In der öffentlichen Berichterstattung über „die“ Pflege geht viel durcheinander, beispielsweise die Vermischung von Krankenhaus- und Alten- bzw. Langzeitpflege. Und wenn über die Altenpflege berichtet wird, dann geht es meistens um die Situation in den Pflegeheimen. Deutlich seltener wird über die vielen Menschen in den ambulanten Pflegediensten berichtet. Und zuweilen eher als eine große „black box“ kommt die häusliche Pflege daher. Und allein das ist schon eine groteske Verzerrung der Realitäten, was man an dem Vergleich zweier Anteilswerte verdeutlichen kann: Über 4 Millionen Menschen in Deutschland gelten als pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI). Vier von fünf der Pflegebedürftigen (80 Prozent bzw. 3,31 Millionen) wurden zu Hause versorgt, so die veraltete aktuelle Pflegestatistik des Bundes vom Jahresende 2019 – „nur“ 20 Prozent in den Pflegeheimen unseres Landes.
➔ Wir haben es hier mit einer im wahrsten Sinne des Wortes „beweglichen“ Zahl zu tun. So berichtet das Bundesgesundheitsministerium – Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung (Stand April 2022) – für das Jahresende 2021 von 3.763.305 ambulanten Leistungsbeziehern in der sozialen Pflegeversicherung (hinzu kamen 218.332 in der privaten Pflege-Pflichtversicherung, Stand: Jahresende 2020). Ende 2021 waren es also bereits über vier Millionen Menschen, die ambulante Pflegeleistungen bezogen haben. Zu den stationären Leistungsempfängern werden 843.185 (plus 54.358 aus der privaten Pflegeversicherung) gemeldet, in den 842.185 Heimbewohner/innen sind 141.126 Leistungsempfänger in Einrichtungen der Eingliederungshilfe enthalten.
Den größten Teil der Sorgearbeit übernehmen pflegende Angehörige – ganz überwiegend handelt es sich hierbei um Frauen. Nun ist es – eigentlich – so, dass über die Jahre durchaus Leistungen bzw. Leistungsansprüche gerade für die häusliche Pflege ausgeweitet wurden. In Verbindung mit Verbesserungen bei dem Zugangskriterium Pflegebedürftigkeit hat das zu einer erheblichen Ausweitung der Nachfrage nach diesen Leistungen geführt. Das ist sicher einer der Hauptfaktoren, der im Zusammenspiel mit dem sich ausweitenden Fachkräftemangel dazu beiträgt, dass die ambulanten Pflegedienste zunehmend nicht mehr in der Lage sind, die Nachfragen nach ihren Leistungen bedienen zu können und entsprechende Anfragen immer öfter abgelehnt werden (müssen).
Und von interessierter Seite wird in diesem Kontext darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber doch zahlreiche Entlastungsangebote mit Leistungsanspruch in das hier einschlägige SGB XI aufgenommen hat, damit die häusliche Pflege, die allein, und partieller Unterstützung eines Pflegedienstes, manchmal auch unter Rückgriff auf osteuropäische Betreuungskräfte von pflegenden Angehörigen bestritten wird, gestärkt wird. Man sei sich der Bedeutung der häuslichen Pflege und der dort tagtäglich erbrachten Leistungen bewusst und wollen den dort Engagierten etwas Gutes tun.
Und dann sowas: »Laut einer Studie verfallen in Deutschland jährlich Leistungsansprüche von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen im Wert von mindestens zwölf Milliarden Euro.« Auf was bezieht sich dieser gewaltige Betrag?
➔ Wissenschaftler der Hochschule Osnabrück haben errechnet, »dass je nach Art der Pflegeleistungen zwischen 62 und 93 Prozent nicht abgerufen werden. Finanziell verfielen allein bei drei wichtigen Hilfsangeboten fast zwölf Milliarden Euro. So stünden monatlich 125 Euro für die Unterstützung im Haushalt zur Verfügung. 80 Prozent der Pflegebedürftigen riefen diesen Betrag nicht ab, damit entgingen ihnen jährlich knapp vier Milliarden Euro … Nicht in Anspruch genommen werden … auch Leistungen, wenn Pflegende ausfallen und vertreten werden könnten: In 70 Prozent der Fälle nutzten Pflegebedürftige und Pflegende diese Möglichkeit der Verhinderungspflege nicht. Hier würden Ansprüche von 3,4 Milliarden Euro nicht wahrgenommen. Weitere 4,6 Milliarden verfielen, weil die Kurzzeitpflege, die Angehörigen bei Krankheit oder zur Erholung eine Auszeit ermöglichen soll, von 86 Prozent noch nie beantragt worden sei.«
Das kann man diesem Bericht unter der Überschrift Leistungsansprüche bleiben oft ungenutzt entnehmen – es handelt sich um ein zentrales Ergebnis der mit 56.000 Befragten bisher größten Studie zur häuslichen Pflege in Deutschland, die der Sozialverband VdK in Auftrag gegeben hat.
