Der zweite Corona-Tag der Arbeit. Anmerkungen zu schwierigen Zeiten (auch) für Gewerkschaften und ganz unterschiedlichen Perspektiven auf Erwerbsarbeit

Erneut konnten die Gewerkschaften ihre traditionellen – manche würden sagen tradierten – Veranstaltungen zum Tag der Arbeit am 1. Mai eines jeden Jahres aufgrund der Corona-Pandemie nicht so abhalten, wie man das eingeübt und über viele Jahre fortgeschrieben hat. Auch wenn das nur symbolisch gemeint ist – es kennzeichnet schwierige Zeiten, auch und gerade (?) für die Gewerkschaften. In der ersten Corona-Welle im vergangenen Jahr befanden sich zeitweilig sechs Millionen Arbeitnehmer in Kurzarbeit, es gab neben dieser Auffanglösung auch zahlreiche Entlassungen in den besonders von den Beschränkungen betroffenen Branchen, die ganz überwiegend diejenigen getroffen haben, die am unteren Ende der Einkommenshierarchie angesiedelt sind und die dann auch noch in einer im wahrsten Sinne des Wortes Minijob-Falle gefangen waren, denn die Minijobber wurden zuerst entlassen, da man sie nicht über Kurzarbeit auffangen konnte – zugleich haben sie aber auch keine Ansprüche auf die lohnabhängigen Sozialleistungen wie dem Arbeitslosengeld I.

Man muss sich die Größenordnung verdeutlichen: Im vergangenen Jahr haben mehr als eine Million Menschen ihre Arbeit verloren. Mehr als die Hälfte davon waren Minijobber: 477.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte verloren ihren Job. Für die geringfügige Beschäftigung schlug Corona im vergangenen Jahr mit einem Minus von 526.000 Jobs zu Buche, so die Antwort der Bundesregierung auf eine entsprechende Anfrage im Bundestag (vgl. dazu Mehr als eine Million Jobs verloren) Mit Blick auf die Jobverluste im ersten Corona-Jahr waren mit rund 398.000 Menschen bei Minijobs und regulären Jobs besonders Arbeitskräfte aus dem Gastgewerbe betroffen, also etwa aus den Bereichen Hotellerie und Gastronomie.

Das hat auch die Gewerkschaften verständlicherweise herausgefordert – und erneut, so kann man heute bilanzieren, haben sie mit Blick auf ihr Kerngeschäft, der Tarifpolitik, überaus verantwortungsvoll gehandelt, wenn man das aus einer volkswirtschaftlichen Perspektive zu beurteilen versucht.

Tarifpolitik und Arbeitskampfaktivitäten unter Corona-Bedingungen

Man muss die Rahmenbedingungen im vergangenen Jahr klar benennen: »Im Jahr 2020 stand auch die Tarifpolitik ganz im Zeichen der Corona-Pandemie und der damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Nachdem zur Bekämpfung der Pandemie im März 2020 ein umfassender gesellschaftlicher Lockdown verordnet wurde, erlebte die deutsche Wirtschaft zunächst einen historischen Einbruch, bei dem das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) im zweiten Quartal 2020 um fast 10 % zurückging. Nach den weitreichenden Lockerungen der Corona-Maßnahmen im Frühsommer 2020 hat sich die wirtschaftliche Entwicklung jedoch deutlich erholt, bevor es dann im November 2020 durch die erneuten Corona-Einschränkungen wieder zu einem – allerdings bislang vergleichsweise milden – Rückgang kam … Insgesamt erlebte die deutsche Wirtschaft im Jahr 2020 einen Wachstumseinbruch des BIP um 5,3 %. Damit bewegte sich die deutsche Wirtschaft auf einem vergleichbaren Niveau wie im letzten großen Krisenjahr 2009, wo das BIP um 5,6 % zurückging«, so Schulten et al. (2021): Tarifpolitischer Jahresbericht 2020. Tarifpolitik unter den Bedingungen der Corona-Pandemie. Und zu den Rahmenbedingungen gehört auch eine strukturelle wie auch eine krisenverlaufsbedingte Spaltung der Branchen und der von der Krise betroffenen Beschäftigten:

