Es ist kompliziert und für viele Menschen mehr als irritierend. Da verkündet der (noch und nur) geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hoffnungsvoll das Ende der pandemischen Notlage und gleichzeitig wird man konfrontiert mit Dauermeldungen über steigende Inzidenzen, gepaart mit Notrufen aus zahlreichen Krankenhäusern, dass bereits jetzt die Betten voll sind mit COVID-19-Patienten. Und wie in den Wellen der vergangenen Monaten richtet sich der besorgte Blick auf die Endpunkte der Corona-Pandemie, also auf die Intensivstationen. Man erlebt eine Wiederholung dessen, was wir auch im ersten Corona-Jahr erfahren haben: Die Warnung, dass gerade die Intensivstationen, die Corona-Patienten versorgen müssen, an ihr Limit geraten. Alles derzeit erscheint wie ein großer Déjà-vu-Moment.
»Pünktlich zum Herbst beginnen die Intensivmediziner zu warnen. Dieses Mal gibt es zwar Impfstoffe und viel Erfahrung – aber auch ein ganz anderes Problem«, so beginnt der Beitrag Nicht mehr viel Platz von Hanna Grabbe. Ihr Text beginnt mit diesem Schlaglicht: »Vergangenes Wochenende, sagt Uwe Janssens, sei ihm etwas passiert, das er noch nie erlebt habe – nicht mal in drei Wellen Corona-Pandemie. Dabei hat Janssens schon einiges erlebt: Der 61-Jährige leitet seit 16 Jahren die Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler, er sitzt im Präsidium der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und war bis Ende des vergangenen Jahres sogar ihr Chef. „Wir haben eine ganze Nacht lang mit einigen großen Zentren in unserer Umgebung telefoniert, um einen Intensivpatienten mit schwerer Covid-19-Lungenentzündung zu verlegen, den wir nicht weiter behandeln konnten“, erzählt Janssens. „Kein Krankenhaus konnte ihn aufnehmen.“ Erst im letzten Moment habe sich die Uni-Klinik Bonn bereit erklärt. Janssens sagt: „Der Mann wäre uns fast gestorben.“ Und dass die Sache „exemplarisch“ sei für die derzeitige Situation.«
Nun werden die einen oder anderen einwenden, dass das a) i diesem Fall sicher schlimm ist, aber b) eben einer dieser Einzelfälle, die wenn, dann anekdotische Evidenz haben. Ansonsten haben sich doch auch in den zurückliegenden drei Corona-Wellen die Mahnungen vor einem Kollaps der intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten als Übertreibung herausgestellt. Berücksichtigt man außerdem, dass anders als am Anfang nun viele geimpft seien, könne man auch jetzt, inmitten der vierten Welle, abwarten und man wird sehen, dass sich die Aufregung bald legen wird. Das mag vielleicht so sein, aber die derzeitigen Meldungen verweisen auf ein andauerndes Problem, das nicht einfach an den Haaren herbeigezogen erscheint.
Deutschlands größte Uni-Klinik, die Charité in Berlin, warnt vor Überlastung. Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des DIVI-Intensivregisters, schreibt, ebenfalls in dem sozialen Netzwerk: „Viele Krankenhäuser werden bald wieder aus dem Regelbetrieb rausmüssen.“
Aus Baden-Württemberg wird gemeldet: Situation auf Intensivstationen könnte sich bis Mitte November drastisch zuspitzen. Oder das hier: Klinikverbund Allgäu: Intensivstationen fast ausgelastet: »Die Intensivstationen des Klinikverbundes Allgäu sind aktuell nahezu ausgelastet … So dokumentiert der Verbund in Kempten eine stetige Auslastung von mehr als 90 Prozent. Daher komme man dort aktuell durch die zusätzlichen Covid-Patienten mit der „Intensiv-Stammbesetzung“ an die Kapazitätsgrenzen. Vereinzelt müssten daher Operationen verschoben werden.« Oder aus Bayern: Intensivstationen an der Belastungsgrenze: Corona-Lage in Bayern spitzt sich zu. So »meldeten 40 der 96 bayerischen Landkreise und kreisfreien Städte, weniger als 10 Prozent freie Intensivbetten zur Verfügung zu haben. In 23 Kommunen war kein einziges Intensivbett mehr frei.« Und auch aus Berlin kommen die fast identischen Meldungen: Krankenhäuser schlagen Alarm: Personalnot auf Intensivstationen spitzt sich zu. „Die Situation der Intensivpflege in Berlin ist zunehmend angespannt“, sagt Marc Schreiner, Geschäftsführer der Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG). „Wir können in Berlin zahlreiche Intensivbetten nicht vollständig betreiben und müssen Betten sperren, weil das Personal fehlt. Planbare Operationen und Eingriffe, soweit dies medizinisch vertretbar ist, werden bei anhaltender Entwicklung in absehbarer Zeit wieder verschoben werden müssen.“
