Die Sicherung des Existenzminimums durch einen zeitnahen Inflationsausgleich in der Grundsicherung? Vom Bundesverfassungsgericht auf die Antragsebene im Bundestag

Der Gesetzgeber hat … Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht.
(BVerfG 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 ua, Rn. 140)

Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten.
(BVerfG 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 ua, Rn. 144)

Haben wir mittlerweile eine Preissteigerung erreicht, die dem entspricht, was das Bundesverfassungsgericht bewogen hat, in seinen Entscheidungen über die Frage einer möglichen Verfassungswidrigkeit des Verfahrens zur Anpassung der Regelbedarfe in der Grundsicherung (nach SGB II und XII) einen expliziten Handlungsauftrag an den Gesetzgeber zu verankern, der verhindern soll, dass eine Anpassung der Leistungen zur Sicherstellung des Existenzminimums auf die lange Bank geschoben wird? Das werden sicher einige bejahen (andere hingegen werden in eine semantische Exegese der Begrifflichkeit „extreme Preissteigerungen“ einsteigen).

Hinweis: In der Abbildung dargestellt ist die Entwicklung des VPI insgesamt, also der alle Haushalte umfassende Indikator für die Preissteigerungsrate. Der basiert auf einem umfangreichen Warenkorb. Man kann und muss davon ausgehen, dass die tatsächliche Preisentwicklung nach sozialen Gruppen unterschiedlich ausfällt, weil beispielsweise Hartz IV- oder Grundsicherung im Alter-Empfänger ein anderes Konsummuster haben als die oberen Einkommensgruppen. So ist beispielsweise der Anteil der Ausgaben für Lebensmittel – die von weit überdurchschnittlichen Preissteigerungsraten betroffen sind – bei den unteren Einkommensgruppen deutlich größer. Zugleich profitieren die weniger bis gar nicht von den die Durchschnittswerte senkenden Preisreduktionen, die es auch im Warenkorb für alle gibt.

Für den November des auslaufenden Jahres 2021 wird erwartet, dass die offizielle Inflationsrate gemessen am VPI die 5-Prozent-Hürde erreichen wird. Die Ökonomen streiten derweil darüber, ob wir es mit hohen Preissteigerungsraten zu tun haben, die nur vorübergehend sein werden – oder ob es diesmal zu einer Verfestigung und möglicherweise einer sich beschleunigenden Inflation kommt.

➞ Die hohen Inflationsraten des Jahres 2021 erklären sich zu einem Teil mit einem ungewöhnlich niedrigen Preisniveau im Vorjahr. Außerdem sind Sondereffekte am Werk, die nicht dauerhaft sein müssen. »Zu den gegenwärtig preistreibenden Sondereffekten zählen neben sehr stark steigenden Rohstoffpreisen auch Eng­pässe in der globalen Versorgung mit Gütern. Eine neue Analyse aus der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zeigt, wie sehr durch die Pandemie bedingte Störungen der internationalen Lieferketten das Preisgefüge durcheinandergebracht haben. Am Werk sind unter anderem Selbstverstärkungseffekte, weil In­dustrieunternehmen aus Furcht vor Lieferengpässen bei Vorprodukten Lager­be­stände aufbauen wollen. Die damit verbundenen zusätzlichen Bestellungen treiben die Preise der begehrten Vorprodukte, zum Beispiel Halbleiter, noch zu­sätzlich. Fachleute sprechen von einem „Peitscheneffekt“. Aber auch in ihrem Aus­maß unerwartete Nachfrageverschiebungen von Dienstleistungen zu Gütern durch Konsumenten tragen zu den Engpässen bei, die nach manchen Schätzungen im lau­fenden vierten Quartal 2021 ihren Hö­hepunkt erreichen könnten«, so Gerald Braunberger in seinem Artikel Die Inflation bleibt ein Rätsel. Das wurde eher für diejenigen sprechen, die von einer transitorischen Inflation ausgehen, die sich im vor uns liegenden Jahr wieder zurückbilden wird. Braunberger weist zugleich darauf hin: »Noch ist unklar, ob hohe Inflationsraten eine Episode bleiben oder zu einer dauerhaften Gefahr werden. Das akzeptiert nun sogar die EZB.« Diejenigen, die uns am Beginn einer längerfristigen Ära stei­genden Preisdrucks sehen, verweisen neben länger als gedacht anhaltenden Folgewirkungen der Corona-Krise auch auf die Politik des billigen Geldes der Notenbanken, insbesondere der Europäischen Zentralbank. Welches Fazit wird von Braunberger gezogen? »Die Daten geben noch immer keinen klaren Hinweis darauf, welche Sichtweise sich als richtig herausstellen wird.«