»Die Auswirkungen der Corona-Krise waren für die einzelnen Wirtschaftsbereiche sehr unterschiedlich: Besonders stark war der wirtschaftliche Einbruch zunächst in vielen Industriebranchen, die sowohl unter teilweise erheblichen Störungen in den internationalen Lieferketten als auch unter einem massiven Einbruch der (Export-)Nachfrage litten. In der zweiten Jahreshälfte kam es jedoch in vielen Industriebranchen zu einer deutlichen Erholung, die auch trotz erneut verschärfter Corona-Maßnahmen am Ende des Jahres anhielt. Unabhängig von der Corona-Krise befinden sich allerdings einige Branchen, wie vor allem die Automobilindustrie – die nach wie vor wichtigste Industriebranche in Deutschland – in einer grundlegenden Transformationsphase, die für viele Unternehmen mit großen ökonomischen Risiken und Unsicherheiten verbunden ist. Schließlich sind aufgrund des gesellschaftlichen Lockdowns und der anhaltenden Regelungen zur Pandemiebekämpfung auch viele Dienstleistungssektoren von der Krise betroffen. Hierzu gehören im besonderen Maße das Hotel- und Gaststättengewerbe, große Teile des Einzelhandels, die gesamte Kulturbranche und Kreativwirtschaft u. v. a. – allesamt Bereiche, in denen Unternehmen um ihre Existenz ringen.
Auf der anderen Seite gab es auch zahlreiche Wirtschaftsbereiche, die deutlich weniger von der Corona-Pandemie betroffen waren oder von dieser sogar in erheblichem Ausmaß profitiert haben. Zu Letzteren gehörten z. B. die Supermärkte und Drogerien, der Online-Handel und die Lieferdienste, die Online-Dienste und Softwareunternehmen und Teile der Nahrungsmittelindustrie. Schließlich hat die Pandemie auch sichtbar gemacht, dass viele Beschäftigtengruppen, obwohl sie in sogenannten „systemrelevanten“ Bereichen arbeiten, mitunter nur sehr geringe Löhne erhalten und vergleichsweise prekären Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen unterliegen.«

Und trotz dieser Mehrfach schwierigen Rahmenbedingungen sind die Gewerkschaften nicht in eine tarifpolitische Agonie abgeglitten, was auch die folgenden Zahlen verdeutlichen können:

»In der Tarifrunde 2020 wurden von den DGB-Gewerkschaften für insgesamt 10 Mio. Beschäf- tigte neue Tarifabschlüsse vereinbart. Weitere 8,8 Mio. Beschäftigte profitierten 2020 von Abschlüssen, die bereits 2019 oder früher vereinbart worden waren. Hierzu gehören auch größere Tarifbranchen, wie z.B. der Einzelhandel oder die Länder des öffentlichen Dienstes, für die 2020 keine Tarifverhandlungen geführt wurden.«

Und die Gewerkschaften sind dabei aus gesamtwirtschaftlicher (und betriebswirtschaftlicher) Sicht sehr verantwortungsbewusst vorgegangen – und ein besonderer Fokus lag vor allem auf dem Ziel einer Beschäftigungsssicherung:

»In vielen von der Krise betroffenen Bereichen haben die Gewerkschaften erst einmal auf eine Kündigung der bestehenden Tarifverträge verzichtet oder in Einklang mit den Arbeitgeberverbänden laufende Tarifverhandlungen verschoben, sodass die existierenden Tarifentgelte zunächst eingefroren wurden. In einigen Bereichen lag der Schwerpunkt auf Krisentarifverträgen, die sich vor allem darauf konzentrierten, die Folgen der Pandemie zu bewältigen und Beschäftigung zu sichern.«

➔ »Beispielsweise haben sich die Tarifvertragsparteien in der Metall- und Elektroindustrie im Rahmen eines „Solidar-Tarifvertrages“ auf den Abschluss eines kurzfristigen Krisenpaketes verständigt, bei dem die bestehenden Entgelte bis Ende des Jahres 2020 wieder in Kraft gesetzt wurden, während gleichzeitig neue Möglichkeiten zur betrieblichen Aufstockung von Kurzarbeitergeld sowie zusätzliche Betreuungstage für Beschäftigte mit Kindern eingeführt wurden. Auch in vielen anderen Branchen sind tarifvertragliche Regelungen zur Kurzarbeit und zur betrieblichen Aufstockung von Kurzarbeitergeld erneuert und verbessert bzw. teilweise erstmals vereinbart worden. Hinzu kommen betriebliche Ergänzungstarifverträge, die die tarifvertraglichen Instrumente zur Beschäftigungssicherung anwenden und z. B. weitere temporäre Arbeitszeitverkürzungen (ohne oder mit Teillohnausgleich) beinhalten, um betriebsbedingte Kündigungen auszuschließen«, so Schulten et al. (2021: 4).