Gut 2.100 Menschen mit Covid-19 wurden am Anfang dieser Woche auf deutschen Intensivstationen behandelt. Das sind ungefähr so viele wie vor einem Jahr um diese Zeit. Aber: »Noch sind diese Zahlen weit entfernt von den mehr als 5.000 Corona-Patienten, die während der zweiten und dritten Welle zeitweise gleichzeitig auf den Intensivstationen lagen. Auch diese Belastung haben die Krankenhäuser geschafft, irgendwie jedenfalls.« Aber Hanna Grabbe schiebt nach: »Doch im Vergleich zum Jahresbeginn gibt es auf den Intensivstationen nun einen entscheidenden Unterschied: weniger Betten. Oder konkreter: weniger betreibbare Betten. Es fehlt das Personal.«
Das qualifizierte Leute in einem erheblichen Umfang fehlen, kann man auch solchen im wahrsten Sinne des Wortes Hilferufen entnehmen: »Pflegefachpersonen der Notaufnahme des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) haben in einem Brandbrief die Klinikleitung um Hilfe gerufen. In dem Schreiben … beschreibt das Pflegepersonal katastrophale Zustände und erhebt schwere Vorwürfe gegen die Verantwortlichen«, so dieser Artikel: Pflegende der UKE-Notaufnahme schlagen Alarm. Werfen wir einen Blick in die beklagte Realität:
»Nach Aussagen der Pflegenden ist die Notaufnahme des UKE seit Wochen regelmäßig überfüllt. Selbst auf den Fluren gebe es für Patientinnen und Patienten kaum noch Platz … Neu eintreffende Patientinnen und Patienten könnten kaum versorgt werden, selbst wenn sie pflegebedürftig oder an Krebs erkrankt seien. Teilweise würde nicht bemerkt, wenn die Monitore wegen eines kritischen Zustands einer Patientin oder eines Patienten Alarm schlagen. Sogar Fluchtwege und Rettungswege seien teilweise versperrt oder nur schwer nutzbar, schreiben die besorgten Pflegenden in ihrem Brief.«
Ist das nur Panikmache – oder fehlen die Fachkräfte auf den Intensivstationen tatsächlich? Und wenn ja: Welchen Anteil hatten die besonderen Umstände in Zeiten von Corona daran?
Nun hat sich die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) zu Wort gemeldet mit dieser Botschaft: Weniger Intensivpflegefachkräfte durch extreme Corona-Belastungen. »Die Corona-Pandemie hat sich verschärfend auf den Pflegepersonalmangel auf den Intensivstationen der Krankenhäuser ausgewirkt.« Wie kommt die DKG auf solche Aussagen? Sie zitiert aus den Ergebnissen einer Ausarbeitung aus dem Deutschen Krankenhausinstitut (DKI):
➔ Karl Blum und Sabine Löffert (2021): Umfrage Oktober 2021: Abwanderungen aus der Intensivpflege, Düsseldorf: Deutsches Krankenhausinstitut (DKI), 29.10 2021
Was hat man in der repräsentativen Befragung, an der sich bundesweit 233 Krankenhäuser ab 50 Betten beteiligt haben, herausgefunden? »In fast drei Vierteln der deutschen Krankenhäuser mit Intensivbetten stehen aktuell weniger Intensivpflegekräfte zur Verfügung als noch am Jahresende 2020. Hauptgründe hierfür sind Kündigungen, interne Stellenwechsel oder Arbeitszeitreduktionen. Die Abwanderungen betreffen in gut einem Drittel der Kliniken bis zu 5 % des Intensivpflegepersonals und in knapp 30 % der Intensivbereiche zwischen 5 – 10 % der Pflegekräfte.« Die Hälfte der Krankenhäuser berichtet, dass 2021 die Abwanderungen aus der Intensivpflege im Vergleich zu den Vorjahren etwas oder deutlich zugenommen haben. »Die Abwanderungen sind eine wichtige Ursache dafür, dass in vielen Krankenhäusern die vorhandenen Intensivkapazitäten nicht ausgelastet werden können. 86 % der Häuser konnten seit Anfang des Jahres ihre Intensivbetten wegen Mangel an Pflegekräften nicht voll umfänglich betreiben. Gut die Hälfte der Befragten gibt an, dass dies oft oder sehr oft der Fall war.«
»Auch aktuell ist die Lage auf den Intensivstationen sehr angespannt. Derzeit kann mehr als jedes zweite Krankenhaus wegen fehlender Personalausstattung in Pflege oder Medizin Intensivbetten nicht betreiben. Die nicht betreibbaren Betten entsprechen knapp einem Viertel der laut Krankenhausplan verfügbaren Intensivkapazitäten der betroffenen Häuser.« Während große Krankenhäuser schon seit längeren große Stellenbesetzungsprobleme in der Intensivpflege haben, sind zunehmend auch kleinere und mittelgroße Häuser von Abwanderungen aus der Intensivpflege betroffen.
