Die hochschulische Pflegeausbildung bricht ein. Deutscher Pflegerat und Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft schlagen Alarm und fordern ein Gegensteuern

»Es gibt bereits Hinweise darauf, dass hierzulande im vergangenen Jahr Tausende Pflegekräfte in Krankenhäusern und der Altenpflege aufgehört haben. Ich weiß aus Gespräche mit Pflegenden, dass sie nach über einem Jahr Dauerstress in der Pandemie tatsächlich körperlich und seelisch erschöpft sind. Ich höre oft: „Ich kann nicht mehr. Ich halte das bis zur Rente nicht mehr durch. Ich schaue mich nach Alternativen um.“ Viele haben das Vertrauen in die Politik verloren, dass sich die Situation grundlegend ändert. Wenn wir nicht schnell das Ruder herumreißen, riskieren wir tatsächlich einen massenhaften Ausstieg aus dem Beruf.« Das sagt Andreas Westerfellhaus. Er ist ausgebildeter Krankenpfleger und hat zunächst auf einer Intensivstation gearbeitet. Später studierte er Pädagogik für Gesundheitsberufe und wurde Lehrer in der Krankenpflegeausbildung. Von 2001 bis 2008 war er Vizepräsident und von 2009 bis 2017 Präsident des Deutschen Pflegerates. Auf Vorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wurde er im Frühjahr 2018 zum Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung ernannt. Das Zitat findet man in diesem Interview von Tim Szent-Ivanyi: Westerfellhaus: „Pflegekräfte fühlen sich oft zu Assistenten der Ärzte degradiert“. Und er spricht neben einer notwendigen Verbesserung der Personalschlüssel, verlässlichen, familienfreundlichen Arbeitszeiten und einer „fairen“ Bezahlung auch einen anderen wichtigen Bereich an: die Qualifikation und was man damit (nicht) machen darf.

»Examinierte Pflegekräfte können nach ihrer dreijährigen Ausbildung extrem viel, fühlen sich aber oft zu Assistenten der Ärzte degradiert. Sie sind in der Lage, Infusionen zu legen, die Wundversorgung zu übernehmen oder die Beatmungsentwöhnung zu steuern. Doch oft dürfen sie das nur machen, wenn mal wieder kein Arzt da ist. In Deutschland ist ihr Zuständigkeitsbereich so begrenzt wie sonst nirgendwo in Europa. Das ist übrigens ein großes Hindernis bei dem Versuch, Pflegekräfte aus dem Ausland zu gewinnen. Die wundern sich immer, was sie in Deutschland alles nicht machen dürfen.«

Natürlich wird er dann befragt, was sich ändern müsste: »Sogenannte heilberufliche Tätigkeiten zählen formal nach wie vor nicht zum Zuständigkeitsbereich von Pflegenden. Das muss dringend geändert und rechtlich abgesichert werden. Dies wäre ein deutliches Signal dafür, dass sich die Qualifizierung durch eine Fachweiterbildung lohnt und die Übernahme von Verantwortung anerkannt wird, auch finanziell. Die Ärzte müssen ihren Widerstand gegen eine Übertragung von Aufgaben auf den Pflegenden endlich aufgeben. Sie müssen begreifen, dass eine flächendeckende Versorgung auch in ländlichen Regionen nur mit einer sinnvollen Arbeitsteilung zwischen Medizinern und Pflegekräften zu schaffen ist.«

Es fehlt hier der Hinweis, dass seit Jahrzehnten diskutiert und gefordert wird, als ein Element einer Aufwertung der Pflegeberufe auch eine (wohlgemerkt) Teil-Akademisierung des Berufsfeldes umzusetzen und auszubauen.