Erschwerend kommt hinzu, dass die Gewerkschaften erheblich eingeschränkt waren und sind durch das „social distancing“, vor allem durch das Homeoffice eines Teils der Beschäftigten, während diejenigen, die gezwungen waren und sind, weiter in den Betrieben und vor allem im Kontakt mit vielen anderen arbeiten (müssen), zugleich die Beschäftigtengruppen sind, bei denen der gewerkschaftliche Organisationsgrad – nett formuliert – mehr als ausbaufähig ist.

Und den Blick über die uns immer noch im Schraubstock haltende Corona-Krise hinaus gerichtet, stellen sich zwei Herausforderungen, die schon vor Corona da waren und die „nach“ Corona umso heftiger wieder an die Oberfläche drücken werden: Zum einen die Frage, wie man die Ausbreitung der Tariflosigkeit in vielen Dienstleistungsbereichen (also da, wo noch Beschäftigungszuwächse realisiert werden) und dabei als ein Faktor die teilweise nur als grottenschlecht zu bezeichnenden Organisationsgrade unter den Beschäftigten, die überdurchschnittlich im Niedriglohnbereich unterwegs sind und gerade am dringendsten auf kollektive Interessenvertretung angewiesen sind bzw. wären) stoppen und umkehren kann. Man denke hier nur an die bedeutsamen Bereiche wie Altenpflege oder Einzelhandel. Auf der anderen Seite gibt es auch im bislang so gut besetzten Kernbereich gewerkschaftlicher Organisation in den klassischen Industriezweigen enorme Herausforderungen durch den Strukturwandel und möglicherweise anstehende Strukturbrüche (was dann oft sehr abstrakt und irgendwie schmerzfreie Operationen signalisierend als „sozial-ökologische Transformation“ herumgereicht wird). Dazu sehr aufschlussreich der programmatische Text von Hans-Jürgen Urban aus dem Vorstand der IG Metall: „Wir brauchen einen radikalen Realismus“ und den dort erkennbaren Versuch, irgendwie Brücken zu schlagen zwischen den Insidern des bisherigen Systems und den Forderungen anderer Gruppen angesichts der Herausforderungen durch den Klimawandel.

Aber wieder zurück in das hinter uns liegende erste Corona-Jahr und das, was Gewerkschaften dennoch getan haben: Streiks unter den Bedingungen der Corona-Pandemie. Mit rund 342.000 ausgefallenen Arbeitstagen lag das Arbeitskampfvolumen nur knapp unter dem Niveau von 2019. Die Anzahl der an Arbeitskämpfen beteiligten Arbeitnehmer:innen lag mit 276.000 sogar leicht oberhalb des Vorjahres. Für 2021 ist wieder mit einer deutlichen Zunahme des Arbeitskampfvolumens zu rechnen, so die WSI Arbeitskampfbilanz 2020 aus dem gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI).

»Unter den Bedingungen eines umfassenden gesellschaftlichen Lockdowns wurden im Frühjahr viele Tarifverhandlungen zunächst ausgesetzt. Es gab eine Art „Streikpause“, in der – von sehr wenigen Einzelfällen abgesehen – für einen Zeitraum von zweieinhalb Monaten sämtliche Arbeitskampfmaßnahmen eingestellt wurden. Im Laufe des Jahres hat sich dann jedoch gezeigt, dass auch unter Corona-Bedingungen die Interessen- und Verteilungskonflikte nicht verschwinden, sondern im Gegenteil vielfach sogar besonders akzentuiert werden. Infolgedessen haben auch die Streikaktivitäten ab dem Frühsommer 2020 wieder zugenommen. Zu den umfangreichsten Arbeitskampfmaßnahmen gehörten im Herbst 2020 die Warnstreiks im öffentlichen Dienst bei Bund und Kommuen sowie im öffentlichen Nahverkehr … Bei der überwiegenden Mehrheit aller Arbeitskämpfe handelte es sich jedoch auch 2020 wie in den Vorjahren um firmenspezifische Tarifkonflikte. Die meisten dieser betrieblichen Auseinandersetzungen zielen auf die Herstellung einer Tarifbindung oder die Verbesserung eines Haustarifvertrags ab. Im Jahr 2020 (warn-)streikten Belegschaften angesichts drohender Schließungen allerdings auch vermehrt für das Ziel eines Sozialtarifvertrags. Hierbei handelt es um einen Tarifvertrag, mit dem die Folgen von Standortschließungen oder -verlagerungen abgemildert werden sollen.«

