst relevant ist diese Information: »Der Anteil von Fahrerinnen und Fahrern im Alter von 55 bis unter 65 Jahren gewann mit zuletzt rund 30,6 Prozent an den Gesamtbeschäftigten erneut an Bedeutung.«
Es wird definitiv viel zu wenig ausgebildet: »Im Jahr 2021 befanden sich insgesamt 7.296 Personen in der beruflichen Ausbildung zur Berufskraftfahrerin bzw. zum Berufskraftfahrer – rund 4,7 Prozent weniger als im Vorjahr. Die Anzahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge sank erneut – im Vorjahresvergleich um rund 8,7 Prozent auf insgesamt 2.811 Verträge.« Ein interessanter Nebenaspekt vor dem Hintergrund eines Frauenanteils von nur 2,1 Prozent an den Gesamtbeschäftigten: »Der Frauenanteil unter den angehenden Berufskraftfahrern entwickelte sich zuletzt positiv und belief sich im Jahr 2021 auf rund 9,3 Prozent.« Es werden viel zu wenige Nachwuchsfahrer ausgebildet und dann sind wir konfrontiert mit hohen Abbruchquoten: »Im Rahmen der beruflichen Ausbildung wurden allerdings nach wie vor überdurchschnittlich viele Ausbildungsverträge vorzeitig aufgelöst. Die durchschnittliche tarifliche Ausbildungsvergütung für angehende Fahrerinnen und Fahrer lag sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern im Jahr 2021 deutlich unter dem Durchschnitt über allen Ausbildungsberufen.«
»Im Jahr 2021 schlossen insgesamt 1.803 Personen ihre berufliche Ausbildung zur Berufskraftfahrerin bzw. zum Berufskraftfahrer erfolgreich ab.« Es gibt noch eine andere Qualifikationsschiene in diesem Bereich: »16.311 Personen (erwarben) ihre Qualifizierung zur Berufskraftfahrerin bzw. zum Berufskraftfahrer über die beschleunigte Grundqualifikation, weitere 385 Personen über die Grundqualifikation.«
➔ Nach dem Berufskraftfahrerqualifikationsgesetz (BKrFQG) kann eine Qualifizierung zum Berufskraftfahrer auf drei alternativen Wegen erfolgen. Zum einen besteht für junge Erwachsene die Möglichkeit, eine dreijährige Ausbildung in einem Betrieb zu absolvieren, zum anderen die Option, die Voraussetzungen für die Ausübung des Fahrerberufs über die Grundqualifikation bzw. die beschleunigte Grundqualifikation zu erwerben. Die Absolventen der (beschleunigten) Grundqualifikation stehen dem Arbeitsmarkt vergleichsweise schneller zur Verfügung, da die Dauer der Qualifizierung im Vergleich zum Abschluss der Berufsausbildung deutlich geringer ist. Die Grundqualifikation gilt als bestanden, wenn erfolgreich eine 240-minütige theoretische und eine 210-minütige praktische Prüfung bei der IHK abgelegt wurden. Die beschleunigte Grundqualifikation wird durch die Teilnahme an einer 140-stündigen Schulung bei einer anerkannten Ausbildungsstätte mit einer abschließenden 90-minütigen theoretischen Prüfung bei der IHK erworben.
Zu den Arbeitsbedingungen heißt es in dem BAG-Bericht aus 2022: »Im Arbeitsalltag sind Berufskraftfahrerinnen und -fahrer verschiedenen Faktoren ausgesetzt, die zum Teil belastende Auswirkungen auf die Gesundheit haben können. Dies schlägt sich in vergleichsweise hohen Krankenständen und einer überdurchschnittlichen Anzahl an Arbeitsunfähigkeitstagen in Folge von Muskel- und Skeletterkrankungen sowie Verletzungen nieder. Die hoheitlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie nahmen in den vergangenen zwei Jahren ebenfalls wesentlichen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen von Fahrerinnen und Fahrern. So führte u.a. die sogenannte 3G-Regelung, die im November 2021 im Zuge der Neuerungen im Infektionsschutzgesetz eingeführt wurde, in der Praxis teilweise zu zusätzlichen Belastungen.«
Und immer wieder dieser (zunehmende) Mangel an Fahrern – der war 2022 sogar dreimal Thema von Anhörungen im Bundestag
Man kann mittlerweile Regalmeter füllen mit Presseberichten, dass es vorne und hinten mangelt an LKW-Fahrern und das dieser seit Jahren beklagte Mangel im größer wird. Und das ist ein wahrhaft existenzielles Thema, wenn alle nur mal einen Moment lang darüber nachdenken, wie abhängig wir tagtäglich alle davon sind, das tausende Fahrer lebensnotwendige Güter in die entlegensten Gegenden des Landes transportieren. Und würde es den Gütertransport auf der Straße nicht geben, würden binnen Stunden Millionen Arbeitnehmer in diesem Land nach Hause gehen müssen (wo sie dann aber auch auf scheinbare Selbstverständlichkeiten wie Essen oder andere Dinge verzichten müssen, wenn die Supermärkte & Co. nicht mehr beliefert werden würden).