Zur Kompensation von Personalausfällen in der Intensivpflege setzen die Krankenhäuser vermehrt Pflegepersonal von den Normalstationen ein, um die Versorgung insbesondere von COVID-19-Patienten zu gewährleisten.
Derzeit kann mehr als jedes zweite Krankenhaus wegen fehlender Personalausstattung in Pflege oder Medizin Intensivbetten nicht betreiben. In den Großkrankenhäusern ab 500 Betten sind sogar 81 % der Befragten mit diesem Problem konfrontiert.
Fazit des Deutschen Krankenhausinstituts: »Schon im letzten Jahrzehnt hatten die Intensivstationen mit steigender Tendenz mit Stellenbesetzungsproblemen in der Intensivpflege zu kämpfen. Die Corona-Pandemie hat die Lage noch weiter verschärft … Für dieses Jahr haben 72 % der Häuser durch Kündigungen, interne Stellenwechsel oder Arbeitszeitreduktionen weniger Intensivpflegepersonal zur Verfügung als noch am Ende des letzten Jahres. Erschwerend kommen ggf. noch gestiegene Ausfallzeiten durch Krankheit infolge der Belastungen durch die Behandlung von Corona-Patienten hinzu.
Und Britta Beeger kommentiert unter der Überschrift: Viele Intensivpflegekräfte schmeißen hin: »Die Zahlen bestätigen, was Fachleute schon länger befürchten: Dass viele Intensivpflegekräfte aus Pflichtgefühl gegenüber Patienten und Kollegen in der Pandemie eine Zeit lang durchgehalten haben, irgendwann aber hinschmeißen könnten. Insbesondere in der zweiten, schweren Corona-Welle im vergangenen Winter litten sie nicht nur unter der psychisch und körperlich sehr anstrengenden Arbeit, dazu in voller Schutzmontur. Es machte sich auch zunehmend Frust breit, dass sich an den schon vor Corona schwierigen Arbeitsbedingungen selbst durch die große Aufmerksamkeit in der Pandemie nichts geändert hat. Zum Teil haben sie nun offenbar das Vertrauen verloren, dass das jemals passiert.«
Nur damit das nicht in Vergessenheit gerät bei der Fixierung auf tagesaktuelle Ereignisse: Die Problematik eines seit Jahren zunehmenden Pflegepersonalmangels auf den Intensivstationen wird durch die besonderen Belastungen und Folgewirkungen der Corona-Pandemie gleichsam geboostert, ist aber nicht „wegen“ oder „seit“ Corona ein Problem. Dazu wurde in der Prä-Pandemie-Zeit auch in diesem Blog immer wieder kritisch berichtet: Bereits seit Jahren wird auf die teilweise desaströs Personalausstattung in der Intensivpflege in deutschen Kliniken hingewiesen. Hier nur als ein Beispiel aus meinem am 28. Juli 2017 veröffentlichten Beitrag Eigentlich könnt ihr zufrieden sein. Oder doch nicht? Eine Studie zur Intensivpflege. Ein Lehrstück zu unterschiedlichen Wahrnehmungen der Pflegewelt: 53 Prozent der Kliniken haben Probleme Pflegestellen im Intensivbereich zu besetzen. Bundesweit sind in der Intensivpflege 3.150 Stellen vakant und können nicht besetzt werden. Das waren Ergebnisse des Gutachtens Personalsituation in der Intensivpflege und Intensivmedizin, das die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) beim Deutschen Krankenhausinstitut (DKI) in Auftrag gegeben hatte. Auch wenn die Vertretung der deutschen Krankenhäuser darauf hingewiesen hat, dass die intensivmedizinische Versorgung im Durchschnitt gut sei, wurde bereits damals erkennbar, dass die Personalschlüssel – gemessen an dem, was die Fachgesellschaften fordern – in den meisten Kliniken zu schlecht waren. Wohlgemerkt: Das war 2017.