Die duale Berufsausbildung in der Schieflage. Von unbesetzten Ausbildungsstellen, unversorgten Bewerbern und einer schweren Hypothek für die Post-Boomer-Zeiten

Eigentlich ist die duale Berufsausbildung in Deutschland das Rückgrat des Ausbildungssystems in unserem Land – neben der fachschulischen und der hochschulischen Ausbildung. Nun wird bereits seit vielen Jahren davon gesprochen und darüber geschrieben, dass die betriebliche Berufsausbildung einen gekrümmten Rücken hat. Während in den zurückliegenden Jahren die hochschulische Säule stark zugelegt hat (was sich dann in einer Debatte niedergeschlagen hat, in der diese Entwicklung von Skeptikern und Kritikern als „Akademisierungswahn“ verunglimpft wurde), musste man mit Blick auf die duale Berufsausbildung einen fundamentalen und auch demografiebedingten Wandel von „zu viel“ nach „zu wenig“ zur Kenntnis nehmen. In der Vergangenheit gab es – das wird heutzutage allzu oft vergessen – ein „zu viel“ an jungen Menschen, die bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz nicht zum Zuge gekommen sind und denen beispielsweise im „Übergangssystem“ nicht oder nur partiell geholfen werden konnte, die abgetaucht sind in die Welt der un- und angelernten Tätigkeiten, oftmals verbunden oder periodisch unterbrochen durch den Bezug von Transferleistungen, sei es aufstockend oder durch Arbeitslosigkeitsphasen bedingt. Man muss an dieser Stelle auf den Tatbestand hinweisen, dass die Zahl der Ungelernten im Alter von 20 bis 34 Jahren von 1,88 Millionen im Jahr 2014 auf 2,16 Millionen im Jahr 2019 angewachsen ist.

Gegenwärtig wird die Debatte dominiert von einem „zu wenig“ – dabei zumeist verengt auf die eine Dimension des „zu wenig“, also zu wenig potenzielle und tatsächliche Azubis mit der Folge erheblicher Besetzungsprobleme angebotener Ausbildungsstellen. Allerdings gibt es auch ein „zu wenig“ an Ausbildungsstellen in Relation zu ausbildungsuchenden jungen Menschen, nicht überall, sondern in bestimmten Regionen, man denke hier an das Ruhrgebiet oder Berlin. Dieses „zu wenig“ macht sich dann auch darin bemerkbar, dass immer noch hundertausende junger Menschen im sogenannten „Übergangssystem“ versorgt und manchmal einfach auch nur geparkt werden (müssen) oder aber irgendwohin abtauchen.

Über was sprechen wir eigentlich, wenn von „der“ dualen Berufsausbildung die Rede ist? Insgesamt können Jugendliche und junge Erwachsene nach Ende ihrer allgemeinbildenden Schulzeit aktuell aus einer Gesamtzahl von 327 anerkannten dualen Ausbildungsberufen auswählen. Und dieses vielfältige Berufsausbildungssystem ist in ständiger Fortentwicklung begriffen: »Wie anpassungs- und wandlungsfähig die duale Berufsausbildung in Deutschland ist, verdeutlicht … die Anzahl von insgesamt 129 Ausbildungsordnungen, die das BIBB gemeinsam mit den zuständigen Bundesministerien, den Sozialpartnern und den Sachverständigen aus der betrieb­lichen Praxis seit 2012 überarbeitet und an die aktuellen wirtschaftlichen, technologischen und gesellschaftlichen Anforderungen angepasst hat. Weitere Neuordnungsprojekte sind bereits in Arbeit«, berichtet das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB). »Zum Ausbildungsjahr 2022 treten am 1. August zwei neue und zwölf modernisierte Ausbildungs­ordnungen in Kraft.«

Aber der Präsident des BIBB, Friedrich Hubert Esser, lässt es zugleich nicht an mahnenden Worten fehlen: »Die mit der demographischen Entwicklung sowie dem veränderten Bildungsverhalten einhergehende Ausdünnung unserer Fachkräftebasis gefährdet bereits jetzt massiv das Erreichen der anspruchsvollen Ziele, die mit der Energiewende und der Digitalisierung verbunden sind. Wir müssen deshalb dafür Sorge tragen, dass wir die Liste der sogenannten Engpassberufe zügig eindampfen. Das Spektrum der Fachkräfte, die zunehmend fehlen, ist groß: vom Dachdecker bis zum Softwareentwickler. Daher muss der beruflichen Bildung jetzt unsere volle Aufmerksamkeit gehören. Es gilt, sie für Betriebe und für junge Menschen gleichermaßen attraktiver zu gestalten, denn der sich mittlerweile über die Jahre vollziehende Rückgang der Ausbildungsvertragszahlen muss endlich gestoppt werden. Sonst haben wir in naher Zukunft niemanden mehr, der Windkraftanlagen baut oder moderne Heizungs- und Solaranlagen installiert.«