Exkurs: Die Aktivitäten der Robert Bosch Stiftung hinsichtlich einer Akademisierung des Berufsfeldes:
➞ 1992 veröffentlicht die Robert Bosch Stiftung die Denkschrift „Pflege braucht Eliten“. Der Pflegeberuf sollte durch Akademisierung wettbewerbsfähig, im internationalen Vergleich anschlussfähig und auf die Herausforderungen des demografischen Wandels vorbereitet werden. „Pflege braucht Eliten“ gab den Anstoß für die Einrichtung einer Vielzahl von Pflegestudiengängen.
➞ Im Jahr 2000 folgt die Veröffentlichung Pflege neu denken. Zur Zukunft der Pflegeausbildung. Der Bericht der „Zukunftswerkstatt Pflegeausbildung“ empfiehlt eine umfassende Reform der Pflegeberufe und erläutert Rahmen und Prinzipien gestufter Pflegeausbildungen von der grundständigen Pflegeausbildung bis zur Promotion.
➞ 2018: Mit Eliten pflegen knüpft an die im Jahr 1992 erschienene Denkschrift „Pflege braucht Eliten“ der Robert Bosch Stiftung an. „Pflege braucht Eliten“ war die Antwort auf den Pflegenotstand Anfang der 1990er Jahre. „Pflege braucht Eliten“ gab den Anstoß für die Einrichtung einer Vielzahl von Pflegestudiengängen, insbesondere im Bereich Pflegemanagement und Pflegebildung. Das Manifest „Mit Eliten pflegen“ soll aufzeigen, welche Voraussetzungen Spitzenpflege braucht und warum dringend mehr akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen in allen Bereichen der Versorgung notwendig sind, um die Herausforderungen der Zukunft im Sinne exzellenter Pflege und der Menschen mit Pflegebedarf zu meistern. Es ist ein ausdrückliches Bekenntnis zum Einsatz akademisch qualifizierter Pflege in der direkten Versorgung im Zusammenspiel mit Pflegefachpersonen nicht-akademischer Qualifizierung.

»Vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftlicher Bedarfe und zunehmend komplexeren Anforderungen an den Pflegeberuf kommt einer hochschulischen Qualifizierung von Pflegefachpersonen eine bedeutsame Rolle zu. Für die Bewältigung der Anforderungen an die Gesundheitsversorgung einer älter werdenden Bevölkerung werden neue und erweiterte Pflegekompetenzen auf wissenschaftlicher Basis benötigt, die nur im Rahmen eines Hochschulstudiums entwickelt werden können. Forschungsergebnisse belegen die Bedeutung der hochschulischen Pflegeausbildung für die Qualität der pflegerischen Versorgung.« Diese Aussage finden man in diesem gemeinsamen Statement:

Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft und Deutscher Pflegerat zur Situation der primärqualifizierenden Pflegestudiengänge an den deutschen Hochschulen, Berlin, März 2021

Dort heißt es weiter mit einem kurzen Blick zurück und auf die aktuellen Vereinbarungen, u.a. im Kontext des Pflegeberufereformgesetzes:

»Seit 2004 haben sich vor dem Hintergrund der damaligen Öffnungsklausel im Krankenpflegegesetz in 15 Bundesländern (Modell-) Studiengänge mit ca. 600 Studienplätzen in zumeist dualen Strukturen mit Pflegeschulen entwickelt. Im Rahmen der Novellierung des Berufegesetzes (PflBG) hat der Gesetzgeber ab 2020 erstmalig die Gelegenheit geschaffen, Pflege an Hochschulen und Universitäten primärqualifizierend zu studieren. Neue Studiengänge wurden entwickelt oder bisherige duale Studiengänge umgewandelt. Diese Entwicklung steht im Einklang sowohl mit der ausdrücklichen Zielsetzung der Konzertierten Aktion Pflege (KAP), die Anzahl der Studienplätze für eine hochschulische Pflegeausbildung bis Ende 2023 bundesweit deutlich zu erhöhen, als auch mit den Empfehlungen des Wissenschaftsrats, der eine Quote von 10-20 % hochschulischer Qualifikation eines Ausbildungsjahrgangs für sinnvoll erachtet.«

Hier finden wir auch eine – in der Fachdiskussion kritisierte, weil als viel zu gering dimensionierte – Quantifizierung der Teil-Akademisierung, die auf 10-20 Prozent taxiert wird. Das geht zurück auf den Wissenschaftsrat. 2012 hat der sich für eine partielle Akademisierung der Gesundheitsberufe ausgesprochen und damit auf die aktuellen Entwicklungen im Gesundheitssystem reagiert. Mit diesen Empfehlungen versucht der Wissenschaftsrat künftigen Entwicklungen im Gesundheitssystem und der zunehmenden Bedeutung interprofessioneller Ausbildungselemente Rechnung zu tragen. Fachpersonal, das in komplexen Aufgabenbereichen der Pflege, der Therapieberufe (Physio-, Logo- und Ergotherapie) und der Geburtshilfe tätig ist, soll nach Auffassung des Wissenschaftsrats künftig anteilig auch an Hochschulen ausgebildet werden. Zehn bis 20 Prozent eines Ausbildungsjahrgangs sollen in primärqualifizierenden patientenorientierten Studiengängen mit einem Bachelor-Abschluss zur unmittelbaren Tätigkeit am Patienten befähigt werden. Vgl. dazu ausführlicher:
➞ Wissenschaftsrat (2012): Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen, Berlin: Juli 2012

