Wieder auf die lange Bank schieben? Zur Ankündigung von Modellprojekten zur Übertragung ärztlicher Tätigkeiten auf Pflegefachpersonen

Es gibt immer wieder diese Meldungen, die so unscheinbar daherkommen, dass die meisten sie überlesen oder nur am Rande zur Kenntnis nehmen. Wie wäre es mit dieser Nachricht aus der Online-Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts: Übertragung ärztlicher Tätigkeiten soll in Modellprojekten erprobt werden: »Die Regierungsfraktionen wollen die Krankenkassen dazu verpflichten, in jedem Bundesland je­weils ein Modellvorhaben zur Übertragung von ärztlichen Tätigkeiten auf Pflegefachkräfte durchzuführen. Die Vorhaben sollen spätestens am 1. Januar 2023 beginnen. Das geht aus einem Änderungsantrag zum Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) hervor.« Endlich Bewegung in einem seit vielen Jahren diskutierten Thema, wird der eine oder andere denken.

Lesen wir weiter, was da auf den Weg gebracht werden soll: »In den Modellvorhaben sollen auch Standards für eine interprofessionelle Zusammenarbeit entwickelt werden. Einzelheiten zu den Modellvorhaben sollen die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die für die Wahrnehmung der Interessen von Pflegediensten maßgeblichen Spitzenorganisationen auf Bundesebene in einem Rahmenvertrag festlegen. Der Bundes­ärzte­kammer, der Bundespflegekammer und den Verbänden der Pflegeberufe auf Bundesebene soll Gelegenheit zu einer Stellungnahme gegeben werden. Der Rahmenvertrag soll unter anderem einen Katalog der ärztlichen Tätigkeiten enthalten, die von Pflege­fachkräften in den Modellvorhaben selbstständig durchgeführt werden können sowie Anforderungen an die hierfür erforderliche Qualifikation der Pflegefachkräfte.« Interessant wird es bei der Beschreibung der Zeitschiene, die hier geplant wird:

»Die Vorhaben sollen spätestens am 1. Januar 2023 beginnen … Die Modellvorhaben sollen höchstens vier Jahre laufen.«

Und nach dieser langen Zeit? »In einem Evaluationsbericht soll ein Vorschlag zur Übernahme der Modellvorhaben in die Regel­versorgung enthalten sein.« Was natürlich dann den Beginn einer neuen längeren Phase der Diskussion und – möglicherweise – Entscheidung markiert, ob und wie und wo man das in der Regelversorgung integriert.

Damit hat man wieder einmal eine Menge Zeit gewonnen, eine Strategie, die man zur Genüge kennt aus anderen höchst umstrittenen bzw. konflikthaften Handlungsfeldern des Gesundheitssystems. Da, wo besonders starke Interessen im Hinter- und Vordergrund Druck ausüben (können). Und dass es um ein solches Minenfeld geht, kann man schon an der Formulierung „Übertragung ärztlicher Tätigkeiten“ ablesen. Die Insider verbinden die dahinter stehende höchst dornige Debatte mit Termini wie Delegation und Substitution.

Bei der Delegation geht es vereinfacht gesagt um die Entlastung von Ärzten durch qualifizierte Pflegekräfte in der ambulanten und stationären Versorgung. Bei der Delegation wird „nur“ die Durchführungsverantwortung auf Pflegekräfte übertragen, also die Art und Weise der Erbringung, das heißt das „wie“, obliegt der Pflegekraft, das „ob“ der Leistung wird weiterhin vom Arzt veranlasst. Somit ist der Arzt immer unmittelbar eingebunden.

Eine ganz andere Hausnummer ist die Substitution. Erst im Rahmen der Substitution ärztlicher Leistungen kann ein Heilberufler eigenverantwortlich über das „ob“ entscheiden – eine absolute Voraussetzung für neue medizinische Versorgungsformen für Patienten. Andres formuliert: Bei der Substitution geht es um die Schaffung neuer Heilberufe verbunden mit einer Aufwertung der pflegerischen Tätigkeiten sowohl inhaltlich als auch finanziell. Das verweist auf eine deutlich weiterreichende Dimension des Ansatzes der Substitution.

