»Das sind harte Vorwürfe: Deutschland gehöre beim Arbeitsschutz zu den Schlusslichtern in Europa. Das habe der Sachverständigen-Ausschuss des Europarates festgestellt, der in allen Ländern die Einhaltung der sozialen Standards überprüft: „2014 hat der Sachverständigen-Ausschuss zum ersten Mal festgestellt, dass Deutschland im Arbeitsschutz nicht mehr den vorgeschriebenen Standard erreicht. Und wir haben uns eingereiht bei Bulgarien und Ungarn. Und das ist allerdings in Deutschland wenig zur Kenntnis genommen worden.“ So ein O-Ton von Wolfhard Kohrte von der Universität Halle-Wittenberg. Er sieht darin ein Staatsversagen.«
So begann der Beitrag Der Arbeitsschutz zwischen Staatsversagen und „Vision Zero“, der hier am 23. September 2018 veröffentlicht wurde. Darin wurde festgestellt: »In allen Bundesländern – die für den Arbeitsschutz zuständig sind – wurden bei den Arbeitsschutzbehörden massiv Stellen abgebaut. Folge: Von Jahr zu Jahr finden weniger Betriebskontrollen statt. Seit Mitte der 1990er Jahre ging die Zahl um zwei Drittel zurück, obwohl es immer mehr Betriebe und Vorschriften gibt.«
Und weiter ging es dann am 5. Mai 2020 mit diesem Beitrag: Wenn man ein Kind groß ziehen kann, bis die Kontrolleure wieder vorbeikommen. Das Staatsversagen beim Arbeitsschutz geht weiter. Dort konnte man auf der Basis der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage im Bundestag erfahren, dass die Zahl der Arbeitsschutzkontrollen in deutschen Betrieben weiter gesunken sei: »Der Abstand bis zu einer erneuten Kontrolle eines Betriebs verlängerte sich im Schnitt von zuvor 22,5 Jahren auf 25 Jahre.« Bis dahin könnte man ein Kind aufziehen und aus dem Hotel Mama entlassen. Wobei man sich wie bei so vielen anderen Dingen auch, sehr gut überlegen sollte, in welchem Bundesland man das Kind groß ziehen will: »Am kürzesten ist der Takt nach den jüngsten Daten für 2018 in Mecklenburg-Vorpommern mit im Schnitt 5,5 Jahren. Am längsten ist der Abstand bis zum nächsten Kontrollbesuch im Saarland mit zuletzt durchschnittlich 47 Jahren.« Da kann man im Saarland nur hoffen, dass es sich nicht um einen Nesthocker handelt.
Und nun gibt es ein Update in dieser Angelegenheit: »In manchen Bundesländern werden die Arbeitsbedingungen im Schnitt nur alle 100 Jahre geprüft«, behauptet Daniel Drepper in diesem Beitrag: Viel zu wenig Kontrollen: »Arbeitsschutzkontrollen werden in Deutschland schon seit vielen Jahren immer seltener. Etliche Firmen bekommen zwei, drei, teilweise vier Generationen lang keinen einzigen Besuch von ihrer Arbeitsschutzbehörde – in manchen Bundesländern werden die Arbeitsbedingungen im Schnitt nur alle 100 Jahre geprüft.«
Dabei soll doch eigentlich alles besser werden: »Vor allem eine Maßnahme sollte für bessere Arbeitsbedingungen in ganz Deutschland sorgen: Die sogenannte „Mindestbesichtigungsquote“, eine Gesetzesänderung, mit der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil die Länder dazu verpflichtet hat, alle Betriebe in Deutschland häufiger zu überprüfen. Bis 2026 sollen jedes Jahr fünf Prozent aller Betriebe in Deutschland kontrolliert werden. Bisher liegt die Quote nur knapp über zwei Prozent, Betriebe bekommen im Schnitt also nur alle 40 bis 50 Jahre Besuch von den Behörden. Das 2021 erlassene Gesetz des Bundesarbeitsministers sollte eine Art Befreiungsschlag werden«, so Daniel Drepper in diesem Beitrag: Noch immer zu wenig Kontrollen. Und wieder einmal wird der föderale Flickenteppich erkennbar: »Während in einigen Bundesländern bereits deutliche Maßnahmen ergriffen wurden, bleibt die Zahl der Kontrollen in anderen weiterhin sehr niedrig. Bislang stellten eine Reihe von Bundesländern zwar zusätzliche Kontrolleure ein, allerdings nur sehr wenige.«
Und das liegt auch an der Zersplitterung der für Arbeitsschutz zuständigen Behörden: »Neben dem Arbeitsschutz sind die zuständigen regionalen Behörden in Deutschland für viele weitere Aufgaben im Einsatz, etwa für die Überprüfung von Medizinprodukten oder für das Sprengstoffrecht. In vielen dieser Bereiche wurden in der Vergangenheit Mindesterfüllungsquoten eingeführt. So blieb offenbar immer weniger Zeit für Arbeitsschutz-Kontrollen in den Betrieben.«
Und Drepper erwähnt eine für Deutschland wenig schmeichelhafte Kritik: »Zuletzt hatte 2017 eine wichtige europäische Prüfung, der sogenannte SLIC-Report, Deutschland ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. In allen Bundesländern gebe es zu wenig Personal, um die internationalen Vorgaben zu erfüllen. In neun Bundesländern werde vor allem reagiert und kaum proaktiv überwacht, insgesamt würden viel zu wenige Unternehmen für ihre Fehler auch bestraft – stattdessen bleibe es meistens bei Verwarnungen: Die Arbeitsschützer sähen sich als Berater, nicht als Polizei.«
Nach der Kritik durch den SLIC-Report (➞ Abschlussbericht zur SLIC-Revision 2017 des staatlichen Arbeitsschutzsystems der Bundesrepublik Deutschland) haben Arbeitsschützer mit dem Bundesarbeitsministerium diskutiert, um eine Quote für die Kontrollen im Arbeitsschutz zu vereinbaren – nach längerem Feilschen hat man sich auf fünf Prozent der Betriebe pro Jahr geeinigt.