In der WSI Arbeitskampfbilanz 2020 gibt es auch einen Ausblick auf das laufende Jahr 2021: »Dabei rückt die Frage, wer denn die Kosten der Pandemie trägt, immer mehr in den Mittelpunkt und prägt damit auch die Verteilungskonflikte zwischen den Tarifvertragsparteien. Exemplarisch zeigte sich die zunehmende Konfliktintensität bereits in den Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie, die in den ersten Monaten des Jahres 2021 von zahleichen (sic!) Warnstreiks begleitet wurden, an denen sich nach Angaben der IG Metall (2021) mehr als 800.000 Beschäftigte beteiligt haben. Bereits diese Zahl deutet darauf hin, dass das Arbeitskampfvolumen im Jahr 2021 deutlich größer als in den Vorjahren ausfallen dürfte.
Während der Tarifkonflikt in der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie bereits beigelegt ist, halten die Tarifauseinandersetzungen in Ostdeutschland aufgrund der ungelösten Frage der längeren Wochenarbeitszeiten nach wie vor an und können auch von weiteren Arbeitskampfmaßnahmen begleitet werden. Hinzu kommen 2021 weitere große Tarifverhandlungen wie z.B. im Einzelhandel, im Groß- und Außenhandel, im Bauhauptgewerbe und im öffentlichen Dienst bei den Ländern, die erhebliche Konfliktpotentiale in sich bergen und höchstwahrscheinlich auch mit Arbeitskampmaßnahmen einhergehen werden. Des Weiteren ist auch 2021 mit zahlreichen kleinen Konflikten auf betrieblicher Ebene zu rechnen, in denen sich die Beschäftigten der anhaltenden Tarifflucht und Tarifverweigerung von Unternehmen entgegenstellen.« (S. 12).

Diesseits und jenseits der gewerkschaftlichen Perspektive: Von denjenigen, die sich abstrampeln, aber nie auf die sichere Seite kommen über Erwerbsarbeit zwischen schädlichem Tun und Bullshit-Jobs bis hin zu Arbeitsalltagen in sozialen Netzwerken

Rund um den diesjährigen 1. Mai sind erneut ganz unterschiedliche Beiträge veröffentlicht worden, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Arbeit bzw. Erwerbsarbeit auseinandersetzen. Aus der Vielzahl dessen, was da publiziert wurde, drei Beispiele:

Zur neuen „Working Class“ zählt die Journalistin Julia Friedrichs Menschen, die alleine von ihrem Arbeitsnetto leben und nicht in der Lage sind, Rücklagen aufzubauen. In Deutschland seien das ungefähr 50 Prozent der Arbeitenden, so Friedrichs im Gespräch mit dem Deutschlandfunk: Die neue „Working Class“: „Sie strampeln sich wahnsinnig ab, aber sie kommen nie auf die sichere Seite“. Darin geht es um ihr neues Buch „Working Class“, Untertitel: „Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“.

»In ihrem Buch ist das beispielsweise Sait, „der in Berlin die U-Bahnhöfe reinigt – für 10,56 Euro brutto die Stunde“. Oder Alexandra und Richard, die als Musikschullehrer auf Honorarbasis arbeiten, 110 Schüler pro Woche unterrichten und nur Geld bekommen, wenn die Stunden stattfinden, also „wenn sie nicht krank sind, keine Ferien sind und auch keine Pandemie“. „Die landen bei ungefähr 3.000 Euro netto pro Monat. Das ist natürlich Geld, mit dem man nicht arm ist. Die können davon ihre vierköpfige Familie ernähren. Aber sie können eben keinen Wohlstand aufbauen, keinen Puffer, kein Vermögen“, führt Friedrichs aus.« Welche Menschen verbergen sich hinter der neuen „Working Class“? »Sie arbeiteten oft in Dienstleistungsberufen, seien oft Frauen und oft auch Menschen mit Migrationsgeschichte – insgesamt „eine sehr vielfältige und diverse Gruppe“. Dazu zählten etwa 50 Prozent der Menschen, die in Deutschland arbeiten. Sie hätten weder kein Vermögen noch Rücklagen.« Und das alte Aufstiegsversprechen, zumindest eine kleine, schrittweise Verbesserung Jahr für Jahr, das zählt hier immer weniger, oft ist das Gegenteil der Fall: »Die Angehörigen der „Working Class verdienten heute – kaufkraftbereinigt – zum Teil weniger als ihre Eltern. Dafür gibt es laut Friedrichs mehrere Gründe. So seien die Löhne, insbesondere in den unteren Segmenten, in den 1990er-Jahren in Deutschland stark gesunken und danach nicht wieder gestiegen. Darüber hinaus seinen bestimmte Berufe outgesourced worden, eine Folge davon: „Die Arbeit wurde verdichtet und die Arbeitsbedingungen wurden prekärer.“ Zudem seien Sozialabgeben und Wohnkosten gestiegen, die Zinsen dagegen nicht.« Das alles Zusammen führe dazu, dass die Menschen zwar das Gefühl haben, sie strampeln sich wahnsinnig ab, aber sie kommen nie auf die sichere Seite.