Man kann sich vorstellen, was die Interessenvertreter der Ärzteschaft von den beiden Ansätzen halten und warum das in der Vergangenheit kaum bzw. nur im mehrfach verzögerten Zeitlupen-Tempo vorangekommen ist. Dabei wurde immer wieder auf die Notwendigkeit, aber auch auf die Sinnhaftigkeit eines substituierenden Ansatzes hingewiesen, sowohl hinsichtlich der Perspektive auf bessere Versorgungsstrukturen für die Patienten und die Pflegebedürftigen (vgl. beispielsweise zur Verknüpfung der beiden Ansätze mit dem Innovationsthema das Positionspapier von Gudrun Schaich-Walch und Stefan David: Delegation – Substitution – Innovation. Neue medizinische Versorgungsformen für eine alternde Gesellschaft – Chancen für ein längeres Leben zu Hause, Bonn 2012), die eigentlich im Mittelpunkt stehen sollte, wie aber auch mit Blick auf eine ebenfalls seit langem eingeforderte qualifikatorische Aufwertung gerade der Pflegeberufe, denn durch Substitution ist es möglich, einen professionellen Sprung zu machen, in dessen Gefolge auch eine Attraktivitätssteigerung der pflegerischen Qualifizierung wie auch eine Einbettung und Verankerung in akademische Strukturen unterstützt werden könnte. Die Betonung liegt auf dem Konjunktiv.

Man muss an dieser Stelle daran erinnern dürfen, wie lange schon diese Debatte geführt wird – und wie erfolgreich bisher das Abblocken entsprechender Weiterentwicklungen in der Aufgabenteilung zwischen den Gesundheitsberufen war.

Nehmen wir als ein Beispiel das Gutachten 2007 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, das unter der Überschrift „Kooperation und Verantwortung – Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung“ gestellt wurde (Bundestags-Drucksache 16/6339 vom 07.09.2007). Dort findet man ein eigenes langes Kapitel zu „Die Entwicklung der Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe als Beitrag zu einer effizienten und effektiven Gesundheitsversorgung“ (S. 41 ff.). Im Jahr 2007 wurde diese Empfehlung abgegeben:

»Eine Neuverteilung der Aufgaben zwischen den Gesundheitsberufen und insbesondere eine verstärkte Aufgabenübertragung an nicht-ärztliche Gesundheitsberufe ist mit einem Umdenken der verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen verbunden und erfordert einen langsamen Umgestaltungsprozess. In diesem Prozess ist auch immer wieder der Effekt einer Aufgabenneuverteilung zu evaluieren. Ein schrittweises Vorgehen scheint darum angebracht. Zunächst bietet es sich an, die bereits heute existierenden Möglichkeiten der Tätigkeitsübertragung an nicht- ärztliche Gesundheitsberufe verstärkt zu nutzen. Dies ist über den Weg der Delegation möglich … Um weiterreichende Modelle der Aufgabenverteilung, auch mit mehr Eigenständigkeit der nicht-ärztlichen Gesundheitsberufe, zu erproben, bedarf es jedoch einer neu zu schaffenden Option. Dies könnte beispielsweise in Modellvorhaben geschehen.« (S. 91) Das waren sie schon, die Modellvorhaben und dieser Vorschlag wurde 2007 ja nicht aus dem Hut gezaubert, sondern dem lag eine vorgängig seit Jahren geführte Diskussion zugrunde.