Normalerweise lautet ein immer wieder vorgetragener Vorwurf an „die“ Politik, dass sie sich nicht oder wenn, dann nur sehr punktuell und anlassbezogen mit vielen systemrelevanten Berufen beschäftigt, dass sie nicht ausreichend auf dem Schirm habe, was da abläuft. Das nun kann man mit Blick auf den Fahrermangel nicht wirklich behaupten – wenn man das beispielsweise daran festmacht, dass im nunmehr gerade vergangenen Jahr 2022 das Thema Mangel an Berufskraftfahrern und deren Situation sogar dreimal bei Anhörungen im Verkehrsausschuss des Bundestages aufgerufen wurde.
»Der Mangel an Berufskraftfahrern hat für die Transport- und Logistikbranche existenzbedrohende Formen angenommen und ist nicht allein auf eine zu geringe Entlohnung zurückzuführen«, berichtet der Bundestag am 18. Mai 2022 unter der Überschrift Transport- und Logistikbranche sieht sich in der Existenz bedroht. Dort findet man auch die Stellungnahmen der zu der Anhörung geladenen Sachverständigen. »Die geladenen Sachverständigen forderten bessere Arbeitsbedingungen und mehr gesellschaftliche Wertschätzung für den Beruf. Aus Sicht der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und von Fahrervertretern macht aber vor allem das niedrige Gehalt den Beruf unattraktiv.«
Zur Rolle der Vergütung wird berichtet: »Ein wichtiger Grund für den Mangel an Berufskraftfahrern sei der „Mangel an Gehalt“, sagte Verdi-Vertreter Ronny Keller. Vergütung sei zwar nicht ausschließlich, aber in hohem Maße für die Attraktivität des Berufsbildes sowie für die Gewinnung von Nachwuchskräften von Bedeutung. „Die Branche muss ein besseres Angebot machen oder immer weiter nach Osten schauen“, sagte Keller. Allerdings, so der Gewerkschaftsvertreter, gebe es das Fachkräfteproblem inzwischen auch schon in Polen. Fachkräftezuwanderung sei nicht der richtige Weg. Besser sei es, die Arbeitsbedingungen national zu verbessern. Hier seien vor allem die Arbeitgeber in der Verantwortung.« Klar argumentiert ein Gewerkschaftsvertreter so. Und die andere Seite? »Auch aus Sicht von Frank Huster, Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband Spedition und Logistik, spielt Entlohnung eine wichtige Rolle. Vor dem Hintergrund des extremen Mangels hätten sich aber die Löhne oberhalb der Tariflöhne entwickelt. Unternehmen in Baden-Württemberg zahlten bereits 4.000 Euro brutto monatlich. In der Region Berlin-Brandenburg liege der Wert angesichts einer anderen Wettbewerbssituation hingegen bei 2.000 Euro, räumte Huster ein.« Und weiter: »Huster verwies auf die Anforderungen des Berufes, der einen hohes Stressfaktor habe und zu langen Abwesenheiten von zuhause führe. Bei jungen Menschen sei der Beruf zudem „nicht mehr angesagt“ … Hoffnung setze die Branche auf Fachkräftezuwanderung. Hierbei werde aber eine deutliche Entbürokratisierung benötigt.« Eine Argumentation, die wir auch aus anderen systemrelevanten Bereichen kenne, man denke hier nur an die Pflegeberufe.