»Erstmals erfüllt werden soll die Quote im Jahr 2026. Doch schon jetzt wird deutlich, dass das für einige Länder schwierig wird. Im Jahr 2020 fiel die Zahl der Besichtigungen deutschlandweit auf 2,4 Prozent.« Nach einer Umfrage »zeigt nun, dass die Quoten auch im Jahr 2021 in einigen Ländern weiterhin sehr niedrig sind: So schreibt etwa Baden-Württemberg, dass es im Jahr 2021 weniger als 0,8 Prozent der Betriebe besichtigt hat, in Hessen und Sachsen waren es 1,1 Prozent der Betriebe, in Schleswig-Holstein 1,3 Prozent, in Berlin 2,2 Prozent und in Mecklenburg-Vorpommern 2,3 Prozent.«
Für Kontrollen, vor allem mehr Kontrollen, braucht man Personal, mehr Personal als heute. Aber: »Die Umfrage zeigt auch, dass einige Länder bisher kaum neue Arbeitsschützer ausbilden. So hat Sachsen gar kein eigenes Ausbildungsprogramm, verliert bis 2026 aber mindestens 16 seiner 100 Aufsichtsbeamten in die Rente. Hessen geht davon aus, dass eine mittlere zweistellige Zahl neuer Beamter gebraucht wird, bildet derzeit aber lediglich elf Personen aus.« Aber die Ergebnisse der Abfrage zeigen auch: Andere Länder wie Bremen oder Sachsen-Anhalt erreichen die Fünf-Prozent-Quote dagegen schon jetzt.
Und wieder einmal werden wir Zeugen, wie eine sicher gut gemeinte Absicht unter die Räder des Föderalismus gepaart mit Unterausstattung gerät:
»Zwar hat die Bundesregierung eine neue Bundesfachstelle „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ geschaffen, mit fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und einem Jahresbudget von 1,6 Millionen Euro. Doch diese wird sich in den ersten vier Jahren vor allem damit beschäftigen, die Daten der Länder zu vereinheitlichen, ehe sie 2026 erstmals offiziell berechnen wird, wer die vorgeschriebene Mindestquote erfüllt – und wer nicht. Bisher steht noch nicht einmal fest, wie genau eine Kontrolle aussehen muss, um am Ende für die Quote gezählt zu werden. Die Länder und der Bund beraten noch über eine entsprechende Verwaltungsvorschrift.«
Das lässt nicht viel bis gar nichts erwarten – außer ein oft erlebtes am ausgestreckten Arm verhungern lassen.
Deutliche Kritik kommt von Arbeitsschutz-Experten: »Schon jetzt sei „eine sofortige Korrektur der Personalplanung“ nötig, meint Wolfhard Kohte, Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialforschung Halle. Doch diese sei „in der Mehrzahl der Bundesländer noch nicht eingeleitet worden; sie bedarf auch der Korrektur der Haushaltspläne und der finanziellen und digitalen Ausstattung der Behörden“. Zudem müsse der Bund handeln und dürfe „diesen Defiziten nicht tatenlos zusehen“.«
Und was sagen die, die seit dem vergangenen Jahr in der Regierung sitzen?
»Der SPD-Arbeitsexperte Michael Gerdes erklärt auf Nachfrage, dass eine Zwischenprüfung vor 2026 sinnvoll gewesen wäre, die Bundesregierung diesen Schritt damals im Gesetzgebungsprozess aber verpasst habe. „Das jetzt im Nachhinein zu machen, ist schwierig“, sagt Gerdes. Beate Müller-Gemmeke von den Grünen verteidigt das Gesetz und das Vorgehen der Bundesregierung und sieht ähnlich wie Gerdes vor allem die Länder in der Pflicht. Der FDP geht das Gesetz dagegen sogar zu weit. Das Gesetz stelle Betriebe unter Generalverdacht, statt zielgenaue Maßnahmen zu ergreifen, schreibt der Abgeordnete Carl-Julius Cronenberg.«
Über den Tellerrand hinaus will offensichtlich keiner denken. Insofern kann und muss auch im Juni 2022 erneut das wieder aufgerufen werden, was hier bereits 2018 so formuliert wurde:
Man »könnte … auch darauf hinweisen, dass die enorme Zersplitterung der Arbeitsschutzlandschaft und das föderale Durcheinander mit dazu beitragen, dass wir erhebliche strukturelle Probleme zuungunsten der Arbeitnehmer zu verzeichnen haben und dass wir wieder einmal lernen müssen, wie wichtig eine „große Lösung“ wäre, also eine schlagkräftige Arbeitsbehörde zu schaffen und zu haben, die alle Teilbereiche vernünftig und mit entsprechendem Organisationswissen hinterlegt bearbeiten müsste.«