Nun kann man wie angesprochen bereits die Zielgröße von 10-20 Prozent als deutlich zu niedrig kritisieren. Aber es ist offensichtlich in der Praxis noch schlimmer, wenn man in das Statement der DGP und des DPR schaut

Hochschulische Pflegeausbildung bricht ein (wo sie doch ausgebaut werden soll). Weniger als die Hälfte der wenigen zur Verfügung stehenden Studienplätze aktuell besetzt

»Allerdings zeichneten sich im Laufe des Jahres 2020 im Bereich der primärqualifizierenden pflegerischen Studiengänge ein deutlicher Rückgang der angebotenen bzw. besetzten Pflegestudienplätze ab. So waren an vielen Hochschulen mit primärqualifizierenden Pflegestudiengängen weniger als 50% der vorhandenen Studienplätze belegt.«

Wir kann das sein? Die Hintergründe für diese besorgniserregende Entwicklung liegen nach Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft und des Deutschen Pflegerats in fehlenden bzw. unzureichenden Regelungen des Pflegeberufegesetzes. Drei Problempunkte werden aufgerufen:

Fehlende Vergütung der Praxiseinsätze der Studierenden: »Ein wesentlicher Grund für den aufgezeigten Negativtrend bei den Studienplätzen wird in der fehlenden Vergütung der Praxiseinsätze gesehen, die in nahezu ebenso hohem Maße zu leisten sind wie in der berufsfachschulischen Ausbildung.« Dazu muss man wissen: Die hochschulische Pflegeausbildung umfasst einen Arbeitsaufwand von mindestens 4.600 Stunden. Davon entfallen mindestens 2.100 Stunden auf die Lehrveranstaltungen und mindestens 2.300 Stunden auf die Praxiseinsätze (vgl. § 30 PflBG). Während jedoch in der berufsfachschulischen Ausbildung eine Ausbildungsvergütung gezahlt wird, haben die Pflegestudierenden keinen Anspruch auf Entlohnung. Der Umfang der vorgeschriebenen Praxiseinsätze mit zu leistendem Schicht- und Wochenenddienst erschwert zudem die Möglichkeit, nebenbei einer Beschäftigung nachzugehen, wie bei anderen Studierenden oftmals üblich.

Verhaltene Kooperationsbereitschaft bei Praxispartnern aufgrund fehlender Refinanzierung der Praxisanleitung: »Mit der Alleinzuständigkeit der Hochschulen sowohl für die theoretischen als auch für die praktischen Anteile des Pflegestudiums ist die Notwendigkeit verbunden, schriftliche Kooperationsverträge mit Praxispartnern aus dem Gesundheitsbereich zu schließen. Darin müssen sich die Kooperationspartner verpflichten, eine 10%ige Praxisanleitung der Studierenden durch (hochschulisch) qualifizierte Anleiter*innen sicherzustellen. Allerdings erfährt die Praxisanleitung keine Refinanzierung aus dem Ausbildungsfonds. Sie muss von den Einrichtungen selbst finanziert werden – ein Umstand, der von den Pflegeeinrichtungen vielfach kritisiert wird und der die Kooperationsbereitschaft nicht unbedingt fördert.«

Unzureichende Ausstattung der Hochschulen: »Die Errichtung eines primärqualifizierenden Pflegestudiengangs geht für die Hochschulen mit einem erheblichen Investitionsbedarf einher. Der hohe Praxisanteil erfordert eine personelle Aufstockung insbesondere im akademischen Mittelbau für die Koordination der Praxiseinsätze und fachliche Begleitung der Studierenden in ihren Praxiseinsätzen. Ressourcen werden ferner für die Einrichtung und Ausstattung von Skills Labs (Simulationslaboren) benötigt, wo die Studierenden in kleinen Gruppen pflegerische Handlungen einüben und reflektieren können. Bislang erfahren die Hochschulen allerdings nur unzureichende finanzielle Unterstützung bei dem Auf- und Ausbau der Studiengänge.«

In den genannten drei Bereichen könnte man natürlich seitens der Politik tätig werden, wenn man denn wollte.

Und das Statement der beiden Verbände endet mit einem Ausblick, was man schaffen müsste, nur um die wohlgemerkt wenig ambitionierten Ziele einer Teil-Akademisierung von 10-20 Prozent zu erreichen:

»Um eine höhere Akademisierungsquote entsprechend der Zielsetzung der Konzertierten Aktion Pflege und den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zu erreichen, müssen Berechnungen zufolge in den nächsten zehn Jahren ca. 10.000 Studienplätze zusätzlich geschaffen werden. Aktuell verringert sich jedoch deren Anzahl in einigen Bundesländern. In Bezug auf die Akademisierung der klinisch Pflegenden lässt die derzeitige Situation nicht den erhofften Aufschwung, sondern vielmehr eine Abwärtsbewegung erkennen. Damit wächst die Gefahr einer weiteren Deprofessionalisierung in der Pflege.«

Natürlich könnte man alle drei Problemstellen – wenn man denn wollte – politisch bearbeiten und aufzulösen versuchen. Wenn man denn wollte.