Pessimistische Töne kommen auch aus dem Arbeitgeberlager: Ausbildungsplatz sucht Azubi – Bewerbersituation spitzt sich zu, so ist eine Meldung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) überschrieben. „Mehr als vier von zehn IHK-Ausbildungsbetrieben konnten im vergangenen Jahr nicht alle angebotenen Ausbildungsplätze besetzen – ein Allzeithoch. Und von diesen Unternehmen hat mehr als jedes dritte keine einzige Bewerbung erhalten“, berichtet der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks von den alarmierenden Ergebnissen der Erhebung unter bundesweit rund 15.000 Ausbildungsbetrieben. »Hatte der Anteil der Betriebe, die nicht für alle offenen Stellen Azubis finden konnten, im Jahr 2018 noch bei 32 Prozent gelegen, betrug er 2021 bereits 42 Prozent. Das bedeutet einen Anstieg um 10 Prozentpunkte in nur drei Jahren über alle Branchen hinweg.«

Vor allem drei Bereiche werden hervorgehoben: »Die Industrie (ohne Bau) verzeichnete sogar einen Zuwachs von 17 Prozentpunkten (Anstieg von 33 auf 50 Prozent aller Ausbildungsbetriebe), aber auch im Gastgewerbe (56 auf 67 Prozent) sowie in Transport und Logistik (40 auf 54 Prozent) bleiben immer mehr Ausbildungsplätze frei.«

Und dabei geht es immer öfter nicht darum, dass sich nur einige Bewerber für eine Ausbildungsstelle interessieren: »Als Grund für die Nichtbesetzung von Ausbildungsplätzen wird immer häufiger das komplette Ausbleiben von Bewerbungen genannt: Das galt 2021 für 36 Prozent der Fälle, 2018 „nur“ für 30 Prozent.«

Quelle der Abbildung: Deutschland gehen die Azubis aus, Tagesschau Online, 18.08.2022

Ausführliche Informationen über die Ergebnisse der Umfrage des DIHK findet man hier:

➔ DIHK (2002): DIHK-Ausbildungsumfrage 2022. Duale Ausbildung vor großen Herausforderungen, August 2022

Natürlich gibt es auch Branchen und vor allem Unternehmen, die aus unterschiedlichen Gründen kein Problem haben, genügend Ausbildungsinteressierte anzulocken. In der Berichterstattung wird als Beispiel ein Unternehmen genannt, dem man dringend mehr und gutes Personal wünschen würde – die Deutsche Bahn:

➔ »Ein Unternehmen kann … nicht über zu wenig Azubis klagen: Die Deutsche Bahn. So viele junge Menschen wie nie haben sich dort für das neue Ausbildungsjahr ab 1. September beworben. 115.000 Bewerbungen seien eingegangen und damit 15 Prozent mehr als vor zwei Jahren, sagte DB-Personalchef Martin Seiler: „Insgesamt 5200 Nachwuchskräfte sollen in diesem Jahr im DB-Konzern mit ihrer Ausbildung, ihrem Studium oder einer Qualifizierung beginnen. Das ist ein Rekord.“ Seiler sagte, verantwortlich für die gute Bilanz bei den Bewerbungen seien das „positive Arbeitgeberimage“ der Bahn und eine „innovative und kreative Personalgewinnung“. Die DB habe etwa bereits 2018 Anschreiben für Ausbildungsplätze abgeschafft, um die Bewerbung einfacher zu machen. Die Bahn bietet rund 50 Ausbildungsberufe und 25 duale Studiengänge an.«

Nun ist die duale Berufsausbildung ein zwar bedeutsamer, aber eben nur ein Teil des Ausbildungsgeschehens – gerade auch mit Blick auf offensichtliche Mangelberufe, man denke hier an die (nicht-hochschulische) Ausbildung von Pflegefachpersonen oder Erzieher/innen, die im fachschulischen Sektor stattfindet (und auch dort wird über eine eklatantes „zu wenig“ geklagt). Die Integrierte Ausbildungsberichterstattung des statistischen Bundesamtes versucht einen Gesamtüberblick zu liefern, was das Ausbildungsgeschehen in einem bestimmten Jahr angeht. Die vorläufigen Werte für das Jahr 2021 sehen so aus:

Die integrierte Ausbildungsberichterstattung (iABE) nutzt bereits vorhandene Daten und fasst bestehende Erhebungen zu Teilbereichen des Ausbildungsgeschehens zusammen. Im Berichtssystem der iABE wird insbesondere auf die Schulstatistik zurückgegriffen, um eine vergleichsweise einheitliche Systemdarstellung des Ausbildungsgeschehens zu gewährleisten. Weitere Quellen sind Hochschulstatistik, Personalstandstatistik, Förderstatistik der Bundesagentur für Arbeit und Statistik nach der Pflegeberufe-Ausbildungsfinanzierungsverordnung (PfleA).

Differenzierte Befunde zum Ausbildungsgeschehen findet man im Berufsbildungsbericht 2022 sowie ergänzend im vom BIBB herausgegebenen Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2022.