Malochen – aber für was? So kann man die Fragestellung zusammenfassen, der Michael Jäger in seinem Beitrag Malochen für das Gleichgewicht nachgeht: »Angesichts der Klimakrise entpuppt sich manch Tagwerk als schädlich, während anderes durch Bullshit-Jobs ersetzt wird.« Geht es beim Tag der Arbeit um die Arbeiter oder um die Arbeit? »Natürlich ist das eine nie ohne das andere, trotzdem können beide einander „entfremdet“ sein. Weil zur Arbeit nicht nur die Arbeitenden, sondern auch ihre Arbeitsprodukte gehören, das, was ihre Arbeit hervorbringt. Diese Arbeitsprodukte können sinnvoll sein oder sinnlos; wenn sie aber sinnlos sind, ist es auch die Arbeit.«

»Es kann auch sein, dass Arbeitsprodukte ihren guten Sinn, den sie einmal hatten, verloren haben. Das ist heute in nicht gerade unwichtigen Teilen der Produktion der Fall, man denke nur an den Kohleabbau. Und es gibt weitere Probleme: Die Digitalisierung reduziert die Zahl der Beschäftigten in Bereichen, wo früher viele gebraucht wurden; das führt vielleicht nicht zu dauerhafter Arbeitslosigkeit, zwingt aber die „Freigesetzten“ oft dazu, sich im Niedriglohnsektor oder in Bullshit-Jobs zu verdingen. Diejenigen aber, die nicht entlassen werden, überwachen oft nur den Selbstlauf der Maschinen. Sie sehen mit an, wie die menschliche Arbeit zurückgedrängt wird.«

Jäger sieht uns alle als Zeugen einer Krise des Arbeitssinns. Und den darf man nicht überschätzen: »Wer den Arbeitssinn für nebensächlich hält, weil er oder sie nur auf die subjektive Seite der Arbeit schaut – Arbeitsbedingungen, Lohnhöhe, Arbeitsplatzsicherheit –, muss daran erinnert werden, dass die klassische Arbeiterbewegung keineswegs so dachte. Nehmen wir den Kohleabbau, der heute einen so schlechten Ruf hat. Er war im 19. Jahrhundert so außerordentlich sinnvoll, dass er als Paradigma von Arbeitssinn gar nicht übertroffen werden kann – auch heute noch nicht.« Aber das mit dem Arbeitssinn ist ja keine feststehende Konstante: »Landwirtschaft, Gebäudetechnik, Gesundheit, Verkehr und so weiter, das wird nie seinen Sinn verlieren. An den Sinn der Gesundheitsarbeit denkt man in der Corona-Krise jeden Tag. Aber selbstverständlich ist die Rohstoffgewinnung nicht weniger sinnvoll.« Wobei man die Ausführungen des Verfassers ergänzend kommentieren möchte: Auch wenn „Gesundheitsarbeit“ (die ja eigentlich „Krankheitsarbeit“ ist) per se Sinn zu haben scheint, werden doch viele „Gesundheitsarbeiter“, beispielsweise in den nach Fallpauschalen finanzierten und auf Überschussproduktion getrimmten Kliniken, ziemlich oft die Sinnfrage ihres Tuns stellen, wenn sie zu spüren bekommen, dass sie Teil einer Maschinerie sind, in der Fälle produziert und abgearbeitet werden, die zuweilen jenseits dessen liegen, was sinnvoll ist für die Patienten. Es ist also noch schwieriger.