Hier das Original der erwähnten neuen Studie:
Andreas Büscher et al. (2022): Zu Hause pflegen – zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Die VdK-Pflegestudie. Dritter Zwischenbericht, Osnabrück: Hochschule Osnabrück, Mai 2022
Dass bürokratische Hürden oft zu hoch sind und dringender Änderungsbedarf besteht zeigen die Ergebnisse der Studie eindringlich. Vgl. dazu auch die Aufarbeitung zentraler Studienergebnisse und die Ableitung politischer Forderungen: Nächstenpflege: Alleingelassen und in Bürokratie erstickt. Zentrale Studienergebnisse und Forderungen des Sozialverbands VdK.
Neben dem Pflegegeld1, das die meisten in Anspruch nehmen (unter den Befragten der Studie waren das 82 Prozent), gibt es einen bunten Strauß an Unterstützungsleistungen, die die Pflegebedürftigen beanspruchen können und die pflegende Angehörige entlasten sollen. Doch diese werden kaum genutzt:
➞ 93 Prozent haben bisher keinen Zugang zur Tagespflege gefunden.
➞ 86 Prozent haben noch keine Kurzzeitpflege genossen.
➞ 80 Prozent rufen den Entlastungsbetrag nicht ab.
➞ 70 Prozent verwenden die zustehende Verhinderungspflege nicht.
➞ 62 Prozent nutzen keinen Pflegedienst.
1 Voraussetzung für den Bezug von Pflegegeld ist, dass die häusliche Pflege selbst sichergestellt ist, zum Beispiel durch Angehörige oder andere ehrenamtlich tätige Pflegepersonen, und mindestens Pflegegrad 2 vorliegt. Das Pflegegeld wird der pflegebedürftigen Person von der Pflegekasse überwiesen. Die Leistungshöhe ist gestaffelt von Pflegegrad 2 bis 5: 316, 545, 728 und 901 Euro pro Monat. Es wird entweder das Pflegegeld oder es werden ambulante Pflegesachleistungen gewährt. Beide Leistungen können jedoch auch miteinander kombiniert werden (sogenannte Kombinationsleistung). Das Pflegegeld vermindert sich dann anteilig (prozentual) im Verhältnis zum Wert der in dem jeweiligen Monat in Anspruch genommenen ambulanten Pflegesachleistungen.
Wie kann es zu einer derartig ausgeprägten Nicht-Inanspruchnahme kommen? Der VdK fasst das so zusammen: »Stolpersteine – zu wenig Geld, zu wenig Angebote, zu viel Bürokratie, zu wenig Beratung.«
Mit Bezug auf die 56.000 Befragten wird hervorgehoben:
»Der Wunsch nach mehr Unterstützung ist groß. So geben etwa 84 Prozent an, mehr Verhinderungspflege, 77 Prozent mehr Hilfe bei der Kurzzeitpflege zu benötigen. Doch dieser Wunsch bleibt oft unerfüllt – aus verschiedenen Gründen. Über die Hälfte der Befragten gibt an, dass bei dem Einsatz eines Pflegedienstes (56 Prozent), bei der Tagespflege (52 Prozent), bei der Verhinderungspflege (57 Prozent) und der Kurzzeitpflege (57 Prozent), zu viel dazu bezahlt werden muss. Zudem ist nicht gewünscht, dass aufgrund der notwendigen Zuzahlungen noch weniger vom Pflegegeld übrigbleibt.