Nachtrag: Leider konsequent: Pflegewissenschaft wird stillgelegt

In Vallendar bei Koblenz gibt es die Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PHTV). An dieser Hochschule in kirchlicher Trägerschaft wurde bereits vor vielen Jahren ein Fakultät für Pflegewissenschaft eingerichtet, die von einem Bachelor-Studium bis hin zu einer Promotion das gesamte Spektrum anbieten konnte. Hier wird bewusst bereits die Vergangenheitsform verwendet, denn damit wird in Zukunft Schluss sein. Der kirchliche Träger der Hochschule im Rang einer Universität, die Pallotiner (Gesellschaft des Katholischen Apostolates) haben nun eine Pressemitteilung herausgegeben, die unter dieser erst einmal eher technisch daherkommenden Überschrift steht: Umstrukturierung und strategische Neuausrichtung der PTHV wird fortgesetzt. Handfester und schmerzhafter wird es dann aber schon bei dem Untertitel der Meldung: „Humanwissenschaften werden ausgebaut – Pflegewissenschaft wird stillgelegt“. Lesen wir weiter: »Die Fakultät für Pflegewissenschaft wird … aus wirtschaftlichen Gründen stillgelegt, nachdem der ursprüngliche Plan, die Fakultät als deutlich verkleinerten Teil der Humanwissenschaft weiterzuführen, nicht umgesetzt werden konnte.« Dies hat die Provinzleitung der Pallottiner beschlossen. Mit welcher Begründung?

»Zwei Gründe sind für diesen Schritt ausschlaggebend: Erstens die Tatsache, dass im Markt der Pflegewissenschaft staatliche Mitbewerber auch ohne Studiengebühren tätig sind. Dies erschwert es privaten Anbietern, sich mit Gebührenfinanzierung in diesem Bereich zu behaupten. Zudem hat sich die vor einem Jahrzehnt bei der Gründung der Fakultät der Pflegewissenschaft gehegte Hoffnung, dass die Pflege in Deutschland akademisiert wird, nicht im nötigen Maße erfüllt. „In Deutschland hat die Pflege hier weniger erreicht als in anderen Ländern“, sagt Provinzial Pater Helmut Scharler.«

»Zweitens sind die Pallottiner nach dem Ausstieg der Marienhaus Holding aus der PTHV GmbH zum Jahresende 2020, alleiniger Gesellschafter und stehen damit auch finanziell in der Verantwortung. Die pflegewissenschaftliche Fakultät wurde hauptsächlich vom Partner Marienhaus getragen. Seit dem Ausstieg liegt die gesamte finanzielle Last bei den Pallottinern. Da zu wenig zahlende Studierende eingeschrieben sind und die Studierendenzahlen seit Jahren rückläufig sind, ist es der ordensähnlichen Gemeinschaft nicht möglich, die Fakultät aufrechtzuerhalten. So konnte zum Beispiel der Bachelor-Studiengang Pflegeexpertise aufgrund fehlender Nachfrage nicht gestartet werden.«

Apropos: Die Marienhaus Holding ist (noch) ein ganz großer Krankenhausbetreiber. Der Rückzug dieses Konzerns aus der Hochschule passt in das Bild, das derzeit von diesem Unternehmen gezeichnet werden muss, Vgl. dazu den Beitrag Pflegewelten 2020: Zwischen Arbeit mit Bauchschmerzen und einer 36-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich vom 13. Oktober 2020.

Wie heißt es so treffend? Am Gelde hängt’s. Zum jetzigen Zeitpunkt »hat die pflegewissenschaftliche Fakultät rund 250 Studierende, von denen rund 90 Teilnehmer aus der Kooperation mit der Universität Koblenz zur Ausbildung von Berufsschullehrern stammen. Ein großer Teil der anderen Studierenden hat die Regelstudienzeit bereits überschritten und zahlt somit auch keine nennenswerten Gebühren mehr. Die Stilllegung der Fakultät bedeutet, dass Studierende, die schon eingeschrieben sind, ihr Studium zumindest in der Regelstudienzeit beenden können, Neuaufnahmen sind nicht mehr möglich.«