Was sich die Arbeitgeberseite hier vorstellt: »Um die Fachkräftezuwanderung zu erleichtern, forderte Dirk Engelhardt, Vorstandssprecher des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung, den Führerscheinerwerb und die Berufskraftfahrerqualifikation auch für Personen mit EU-ausländischem Wohnsitz in Deutschland zu ermöglichen. Außerdem brauche es eine Anerkennung von Berufskraftfahrerqualifikationen aus Drittstaaten bei vergleichbarem Qualifikationsniveau.« Und ein anderer geladener Sachverständiger aus dem Unternehmerlager argumentiert so: »Der Geschäftsführer des Logistikunternehmens Peine GmbH, Christoph Peine, machte ebenfalls deutlich, dass es „Zuwanderung aus dem Osten“ brauche. Dem stünden aber große bürokratische Hemmnisse entgegen. Seit drei Jahren habe er Kontakt mit fünf philippinischen Fahrern. „Ich bekommen die aber nicht auf den Lkw, weil die bürokratischen Hürden so hoch sind“, sagte er. Folge davon sei, dass die Branche die eigenen Lkw nicht mehr bewegen könne und darüber nachdenke, sie abzuschaffen, „was uns zu einem Problem wie in Großbritannien führen kann“. Das Gehalt, so Peine, sei nicht das Problem. Das regle der Markt. Er gehe davon aus, dass künftig jeder Fahrer auf 4.000 Euro monatlich komme. Das helfe aber nicht, wenn sich nicht auch die Arbeitsbedingungen verbessern, es nicht einmal Toiletten oder ausreichend Parkplätze gibt und die Fahrer an der Rampe auch noch selbst ent- und beladen müssen.«
Solche Argumente, vor allem dass das Gehalt kein Problem sei, werden auf der anderen Seite, bei den betroffenen Fahrern nicht geteilt: »Für den Berufskraftfahrer Burkhard Taggert, Vorsitzender des Kraftfahrerkreises Aschaffenburg-Miltenberg, ist das niedrige Gehalt das Problem. „Die Zahlen, von denen Sie sprechen, habe ich noch nie gehört“, sagte er an seine Vorredner gewandt. Realistischer seien in seiner Region Gehälter von 2.200 bis 2.400 Euro – in Mecklenburg-Vorpommern würden gar weniger als 2.000 Euro gezahlt. Aufgrund der niedrigen Gehälter müssten die Fahrer „Stunden kloppen, damit überhaupt was reinkommt“. Viele Arbeitgeber würden zudem Bestandteile des Lohns als Zulagen zahlen, was sich negative auf die Rentenansprüche der Fahrer auswirke, sagte Taggert, der auch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen anmahnte. Dafür müsse unter anderem die Fahrerkabine in die Arbeitsstättenverordnung aufgenommen werden, um etwa eine Standklimaanlage verpflichtend in alle LKW einzubauen.« Und Udo Skoppek vom Verein „Allianz im deutschen Transportwesen“ wird mit der Forderung nach besser geschulten und ausgestatteten Kontrollbehörden zitiert, die dann auch alle vorhandenen Werkzeuge nutzen sollten, um die „schwarzen Schafe“ auf dem Mark aussortieren zu können. „Sind die erst vom Markt, gibt es einen fairer Wettbewerb, und fairer Lohn und soziale Sicherheit sind gegeben“, sagte er.
