Ist das zusammengewachsen, was zusammengehört? Einige Zahlensplitter zum Tag der Deutschen Einheit 2022

»Zusammenstehen auch in Krisenzeiten, Lösungen finden und respektvoll miteinander umgehen: Beim zentralen Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Erfurt klang der Wunsch nach mehr Zusammenhalt durch«, so dieser Bericht von den diesjährigen Einheitsfeierlichkeiten: „Weniger Wut und mehr Respekt“. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow sagte, insgesamt habe der Osten – an „harten Kriterien“ wie etwa der Wirtschaftskraft gemessen – einen „unglaublich guten Entwicklungsprozess genommen“. Der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, erinnerte an die Veränderungen, die Ostdeutschen nach 1989 viel abverlangt hätten: „Für Viele hier im Osten Deutschlands und in Thüringen schmeckten die Jahre nach der Vereinigung nicht nach Milch und Honig, sondern gerade die Zeit der Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit lässt heute noch vielen hier in Thüringen die Galle aufstoßen“, sagte Kramer. Jedoch gebe es auch „viele Geschichten des gelingenden Wachsens“. Erfurts katholischer Bischof Ulrich Neymeyr sagte, dass am 3. Oktober 1990 wohl nur wenigen Menschen bewusst gewesen sei, „welch große Aufgabe vor unserem Volk lag“. Bis heute seien die Deutschen „nicht wirklich“ zu einem Volk zusammengewachsen. Vor Vertretern der Spitzen des Staates bat er um Gottes Beistand für weiteres Zusammenwachsen und ein „Wachsen an den Herausforderungen der Zeit“.

Ob Gott seinen oder ihren Beistand liefern kann und wird, muss hier dahingestellt bleiben. Schauen wir auf einige sozialpolitisch relevante Befunde, die auch im Jahr 2022 darauf hindeuten, dass der Prozess des Zusammenwachsens noch lange nicht abgeschlossen ist.

»Mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung liegen die Renten langjährig Beschäftigter in Ostdeutschland immer noch deutlich unter denen im Westen. So erhielten Rentnerinnen und Rentner in Ostdeutschland 2021 nach 45 Jahren Beitragsjahren durchschnittlich 1.329 Euro, in Westdeutschland dagegen 1.527 Euro.« Das kann man diesem Beitrag entnehmen: Ostdeutschland: Renten nach 45 Beitragsjahren niedriger. Wie immer muss man bei der Interpretation solcher Zahlen den Kontext beachten: »Versicherungsjahre sind die gesamte Zeit, die man in der gesetzlichen Rentenversicherung war – also auch Jahre, in denen Versicherte zum Beispiel wegen Arbeitslosigkeit keinen Beitrag zahlen. Solche Zeiten könnten einen Teil der Unterschiede zwischen Ost und West erklären. Auch niedrigere Löhne spielen eine Rolle. Zu beachten ist aber: Die Zahlen beziehen sich nur auf den direkten Vergleich bei jeweils 45 Versicherungsjahren. Viele im Osten haben jedoch mehr Berufsjahre als im Westen und mehr Frauen arbeiten.«

Quelle der Abbildung: Deutsche Rentenversicherung

Mehr Frauen in Ostdeutschland gehen einer Erwerbsarbeit nach als im Westen. Und nicht nur das unterscheidet den Osten vom Westen unseres Landes. Es gibt mit Blick auf die Frauen einen weiteren markanten Unterschied hervorzuheben:

»Auch nach 32 Jahren deutscher Einheit sind die Unterschiede zwischen Ost und West immer noch signifikant. In Ostdeutschland liegt etwa das Medianentgelt der Frauen schon seit Jahren über dem der Männer. Im Westen ist es umgekehrt.« Das berichtet die Bundesagentur für Arbeit (BA) unter der Überschrift Tag der Deutschen Einheit: In Ostdeutschland verdienen Frauen weiterhin mehr als Männer. »Das Medianentgelt der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten erreichte 2021 in Ostdeutschland erstmals die 3.000 Euro-Marke und liegt aktuell bei 3.007 Euro. Dabei verdienen die ostdeutschen Frauen mit 3.060 Euro im Mittel 82 Euro mehr als die Männer (2.978 Euro) … Im Westen zeigt sich dagegen ein anderes Bild: Dort verdienen die Männer im Mittel 461 Euro mehr als die Frauen und erreichen 2021 ein Medianentgelt von 3.787 Euro.« Aber auch hier muss einschränkend angemerkt werden: »Der höhere Median der vollzeitbeschäftigten Frauen wird aber durch die deutschlandweit hohe Teilzeitquote der Frauen eingeschränkt. Auch in Ostdeutschland arbeitet fast die Hälfte der Frauen in Teilzeit (49 Prozent).«

Wie kann man erklären, dass (vollzeitbeschäftigte) Frauen im Osten (etwas) mehr verdienen als die Männer? »Die unterschiedlichen Medianentgelte von Männern und Frauen in den beiden großen Landesteilen gehen auf die jeweiligen Branchenstrukturen zurück. In den alten Bundesländern finden sich weitaus mehr große Unternehmen in den von Männern dominierten Branchen mit entsprechenden Tarifstrukturen, wie z.B. dem verarbeitenden Gewerbe. Demgegenüber ist in Ostdeutschland der Frauenanteil in Branchen mit Tariflöhnen relativ hoch, z.B. in der öffentlichen Verwaltung oder dem Gesundheitswesen.«