Während uns die ökonomische Expertise an dieser Stelle des Blicks in die Glaskugel also noch etwas ratlos zurücklässt, wird für viele Betroffene in der Grundsicherung der Ist-Zustand deutlich steigender Preise (wobei diese Preissteigerungen in den für diese Menschen besonders relevanten Bereichen wie Nahrungsmittel oder Energie überdurchschnittlich ausgeprägt sind) zu einem Problem. Das muss dann auch im Kontext der von der Noch-Bundesregierung bereits verkündeten Anhebung der Regelbedarfe in der Grundsicherung im kommenden Jahr gesehen werden – um stolze 0,76 Prozent sollen die Geldbeträge über alle Regelbedarfsstufen im Jahr 2022 angehoben werden, das sind 3 Euro mehr. Pro Monat:

Bereits im Oktober haben sich zahlreiche Sozialorganisationen zu Wort gemeldet und „versteckte Kürzungen am Existenzminimum“ durch die realen Kaufkraftverluste in Folge der mickrigen Erhöhung der Regelbedarfe kritisiert. In einem Aufruf wurde gefordert: »Es braucht eine rote Linie bei existenzsichernden Leistungen wie Hartz IV. Preissteigerungen müssen immer und zeitnah mindestens ausgeglichen werden. Es gilt umgehend zu handeln, um die versteckten Kürzungen bei den Ärmsten in unserer Gesellschaft zu stoppen.« Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Eine „versteckte“ Kürzung? Zur Kritik an der Regelbedarfsanpassung in der Grundsicherung und eine juristische Lanze in Richtung verfassungswidrige Unterdeckung des menschenwürdigen Existenzminimums vom 11. Oktober 2021.

Aber wie kommt die Bundesregierung zu den überschaubaren +0,76 Prozent? Werden die Regelbedarfe in der Grundsicherung nicht unter Berücksichtigung der Inflation angepasst? Da war doch was? Genau: Zugrunde gelegt wird bei der Fortschreibung ein Mischindex aus der Inflations- und Einkommensentwicklung. Die Entwicklung der Preise der regelbedarfsrelevanten Güter und Dienste geht mit 70 Prozent und die Entwicklung der Einkommen mit 30 Prozent in den Mischindex ein. Immerhin hat die Preissteigerung einen Anteil von 70 Prozent.

Aber man muss wissen: Die niedrige Anpassungsrate geht maßgeblich auf die niedrige Rate der Preisentwicklung Juli 2020 bis Juni 2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (Juli 2019 bis Juni 2020) in Höhe von 0,1 % zurück, dies wiederum ist vor allem durch die politisch herbeigeführte Senkung des Mehrwertsteuersatzes von 19 auf 16% und von 7 auf 5% in der Zeit vom 1.7. bis 31.12.2020 verursacht worden. Die nur vorübergehende Senkung der Mehrwertsteuer hat dazu geführt, dass die Regelbedarfe für das Jahr 2022 mit einer Preisänderungsrate angepasst werden, die schon zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens offensichtlich unrealistisch ist.