Am 26. September 2022 war das dann erneut Thema einer Anhörung im Verkehrsausschuss: Experten: Es fehlen bis zu 80.000 Lkw- und Busfahrer. Derzeit fehlen laut Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) und Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmer (BDO) etwa 60.000 bis 80.000 Berufskraftfahrer. »Die Abgeordneten wollten von den neun eingeladenen Sachverständigen vor allem wissen, welche Möglichkeiten es gebe, die Situation auf dem quasi leergefegten Lkw- und Busfahrermarkt zu verbessern. Konkret ging es um Verbesserungen bei der Ausbildung, bei der Attraktivität des Berufsbildes und der Arbeitsbedingungen sowie beim Führerscheinerwerb speziell bei potenziellen ausländischen Arbeitskräften.«
»Aus erster Hand berichteten Uta Alborn, Personalchefin des Dortmunder Spezialtransportunternehmens Alborn, und Berthold Richter, Geschäftsführer des Leipziger Logistikunternehmens Halsped, über die Schwierigkeiten, ausreichend Personal zu bekommen. Es gebe kaum Bewerbungen von Auszubildenden, der Kraftfahrerberuf sei „nicht gut angesehen“, sagte Alborn … Richter forderte gleiche Wettbewerbsbedingungen für deutsche und ausländische Logistikunternehmen. Osteuropäische Firmen würden sich oft nicht an die EU-weiten Kabotagebestimmungen halten. Kabotage ist gewerblicher Güterkraftverkehr mit Be- und Entladeort in einem Staat durch einen Unternehmer, der in diesem Staat weder Sitz noch Niederlassung hat. Richter forderte die Bundesregierung auf, diese Bestimmungen viel schärfer durchzusetzen. Zudem müssten die Löhne in Deutschland steigen.«
Auch hier taucht sie wieder auf, die Anerkennung von Fahrern aus Drittländern: »Ilja Nothnagel, Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), sprach sich für eine Beschleunigung der Grundqualifikation aus, die neben dem Erwerb der Fahrerlaubnis für Berufskraftfahrer erforderlich ist … Zu den Stellschrauben, an denen man drehe könne, gehörten die Anpassung der Regelungen des Wohnortprinzips bei der Prüfung in Europa, die Anerkennung der Prüfungen in den West-Balkanstaaten sowie die Anerkennung von Papieren von Fahrern aus Drittländern. Es sollten alle Register gezogen werden.«
Frank Huster vom Bundesverband Spedition und Logistik (BDSL) »bezeichnete den Fahrermangel als europäisches Problem. An die Migration geknüpfte Erwartungen müssten deshalb relativiert werden. Eine Trendumkehr sei durch Migration nicht zu erwarten. Bei der Frage der Attraktivität des Fahrerberufs müsse man aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es schlichtweg Berufe gebe, die „nicht angesagt“ seien. Das Berufsbild des Kraftfahrers passe nicht zu den Vorstellungen junger Menschen. Deshalb sei man angewiesen auf Unterstützung von Transportunternehmen aus dem Ausland. Gleichzeitig sollten die Zugangshürden für ausländische Fachkräfte verringert werden. Das Qualifikationsniveau dürfe aber nicht beliebig gesenkt werden.«
Man sieht schon – ein höchst ambivalentes Thema, was sich auch in der gewerkschaftlichen Stellungnahme niedergeschlagen hat: »Stefan Thyroke von der Gewerkschaft ver.di sagte, die geforderte Absenkung der Zugangsvoraussetzungen seien aus Sicht von ver.di ein Akt der Verzweiflung und Hilflosigkeit … Allerdings habe noch niemand gesagt, was abgesenkte Zugangsvoraussetzungen an zusätzlichen Berufskraftfahrern bringe. Das sei aber die entscheidende Frage, um einschätzen zu können, ob das Risiko der Absenkung im Kauf genommen werden kann. Der Handlungsbedarf sei dringend, ver.di sei aber gegen eine Absenkung der Zulassungsvoraussetzungen. Dies sei am Ende „ein Fass ohne Boden“.«
Und die vorerst letzte Anhörungsrunde fand dann am 12. Dezember 2022 statt: Plädoyer für bessere Arbeitsbedingungen von Lkw-Fahrern, so ist der Bericht des Bundestages darüber betitelt. Es war bereits die dritte öffentliche Anhörung des Verkehrsausschusses zum Berufskraftfahrermangel in 2022. »Vertreter der Transport- und Logistikbranche, Gewerkschaftsvertreter und Berufskraftfahrer plädieren für verbesserte Arbeitsbedingungen für Lkw-Fahrer. Dazu gehörten unter anderem mehr Park- und Rastplätze sowie saubere sanitäre Einrichtungen. Zudem müssten gesetzliche Regelungen stärker kontrolliert werden.«