Insgesamt mit Blick auf die Löhne bilanziert die BA: »Auch nach 32 Jahren deutscher Einheit sind die Unterschiede zwischen Ost und West immer noch signifikant … Insgesamt liegen die Medianentgelte in Ostdeutschland nach wie vor deutlich unter denen im Westen. Die grundsätzliche Tendenz geht dahin, dass die Unterschiede – wenn auch nur langsam – geringer werden. 2021 hat sich zwar erneut der Ost-West-Unterschied bei den Löhnen und Gehältern verringert, er beträgt aber immer noch 619 Euro (2020: 650 Euro; 2017 lag der Unterschied noch bei 739 Euro).

Zum Thema Löhne hat sich auch die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung zu Wort gemeldet: Beschäftigte im Osten verdienen bei gleicher Qualifikation 14 Prozent weniger als im Westen – Mindestlohnerhöhung bringt Annäherung im unteren Entgeltbereich. »Auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung verdienen Beschäftigte in Ostdeutschland noch deutlich weniger als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den alten Bundesländern. Insgesamt beträgt der Abstand 13,7 Prozent, wenn man Beschäftigte gleichen Geschlechts, im gleichen Beruf und mit vergleichbarer Berufserfahrung miteinander vergleicht … Je nach Beruf kann die Gehaltslücke für Vollzeitbeschäftige monatlich bis zu 1.000 Euro brutto betragen.«

»Die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro zum 1. Oktober 2022 führt vor allem im unteren Entgeltbereich zu einer Annäherung der Verdienste, da in Ostdeutschland ein höherer Anteil der Beschäftigten von der Mindestlohnerhöhung profitiert. Für Arbeitnehmer mit Entgelten oberhalb des Mindestlohns ist hingegen oft entscheidend, ob der Arbeitgeber nach Tarifvertrag bezahlt. Und das ist in Ostdeutschland in vielen Branchen deutlich seltener der Fall als in Westdeutschland. Nach Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) lag die Tarifbindung der Beschäftigten im Jahr 2021 in Ostdeutschland nur noch bei 45 Prozent, verglichen mit 54 Prozent im Westen. Für das verarbeitende Gewerbe insgesamt weist das IAB aktuell eine Tarifbindung von 58 Prozent (West) bzw. 43 Prozent (Ost) aus. Das ist auch deshalb relevant, weil: »Im Unterschied zu den tatsächlich gezahlten Gehältern gibt es bei den Tariflöhnen inzwischen keine wesentlichen Ost-West-Unterschiede mehr. So lag das tarifliche Entgeltniveau in Ostdeutschland im Jahr 2021 bei 98 Prozent des Westenniveaus, verglichen mit 60 Prozent im Jahr 1991.«

»Auch zwischen den ostdeutschen Ländern gibt es ein merkliches Gefälle bei den Löhnen insgesamt. In Brandenburg ist, auch aufgrund des prosperierenden Berliner Umlandes, der Rückstand gegenüber dem Westen mit 10,6 Prozent am geringsten … In Mecklenburg-Vorpommern beträgt das Minus 13,1 Prozent. Im Mittelfeld liegen Sachsen-Anhalt (13,9 Prozent) und Thüringen (14,0 Prozent). Schusslicht ist der Freistaat Sachsen: Hier liegen die Verdienste der Befragten um 14,8 Prozent unter dem Niveau für vergleichbare Tätigkeiten im Westen.«

»Die Gehaltsunterschiede beziehen sich auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ost und West, die sich hinsichtlich wichtiger Eigenschaften nicht voneinander unterscheiden. Neben dem ausgeübten Beruf wurden Lohnunterschiede statistisch kontrolliert, die mit Faktoren wie der Berufserfahrung, dem Geschlecht, der Größe des Betriebes oder einer innerbetrieblichen Leitungsfunktion zusammenhängen.« Man vergleicht also gleich mit gleich – „Menschen, die im gleichen Beruf tätig sind und auch sonst ähnliche Merkmale haben“.

Aber gerade vor diesem ambitionierten Hintergrund bei den präsentierten Zahlen muss man wieder einen kritischen Blick auf die Datenquelle werfen. So wird darauf hingewiesen, dass die berechneten Lohnunterschiede zwischen Ost und West auf einer Auswertung von gut 188.000 Datensätzen des Portals Lohnspiegel.de, das vom Wirtschafts- und Sozialwissen­schaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung betreut wird, basieren. Zum „Lohnspiegel“ muss man aber wissen, dass dieser höchstens als eine Annäherung an die Wirklichkeit verstanden werden muss, möglicherweise mit erheblichen Verzerrungen, was man auch bei denen nachlesen kann, die den Lohnspiegel betreiben: »Die Daten des Portals Lohnspiegel.de beruhen auf einer kontinuierlichen Online-Umfrage unter Erwerbstätigen in Deutschland. Für die Analyse wurden 188.191 Datensätze berücksichtigt, die von Januar 2020 bis August 2022 erhoben wurden. Die Umfrage ist nicht repräsentativ, erlaubt aber aufgrund der hohen Fallzahlen detaillierte Einblicke in die tatsächlich gezahlten Entgelte.«