Begrenzt wird die Inanspruchnahme von Leistungen auch durch das Angebot. Gerade bei der Verhinderungspflege (33 Prozent), Tagespflege (49 Prozent) und Kurzzeitpflege (56 Prozent) sowie Entlastungsbetrag gibt es nicht genug freie Kapazitäten vor Ort, wie die Befragten beklagen.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Um die 20 Prozent derjenigen, die mehr Verhinderungs- und Kurzzeitpflege wünschen, geben an, dass sie von dem Antragsverfahren und der Dauer des Prozederes abgeschreckt sind. Aus diesem Grund werden Leistungen oft gar nicht (mehr) beantragt. Auch sind die Strukturen, wer für was zuständig ist, nicht klar und viel zu kompliziert.«
Und besonders deutlich erkennbar wird der Stellenwert von Beratung:
»Die Pflegeversicherungsleistungen und -angebote sind zudem ein Gesetzesdschungel, unübersichtlich, komplex und missverständlich. Erhält der pflegende Angehörige keine Beratung, werden deutlich weniger und seltener Pflegeleistungen in Anspruch genommen. Wird beraten, steigt die Nutzung von Pflegeleistungen um ein Vielfaches – etwa bei der Tagespflege von 17 auf 83 Prozent. Ohne Wegweisung durch die bürokratische Welt der Pflegeversicherungsgesetze gehen Versicherte verloren.«
Und wie groß der Beratungsbedarf in diesem Bereich ist, soll hier beispielhaft an den offiziellen Erläuterungen zu den einzelnen Leistungsansprüchen gezeigt werden, die der Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer pflegenden Angehörigen dienen (sollen):
1 Es wird entweder das Pflegegeld oder es werden ambulante Pflegesachleistungen gewährt. Beide Leistungen können jedoch auch miteinander kombiniert werden (sogenannte Kombinationsleistung). Das Pflegegeld vermindert sich dann anteilig (prozentual) im Verhältnis zum Wert der in dem jeweiligen Monat in Anspruch genommenen ambulanten Pflegesachleistungen.
2 Pflegebedürftige mit mindestens Pflegegrad 2, die ihren Anspruch auf ambulante Pflegesachleistungen in dem jeweiligen Monat nicht oder nicht voll ausschöpfen, können bis zu 40 % des jeweiligen Leistungsbetrags der ambulanten Pflegesachleistung auch für die Erstattung von Aufwendungen für Leistungen der nach Landesrecht anerkannten Angebote zur Unterstützung im Alltag verwenden (Umwandlungsanspruch). Die Regelungen zur Kombinationsleistung finden entsprechende Anwendung.
3 Während der Verhinderungspflege wird bis zu 6 Wochen je Kalenderjahr und während der Kurzzeitpflege bis zu 8 Wochen je Kalenderjahr die Hälfte des bisher bezogenen (anteiligen) Pflegegeldes fortgewährt.
7 Der Entlastungsbetrag kann für Leistungen der Tages- oder Nachtpflege, Leistungen der Kurzzeitpflege, Leistungen der ambulanten Pflegedienste i.S. des § 36 SGB XI in den Pflegegraden 2 bis 5 jedoch nicht von Leistungen im Bereich der Selbstversorgung sowie Leistungen der nach Landesrecht anerkannten Angebote zur Unterstützung im Alltag.
4 Auf Nachweis können den nahen Angehörigen oder Haushaltsmitgliedern notwendige Aufwendungen (Verdienstausfall, Fahrkosten usw.) auch bis zu einem Gesamtleistungsbetrag von 1.612 Euro im Kalenderjahr erstattet werden. Bei Inanspruchnahme von Mitteln der Kurzzeitpflege (siehe 5) kann dieser Betrag auf bis zu 2.418 Euro im Kalenderjahr erhöht werden.
5 Der Leistungsbetrag kann um bis zu 806 Euro aus noch nicht in Anspruch genommenen Mitteln der Kurzzeitpflege auf insgesamt bis zu 2.418 Euro im Kalenderjahr erhöht werden. Der für die Verhinderungspflege in Anspruch genommene Erhöhungsbetrag wird auf den Leistungsbetrag für eine Kurzzeitpflege angerechnet.
6 Der Leistungsbetrag kann um bis zu 1.612 Euro aus noch nicht in Anspruch genommenen Mitteln der Verhinderungspflege auf insgesamt bis zu 3.386 Euro im Kalenderjahr erhöht werden. Der für die Kurzzeitpflege in Anspruch genommene Erhöhungsbetrag wird auf den Leistungsbetrag für eine Verhinderungspflege angerechnet.