Die Kritiker an diesem Vorgehen haben zwischenzeitlich auch rechtswissenschaftliche Schützenhilfe bekommen:

➔ Anne Lenze (2021): Verfassungsrechtliches Kurzgutachten zur Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a SGB XII zum 1.1.2022, Darmstadt, 30. September 2021

Anne Lenze bilanziert am Ende ihres Kurzgutachtens (und nimmt dabei Bezug auf die am Anfang dieses Beitrags zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, vor allem die aus dem Jahr 2014):

»Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums ist umso geringer, je weiter er seinen Spielraum in den zurückliegenden Jahren ausgeübt hat: Da die Regelbedarfe nach Auffassung des BVerfG in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2014 schon am untersten Rand des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren lagen, muss die absehbare Kaufkraftminderung durch die aktuelle Preisentwicklung, die aber nach der Regelung des § 28 SGB XII de lege lata noch nicht zu berücksichtigen ist, umso dringlicher abgewendet werden, um ein weiteres Absinken der Regelbedarfe unter die Schwelle des menschenwürdigen Existenzminimums abzuwenden.«

Transfer der Kritik in den Deutschen Bundestag, zumindest als Antrag aus der bisherigen und zukünftigen Opposition

Die Noch-Bundesregierung, hier das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), dessen Hausherr aber mit großer Wahrscheinlichkeit auch der neuen Bundesregierung angehören wird, macht sich einen schlanken Fuß und bedient sich einer mehr als fragwürdigen Auslegung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts, worauf auch Anne Lenze in ihrer Expertise hingewiesen hat: »Die gesetzlich vorgeschriebene Methodik biete keinen Entscheidungsspielraum. Das Bundesverfassungsgericht habe die gesetzliche Grundlage wiederholt eingehend geprüft und für verfassungsgemäß befunden. Über mögliche Änderungen am System müsse die kommende Bundesregierung entscheiden.«

Zumindest eine Fraktion im Deutschen Bundestag hat die Kritik aufgegriffen und drängt angesichts des Zeitdrucks auf eine schnelle Korrektur der Anpassung der Regelbedarfe:

➔ Existenzminimum sichern – Inflationsausgleich bei Regelsätzen garantieren, Bundestags-Drucksache 20/100 vom 18.11.2021,

so ist der Antrag der Fraktion DIE LINKE überschrieben. »Der aktuell starke Anstieg der Preise von Lebensmitteln, Strom und anderen lebensnotwendigen Gütern muss … mindestens ausgeglichen werden, andernfalls wäre das verfassungsrechtliche Existenzminimum von rund sieben Millionen Menschen (5,5 Mio. in Hartz IV, eine Mio. in der Altersgrundsicherung und der Sozialhilfe sowie 400.000 mit Asylbewerberleistungen) verletzt … Schon die geltenden Regelsätze liegen laut Bundesverfassungsgericht an der „Grenze dessen, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert ist“ … Ohne Rechentricks müssten sie derzeit nicht bei 446 Euro, sondern bei 658 Euro zzgl. Stromkosten betragen … Eine weitere Senkung würde die verfassungs- rechtlichen Grenzen sprengen.«

»Die Regelsätze müssen daher zum 1.1.2022 mit einer Veränderungsrate von mindestens 5 Prozent fortgeschrieben werden, nur um den realen Preisanstieg auszugleichen«, so die Forderung im Antrag. Konkret wird gefordert

»die Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2022 aufzuheben und noch vor einer baldmöglichst vorzunehmenden armutsfesten Neuausrichtung der sozialen Grundsicherungssysteme sowie einer Berücksichtigung pandemiebedingter Mehrbedarfe einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die jährliche Fortschreibung der Regelbedarfe gem. § 28a SGB XII dergestalt regelt, dass
1. die Regelbedarfe zum 1.1.2022 mit einer der aktuellen Preisentwicklung entsprechenden Veränderungsrate, also in Höhe von mindestens fünf Prozent fortgeschrieben werden und
2. künftig sichergestellt wird, dass die Fortschreibung mindestens die Entwicklung der Preise der regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen auf Basis der aktuellsten verfügbaren Daten voll ausgleicht.«