Und weil wir es in diesem Beitrag schon von Arbeitskämpfen hatten, werfen wir noch einen Blick in diesen Artikel mit einer Überschrift, in der das wieder aufgerufen wird, wenn auch mit einem Fragezeichen versehen – Schöner neuer Arbeitskampf? -, aber in Verbindung mit etwas, das man nicht sofort mit Arbeitskampf verbinden würde: Facebook, Twitter und Instagram. Pflegekräfte, Lehrer, Verkäuferinnen und andere Berufsgruppen »nutzen Soziale Medien gezielt, um Erfahrungen aus ihrem Arbeitsleben zu teilen. Mal ironisch witzig, mal pädagogisch, mal wütend. Und sie stellen Forderungen. Für mehr Geld, mehr Personal, bessere Arbeitszeiten. Eine Kollektivvertretung brauchen sie dafür erstmal nicht, ihr Hebel ist nicht die Gewerkschaft, sondern Twitter, Instagram und Facebook.« Ein interessanter Aspekt dabei: »Dass der Mensch dabei nicht komplett hinter seinem Beruf verschwindet, aber auch nicht aus ihm heraustritt, ist die eigentliche Stärke dieser Kommunikation. Der Mensch verbürgt Authentizität und Individualität. Die Berufszugehörigkeit bezeugt Expertise und Relevanz.«

Aber was den einen oder anderen an dieser Stelle sicher umtreiben wird, das spricht Daniel Boldt in seinem Artikel offen an: »Die Frage ist, ob sich diese Aufmerksamkeit in höhere Löhne umwandeln lässt. Oder ob Likes auf Twitter am Ende doch nur virtuelles Balkonklatschen ist.« Stellt man diese Frage Profis in den Gewerkschaften, dann stößt man erst einmal auf Skepsis. Als Beispiel wird der Pressesprecher der Gewerkschaft ver.di zitiert, Jan Jurczyk: „Ja, für eine breite Mobilisierung und beim Problematisieren übergeordneter Themen funktionieren Soziale Medien sehr gut.“ Dann das Aber: „In der konkreten Tarifarbeit muss man genau abwägen, was man macht.“ »Noch wichtiger als der rechtliche Rahmen ist Jurczyk aber … etwas anderes. „Soziale Medien zielen auf Individualisierung“, sagt er. Gewerkschaftsarbeit sei dagegen eine kollektive Angelegenheit.« Das klingt doch jetzt erst einmal ach einem sehr konstruierten Entweder-Oder. Aber der Gewerkschafter denkt dabei an etwas anderes, das uns in diesem Beitrag hier schon mehrfach begegnet ist: er denkt an den Kern des Arbeitskampfes: „Man kann versuchen Arbeitsbedingungen in der Breite zu kritisieren und zu skandalisieren, auch in den Sozialen Medien“, so Jurczyk. „Das Entscheidende ist aber, dass genug Menschen im Betrieb gewerkschaftlich organisiert und bereit sind, im Zweifel ihre Arbeit niederzulegen. So lange das Unternehmen nicht an seinem ökonomisch empfindlichsten Punkt getroffen wird, nützt eine Reichweite in irgendwelchen anderen Sphären wenig.“

Nun könnte man diesem berechtigten Hinweis aus dem Inneren der Arbeitsbeziehungen und der Notwendigkeit, immer auch mit dem letzten Mittel zumindest drohen zu können, dahingehend ergänzen, dass Reichweite und Organisationsgrad zusammenhängen. In diesem Kontext wird Derya Gür-Şeker zitiert, die an der Universität Duisburg-Essen unter anderem über Kommunikation von Gewerkschaften in Sozialen Medien forscht: „Es fehlt den Gewerkschaften der Blick auf diese neuen Kanäle. Sie brauchen diese Gesichter im Netz.“

Das mag alles richtig sein, aber natürlich sollte man auch pragmatisch anerkennen, dass die Früchte in den sozialen Netzwerken ziemlich weit oben hängen, dass man dort, in den umkämpften Kernzonen der uns beherrschenden Aufmerksamkeitsökonomie, mit zahlreichen anderen Anbietern in einem harten Wettbewerb steht, angereichert um das grundsätzliche Dilemma, dass episodenhafte Skandalisierungen zwar eine große Reichweite produzieren können (für den Moment) und den Eindruck erwecken, man würde viel mehr und ganz andere Leute erreichen, aber man muss dann doch oft zur Kenntnis nehmen, dass so schnell, wie sich eine Empörungswelle aufgebaut hat, diese auch schon wieder in sich zusammenfällt und weiterwandert.

Es sind eben keine einfachen Zeiten. In jeder Hinsicht.