Die Mangelzahlen werden gleichsam in Monatsschritten immer größer: »Dirk Engelhardt, Vorstandssprecher des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung e. V. (BGL), verwies auf den zunehmenden Mangel an Berufskraftfahrern. Aktuell fehlten etwa bis zu 100.000 Fahrern. Bei einer anhaltenden Entwicklung drohe Deutschland in zwei bis drei Jahren ein Versorgungskollaps ähnlich wie in Großbritannien.« Was tun? »Um den Fahrermangel wirksam bekämpfen zu können, müssten die Gehälter erhöht sowie die konkreten Arbeitsbedingungen und das Image des Berufs verbessert werden. Dazu gehörten ausreichend Rastplätze mit sauberen sanitären Einrichtungen. Engelhardt sprach sich auch für ein Be- und Entladeverbot für Fahrer aus, um diese zu entlasten.«
Diesmal waren auch zwei Berufskraftfahrer eingeladen – ihre schriftlichen Stellungnahmen können auf der Seite mit dem Bericht über die Anhörung abgerufen werden. Lesenswerte lebensnahe Schilderungen. »Die Berufskraftfahrer Andreas Kernke und Mark Schneider gaben dem Ausschuss einen Einblick in ihren Berufsalltag und ihre Probleme. Nach Schneiders Einschätzung stehen Lkw-Fahrer „am Rand der Gesellschaft“. Ihre Belange würden kaum wahrgenommen. Es gebe zwar viele gute Gesetze zum Schutz der Fahrer, allerdings sei ihre Kontrolle völlig unzureichend. Er wünsche sich mehr Anerkennung für die wichtige Arbeit der Lkw-Fahrer. „Es gibt in Deutschland mehr Siegel für fair gehandelten Kaffee als für einen fairen Transport“, sagte Schneider. Sein Berufskollege Kernke bestätigte die Aussagen Schneiders. Die Fahrer würden von vielen Spediteuren dazu genötigt, ihre Fahrzeiten voll auszuschöpfen. Dies führe dazu, dass die Fahrer gezwungen seien, ihre Fahrzeuge mitunter auch im Parkverbot abzustellen, um die gesetzlichen Ruhezeiten einzuhalten, weil in der Nähe keine Parkplätze oder Raststätten vorhanden seien. Nach 21 Uhr würden die Duschen und Toiletten an Autobahn-Rastplätzen nicht mehr gereinigt und die Gaststätten hätten geschlossen.«
Ein bereits von Dirk Engelhardt angesprochener Vorschlag findet man auch in der Stellungnahme aus dem gewerkschaftlichen Raum: »Nach den Einschätzungen von Ronny Keller von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und Michael Wahl von der Beratungsstelle Faire Mobilität seien die Arbeitsbedingungen von vielen Berufskraftfahrern oftmals kaum noch als menschenwürdig zu beschreiben. Keller sprach sich für ein Be- und Entladeverbot für die Fahrer aus. Das Be- und Entladen sollte nicht die Aufgabe des Fahrers sein, da er eh schon große Schwierigkeiten habe, ausreichend Ruhezeiten zu finden. Wahl plädierte dafür, ein Be- und Entladeverbot zu prüfen. In jedem Fall aber müsse das Be- und Entladen durch den Fahrer vergütet werden. Für ein Be- und Entladeverbot sprach sich auch der Geschäftsführer des mittelständischen Transportunternehmens Halsped GmbH Berthold Richter aus. Bei manchen belieferten Kunden habe man den Eindruck, sie würden sich von den Lkw-Fahrern am liebsten noch die Regale einräumen lassen.«
Zu der Forderung nach einem Be- und Entladeverbot zur Entlastung der Fahrer haben auch Ulrich Binnebößel, Abteilungsleiter Logistik beim Handelsverband Deutschland e. V (HDE), und Markus Olligschläger, Hauptgeschäftsführer Bundesverband Wirtschaft, Verkehr und Logistik e. V. (BWVL), Stellung bezogen: »Binnebößel warb dafür, das Be- und Entladen in Verträge zwischen Produzenten, Spediteuren und belieferten Kunden aufzunehmen. In der Tat sei dies eine wertschöpfende Arbeit und müsse entsprechend honoriert werden. Auch Olligschläger sprach sich dafür aus, das Be- und Enladen in das Gehalt der Fahrer einfließen zu lassen. Immerhin sei der Fahrer gesetzlich für die Sicherheit der Ladung auf seinem Fahrzeug verantwortlich. Somit könne er sich auch nicht aus dem Be- und Entladevorgang heraushalten.«
Man wird sehen, ob und was von den Vorschlägen konkretisiert oder gar umgesetzt wird.
Grundsätzlich muss man das Thema einordnen in einen europäischen Zusammenhang. Wer sich darüber informieren will, was da abläuft und mit welchen Geschäftsmodellen man konfrontiert wird, dem sei diese als Ausschussdrucksache veröffentlichte Stellungnahme empfohlen, die einen guten Überblick vermittelt:
➔ Anna Weirich und Michael Wahl (2022): Informationen zur Branche »Internationaler Straßentransport«. Erfahrungen aus der Beratungspraxis von Faire Mobilität, Juli 2022