Alles klar?
Der VdK kritisiert in einem Hintergrund-Papier: »Es ist extrem schwierig, Leistungen so zusammenzustellen, dass sie zur individuellen Situation passen. Die Pflegeleistungen sind komplex, bürokratisch, teilweise verzahnt, aber in absolut willkürlicher Art. So gibt es Anrechnungsmöglichkeiten der Leistungen untereinander, um eine Aufstockung zu ermöglichen. Dazu ist buchhalterisches Wissen von Vorteil, damit man den Überblick behält. Eine Kostprobe: Beispielsweise kann man 40 Prozent der nichtgenutzten ambulanten Pflegesachleitung/Kombileistung/Pflegegeld auf den Entlastungsbetrag übertragen lassen. Die nicht genutzte Verhinderungspflege kann in voller Höhe auf die Kurzzeitpflege übertragen werden. Aber andersherum kann man die Verhinderungspflege nicht mit 100 Prozent Kurzzeitpflege aufstocken, sondern nur bis zum Betrag von 806 Euro. Der Entlastungsbetrag kann angespart warden, aber muss im darauffolgenden Jahr bis Ende Juni verbraucht werden. Er kann beispielsweise außer zur Finanzierung von hauswirtschaftlicher Unterstützung und Betreuung auch zur Reduzierung der Kosten der Kurzzeit-, aber auch Tagespflege eingesetzt werden.«
Und ein zweites Beispiel wird vom VdK angeführt: die Kurzzeitpflege. »Hier ist der Leistungsbetrag von 1.774 Euro über alle Pflegegrade hinweg gleich. Aber mit höherem Pflegegrad verteuert sich die Kurzzeitpflege exponentiell. Deshalb bekommen Personen mit einer schwereren Pflegebedürftigkeit weit weniger Tage Kurzzeitpflege finanziert als jemand mit Pflegegrad 2. Absurd, weil gerade Angehörige von schwerer Pflegebedürftigen mehr Tage Kurzzeitpflege benötigen. Die privat zu tragenden Eigenanteile sind für manche, gerade ärmere Haushalte, ein Hemmschuh zur Inanspruchnahme.«
Und in der Lebenswirklichkeit der Betroffenen werden teilweise erhebliche Zugangssperren aufgebaut (hinter denen möglicherweise durchaus eine gute Absicht gestanden haben mag, als man sie in die Welt gesetzt hat: der Schutz der geldausgebenden Pflegebedürftigen):
Beispiel Entlastungsbetrag: »Mit diesem kann hauswirtschaftliche Unterstützung und Betreuung „eingekauft“ werden. Die Ausgestaltung wurde den Ländern übertragen. Das führte dazu, dass die Länder mitunter absurde Zugangsvoraussetzungen an die Dienstleister stellen (Fortbildung mit bis zu 60 Stunden für hauswirtschaftliche Hilfe). Pflegedienste erlangen ohne Weiteres diese Voraussetzungen, aber niedrigschwellige Hilfe- und Dienstleister sind außen vor und das verknappt die Anzahl an Anbieternenorm. So enorm, dass es in weiten Teilen Deutschlands unmöglich ist, den Entlastungsbetrag zu nutzen.«
Und was sollte anders sein? Zu den VdK-Forderungen
Der Sozialverband VdK fordert
➔ ein Nächstenpflege-Budget, in dem die Kurzzeit-, Verhinderungs- und Tagespflege sowie der Entlastungsbetrag zusammengefasst werden. Pflege-Haushalte wissen, was gut für sie ist und wie viel sie von welcher Leistung benötigen. Sie müssen deshalb über die Verwendung selbst bestimmen können.
➔ Das Nächstenpflege-Budget muss auch für unprofessionelle Helfende eingesetzt werden können. Pflege-Haushalte wissen, wer ihnen am besten helfen kann. Sie brauchen „mehr Nächste für die Nächstenpflege“ – das kann die Nachbarin, das kann aber auch ein Cousin sein.
➔ Das Nächstenpflege-Budget muss unkompliziert abrufbar sein. Die Zusammenfassung der einzelnen Leistungen stoppt den Bürokratie-Irrsinn.
➔ eine unabhängige Pflegeberatung vor Ort für alle.
➔ den Anspruch auf einen Tagespflegeplatz – genau wie es ihn auf einen Kindergartenplatz gibt.