In dem Gutachten 2007 des Sachverständigenrates wurde bei dem Thema Delegation der Finger auf eine offene Wunde gelegt, die auch im Jahr 2021 sofort wieder aufgerufen wird (S. 91): »Bei verstärkter Übertragung von ärztlichen Aufgaben an nicht-ärztliche Gesundheitsberufe, insbesondere die Pflege, muss auch eine möglicherweise daraus resultierende Notwendigkeit zur Personalaufstockung bedacht werden. Denn durch die Delegation kommt es bei den Ärzten zwar zu einer Entlastung, unter den Delegationsempfängern hingegen steigt womöglich die Arbeitsbelastung durch die zusätzlichen Aufgaben. Es bedarf also entweder zusätzlichen Personals oder die Berufsgruppe, die die Tätigkeit über nimmt, muss ihrerseits Aufgaben an andere, beispielsweise die Pflegehilfe, abgeben können.«

Und in seinem 2009 in der Fachzeitschrift „Medizinrecht“ veröffentlichten Beitrag Delegation und Substitution ärztlicher Leistungen auf/durch nichtärztliches Personal weist Karl Otto Bergmann im Fazit ebenfalls darauf hin: »Die Übertragung von ärztlichen Tätigkeiten soll zur Entlastung der Ärzte führen, sie darf nicht zum Einsatz von „Billigkonkurrenz“ anstelle von Ärzten missbraucht werden, die medizinische Kompetenz der Ärzte ist einzubinden. Ziel muss die Konzentration der Ärzte auf die ärztlichen Kernkompetenzen sein. Die Belastung der anderen Berufsgruppe mit eben diesen Tätigkeiten setzt die Prüfung voraus, ob diese Gruppe nicht selbst einer Entlastung bedarf, so einer Tätigkeitsübertragung von Pflegekräften auf Pflegehilfskräfte oder andere Berufsgruppen. Die Steige­rung der Effizienz des Personaleinsatzes muss also mit einer gleichzeitigen Prozessoptimierung verbunden werden.« (Bergmann 2009: 10).

Die Formulierung in der neuen Ankündigung von Modellvorhaben – „Übertragung ärztlicher Tätigkeiten auf Pflegefachkräfte“ – löst durchaus verständlich bei vielen den Reflex aus, dass es um eine Entlastung der Ärzte und eine damit verbundene zusätzliche Belastung der Pflegefachpersonen geht, die dann auch noch nicht einmal autonom entscheiden und gestalten können, sondern die weiter auf Anweisung und „unter“ den Ärzten arbeiten sollen und müssen. Auf Twitter gab es dann auch sofort dadurch ausgelöst abwehrende Reaktionen nach dem Motto, jetzt sollen die sowieso schon unter Überlast arbeitenden Pflegekräfte auch noch bislang von Ärzten ausgeübte Tätigkeiten zusätzlich in ihren Rucksack packen – dabei kommt man doch angesichts des bestehenden Personal- und vor allem Fachkräftemangel noch nicht einmal dazu, die heute schon als pflegerische Tätigkeit definierten Aufgaben ordentlich erfüllen zu können. In der jetzigen Situation kann man sich gut vorstellen, dass eine solche abwehrende Haltung auf einen großen Resonanzboden stößt.

Auch wenn das unmittelbar verständlich ist, sollte man nicht verkennen, dass ein generelles Abblocken vor allem mit Blick auf die Möglichkeiten für eine Entwicklung der pflegerischen Profession kontraproduktiv ist – vor allem, wenn es um die Substitution geht. Gegen die wird ebenfalls aus einer – wenn auch nur kurzfristig – institutionenegoistisch nachvollziehbaren Sicht seitens der Ärztefunktionäre erbitterter Widerstand geleistet. Das war in den vergangenen Jahren durchgängig so, vgl. nur aus den vielen Berichten dazu dieses Beispiel aus dem Jahr 2015: Zu weit darf Arbeitsteilung nicht gehen: »Engere Zusammenarbeit ja, Substitution nein: So lässt sich die Einstellung vieler Ärztevertreter zur Übertragung ärztlicher Leistungen auf andere Gesundheitsberufe zusammenfassen.«

Exkurs: Aber es gibt doch schon lange diesen § 63 SGB V?

Im Jahr 2008 wurde infolge des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes (2008) sowohl eine Erweiterung des § 63 SGB V als auch des Krankenpflegegesetzes vorgenommen. Dadurch wurden Modellvorhaben nach § 63 Abs. 3c SGB V ermöglicht, die die Vermittlung von Kompetenzen zur Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten zum Ziel haben. Damit können so qualifizierte Pflegende im Sinne der Substitution heilkundliche Tätigkeiten übernehmen.

Wenn man sich die Formulierung des seit Jahren existenten § 63 Abs. 3c SGB V genauer anschaut (wie so oft hilft der direkte Blick in das Gesetz), dann wird man hinsichtlich der neuen Meldung eine Art Déjà-vu erleben, denn sort steht:
»Modellvorhaben nach Absatz 1 können eine Übertragung der ärztlichen Tätigkeiten, bei denen es sich um selbstständige Ausübung von Heilkunde handelt und für die die Angehörigen des im Pflegeberufegesetz geregelten Berufs auf Grundlage einer Ausbildung nach § 14 des Pflegeberufegesetzes qualifiziert sind, auf diese vorsehen. Die Krankenkassen und ihre Verbände sollen entsprechende Vorhaben spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2020 vereinbaren oder durchführen. Der Gemeinsame Bundesausschuss legt in Richtlinien fest, bei welchen Tätigkeiten eine Übertragung von Heilkunde auf die Angehörigen des in Satz 1 genannten Berufs im Rahmen von Modellvorhaben erfolgen kann. Vor der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses ist der Bundesärztekammer sowie den maßgeblichen Verbänden der Pflegeberufe Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Stellungnahmen sind in die Entscheidungen einzubeziehen.«
Die Formulierung der neuen Nachricht kommt einem vor diesem Hintergrund vor wie die Szenerie in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“.
Die angesprochene Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses wurde übrigens 2012 in die Welt gesetzt und sie nimmt eine doppelte Perspektive auf heilkundliche Tätigkeiten ein, und zwar „diagnosebezogen“ und „prozedurenbezogen“. Festgelegt wurden die Diagnosen Diabetes mellitus Typ 1, Diabetes mellitus Typ 2, Chronische Wunden (z. B. Ulcus cruris), (Verdacht auf) Demenz (nicht palliativ) sowie (Verdacht auf) Hypertonus (ohne Schwangerschaft). Bei den Prozeduren wurden übertragbare ärztliche Tätigkeiten wie Infusionstherapie und Injektionen, Stomatherapie, Tracheostoma-Management, Anlage und Versorgung einer Magensonde, Versorgung und Wechsel eines suprapubischen Blasenkatheters, Schmerztherapie und -management, Patienten-, Case-, Überleitungsmanagement und psychosoziale Versorgung definiert. Vgl. dazu und generell zum Thema ausführlicher diesen Beitrag:

➔ Gertrud Ayerle, Gero Langer und Gabriele Meyer (2020): Selbstständige Ausübung von Heilkunde durch Pflegekräfte, in: Klaus Jacobs et al. (Hrsg.), Pflege-Report 2019. Mehr Personal in der Langzeitpflege – aber woher?, Berlin 2020, S. 179-188

Bislang hat die Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) das Alleinstellungsmerkmal, ein Modellvorhaben nach § 63 Abs. 3c SGB V im Rahmen eines primärqualifizierenden Pflegestudiengangs umzusetzen (es handelt sich um den im Wintersemester 2016 gestarteten primärqualifizierenden Studiengang Evidenzbasierte Pflege). Im Studiengang werden aus den fünf diagnosebezogenen Bereichen der heilkundlichen Tätigkeiten, die in der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses enthalten sind, Kompetenzen zu Diabetes mellitus Typ 2 und chronischen Wunden bzw. Stoma theoretisch und praktisch vermittelt.

Insgesamt sehen wir also leider eine ziemliche Brache, was die Professionalisierung der Pflege in diesem Segment angeht. Das ist gerade im internationalen Vergleich beklagenswert: »In vielen Ländern ist die Implementierung des neuen Skill Mix, also die Mischung aus Gesundheitsberufen sowie die Mischung ihrer Fähigkeiten und Rollen, bereits weit fortgeschritten …; dies zeigt sich unter anderem daran, dass Pflegende teilweise die erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten (mit speziellen Erkrankungen) sind …, selbstständig behandeln und überweisen dürfen … oder beispielsweise als Doctor of Nursing Practice noch weiterreichende Kompetenzen erwerben … Deutschland kann hier von den Erfahrungen anderer europäischer Länder wie den Niederlanden, Großbritannien, Irland und Finnland bei der Entwicklung entsprechender Versorgungsmodelle sehr profitieren.« (Ayerle/Lange/Meyer 2020: 186).

Und seit Jahren liegen auch Vorschläge auf dem Tisch, wie man die Substitution deutlich voranbringen könnte – Ayerle et al. (2020) beziehen sich dabei auf die Vorschläge, die 2013 von der Robert Bosch Stiftung1 vorgelegt wurden: »In Deutschland bleiben insbesondere regulatorische Barrieren zu beseitigen: ein „Allgemeines Heilberufegesetz“ … könnte a) die erforderliche gesetzliche Grundlage für die unterschiedlich zugeteilten Aufgaben und Tätigkeitsbereiche von Pflegenden und Pflegenden mit heilkundlicher Kompetenz schaffen; b) eine eigenständige Leistungserbringung festschreiben, für die eine entsprechende Vergütung geregelt ist; und c) die Kooperation zwischen Pflegenden und anderen Gesundheitsberufen – auch haftungsrechtlich – regeln. Erweiterte Kompetenzen in der Heilkunde könnten darüber hinaus für die Tätigkeitsbereiche der Rehabilitation und Palliation … definiert werden und so ermöglichen, dass mehrere Berufsgruppen „entsprechend dem Gedanken von Poolkompetenz“ … situationsabhängig und flexibel die heilkundliche Versorgung sicherstellen können.«

1 Robert Bosch Stiftung (Hrsg.) (2013): Gesundheitsberufe neu denken, Gesundheitsberufe neu regeln. Grundsätze und Perspektiven – Eine Denkschrift der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart 2013

Fazit und Ausblick

Offensichtlich wird hier wieder einmal beim Thema Substitution versucht, die Sache auf die lange Bank zu schieben. Noch im vergangenen Jahr konnte man diese verheißungsvolle Nachricht lesen: Substitution ärztlicher Leistungen: Ergebnisse für Ende 2021 erwartet: »Ergebnisse des im Januar 2020 begonnen Strategieprozesses, in dem es auch um die Substitution ärztlicher Leistungen durch Pflegefachpersonen geht, werden voraus­sichtlich Ende 2021 vorliegen«, so wurde der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, zitiert. Und kurze Zeit später, im Mai 2020, wurde berichtet, dass Westerfellhaus ein neues Positionspapier vorgelegt hat, in dem er angesichts der Leistungen der Pflegekräfte in der Coronapandemie eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege fordert. In einem Artikel dazu findet man diesen Hinweis: »Westerfellhaus fordert …, dass Pflegekräften „gezielt und dauerhaft“ heilkundliche Auf­gaben übertragen werden, beispielsweise bei der Versorgung chronischer Wunden, Dia­be­tes oder Infusionstherapien. Zugleich müssten Fachkräfte stärker von einfachen pflege­rischen Verrichtungen und pflegefernen Hilfstätigkeiten entlastet werden.« Schaut man in das Original – Positionspapier „Mehr PflegeKRAFT 2.0“ – Pflege ist mehr als systemrelevant -, dann findet man dort unter der Überschrift „Mehr Verantwortung durch Heilkundeübertragung“ diesen Passus: »Fachkräfte können weit mehr als ärztliche Anordnungen ausführen. Die Corona-Gesetze zeigen, was sinnvoll und möglich ist. Aber auch nach Krisenzeiten müssen Pflegefachkräfte mehr Verantwortung behalten. Denn sie haben die Qualifikation dazu und müssen diese auch anwenden dürfen. Im Sinne einer modernen Aufgabenverteilung zwischen allen an der Versorgung beteiligten Gesundheitsberufen müssen gezielt und dauerhaft heilkundliche Aufgaben auf Pflegefachkräfte übertragen werden, beispielsweise bei der Versorgung chronischer Wunden, Diabetes oder Infusionstherapien. Gleichzeitig müssen Fachkräfte stärker von einfachen pflegerischen Verrichtungen und pflegefernen Hilfstätigkeiten entlastet werden. Hier bedarf es eines guten Qualifikationsmixes. Der Strategieprozess zur interprofessionellen Zusammenarbeit im Gesundheits- und Pflegebereich des Bundesministeriums für Gesundheit muss mit allen Partnern dazu zügig Ergebnisse liefern.«

Das mit dem „zügig Ergebnisse liefern“ lassen wir dann mal so im Raum stehen.

Vor diesem Hintergrund wäre die erneute Ankündigung von Modellvorhaben nur dann ein „Fortschritt“, wenn die Regierungsfraktionen mit der „Übertragung ärztlicher Tätigkeiten auf Pflegefachkräfte“ auch und vor allem Substitution meinen würden und nicht (nur) Delegation. Schon daran kann man zweifeln. Aber selbst wenn, dann lässt sich durchaus die These vertreten, dass hier mal wieder auf Zeit gespielt werden soll, dass man berechtigte Anfragen, wann es denn nun wie weiter geht mit dem Verweis auf die nun erst zu planenden und dann im nächsten Jahr wahrscheinlich beginnenden und dann möglicherweise bis zu vier Jahre laufenden Modellvorhaben ruhigstellen kann, so dass man nicht in den Ring steigen muss mit den Interessenverbänden im Gesundheitswesen.

Man kann das auch verstehen als eine Abarbeitung dessen, was im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD (2018) so vereinbart wurde: »Für die zukünftigen Herausforderungen des Gesundheitswesens ist die Aufgabenverteilung der Gesundheitsberufe neu zu justieren und den Gesundheitsfachberufen mehr Verantwortung zu übertragen. Die Ergebnisse der Modellprojekte der Heilberufe werden wir berücksichtigen.« (S. 101).

Insofern kann der Satz „Die Ergebnisse der Modellprojekte … werden wir berücksichtigen“ dann per copy und paste auch in einen neuen Koalitionsvertrag nach der kommenden Bundestagswahl am 26. September 2021 eingebaut werden und sich um weitere vier Jahre verlängern.

Das wäre allerdings für die Profession Pflege ein weiterer Schlag. Insgesamt stagniert die Pflegeprofession nach den Maßstäben einer an sich anzustrebenden Aufwärtsentwicklung und vor allem in der Langzeitpflege muss eine fortschreitende Deprofessionalisierung zur Kenntnis genommen werden, zu der dann auch Personalbedarfsberechnungen beitragen, die zwar eine erhebliche Unterdeckung konstatiert (zu den heutigen schlechten Pflegepersonalschlüsseln), diese aber meint ganz überwiegend mit Pflegehilfskräften decken zu können (weil man die noch kriegen kann und weil sie „günstiger“ sind).

Gerade ernsthafte, flächendeckende und regulatorische abgesicherte Substitutionen wären dringend erforderlich – nicht nur um attraktiver zu werden als Berufsbild für den immer härter werdenden Kampf um die weniger werdenden jungen Nachwuchskräfte. Sondern dann gibt es auch die Perspektive, über das qualifikatorische Moment den Druck in Richtung höhere Vergütungen zu erhöhen. Und schlussendlich stärken Substitutionen nicht nur das Fremd-, sondern auch das Selbstbild der Pflegefachpersonen. Wenn man nicht aufpasst, dann legen wir gerade wieder einmal für die nächsten Jahre die mögliche Entwicklungsdynamik in diesem Feld an die Kette der Modellprojektionitis. Das wäre ein weiterer Sargnagel für die Profession. Insofern sollten die Pflegekräfte selbst nicht mit gerade in diesen Zeiten verständlicher, aber kontraproduktiver Schnappatmung auf die Forderung nach einer Verlagerung bislang ärztlicher Tätigkeiten reagieren, wenn es denn wirklich ernst gemeint ist, also nicht auf eine von Kosteneffizienzoptimierung getriebene Delegation begrenzt wird, sondern die weiten Räume einer Substitution öffnet. Wenn.