Für die Erkenntnis, dass gerade die Pflegeheime in unserem Land besonders brutal getroffen werden (können) vom Corona-Virus und dass in den betroffenen Einrichtungen eine große Schneise des Todes geschlagen wurde und wird, dafür muss man nun wirklich keine Belege mehr abliefern. Seit Monaten liegen diese Erkenntnisse vor – und auch die über die sowieso schon, also bereits vor Corona intensiv beklagte und diskutierte, mit Blick auf viele Heime nur noch als skelettös zu bezeichnenden Personalausstattung, die seit dem Frühjahr 2020 in einem bis heute anhaltenden Dauermarathon versetzt wurde mit außergewöhnlichen Belastungen und zahlreichen neuen Aufgaben verbunden mit einen eigenen sehr hohen Risiko für die Pflegekräfte, ohne dass es – von partiellen Hilfestellungen abgesehen – eine systematische und nachhaltige Aufstockung des Personals gegeben hat.
Man kann das, was hier angesprochen wird, auch in den kalten, nackten Zahlen zum Ausdruck bringen. Beispiel Berlin: »Der in der Corona-Pandemie viel beschworene Schutz der vulnerablen Gruppen ist in Berlin offensichtlich nicht gelungen. In Alten- und Pflegeheimen der Stadt sind bislang 1.034 Bewohner an oder mit dem Coronavirus verstorben. Das sind fast 60 Prozent aller in Berlin seit Beginn der Pandemie registrierten Todesfälle. Fast 6.000 Bewohner und 2.622 Beschäftigte haben sich angesteckt. Damit findet fast die Hälfte des amtlich registrierten Infektionsgeschehens in den Pflegeheimen statt. Insgesamt leben etwa 30.000 Menschen in den Einrichtungen«, so Joachim Fahrun und Julian Würzer in ihrem Beitrag Berliner Pflegeheime sind die Hotspots der Pandemie. Die in diesem Artikel zitierten Zahlen stammen aus einem internen Lagebericht der Senatsgesundheitsverwaltung vom 14. Januar 2021.
»Die Zahlen zeigen auch, dass einzelne Infektionen in den Pflegeheimen stets zu sehr vielen Ansteckungen geführt haben. Im Durchschnitt waren jedes Mal rund 20 Menschen betroffen.« Und wie reagiert die Politik? »Auch wegen dieser kritischen Lage in den Pflegeheimen hat Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) vergangene Woche für Häuser mit positiven Corona-Fällen ein Besuchsverbot verhängt. Dieses soll für eine Woche nach Bekanntwerden einer Infektion gelten. Ausnahmen sind für sterbenskranke und demente Bewohner vorgesehen.« Da ist es wieder, das Besuchsverbot, das ja schon im vergangenen Jahr nach den Erfahrungen der ersten Corona-Welle Gegenstand einer überaus strittigen Debatte war (vgl. dazu ausführlicher zuletzt am 23. November 2020 hier diesen Beitrag: Nicht nur die Pflegeheime stecken im Niemandsland fest, zwischen den Fronten in Zeiten von Corona. Und immer wieder die Frage: Wer hat die Verantwortung für ein Leben zwischen Leben und Sterben?).
Die Senatorin »will mit dieser Vorschrift über die „Durststrecke“ kommen, bis in etwa drei Wochen alle knapp 30.000 Pflegeheimbewohner nach der zweiten Impfrunde vor schweren oder gar tödlichen Verläufen einer Infektion geschützt sein sollen.« Auch daran kann man erkennen, dass sich die Debatte mittlerweile erneut verengt hat, diesmal auf die Hoffnung, dass bald alles vorbei sein wird, wenn man die betroffenen Menschen durchgeimpft hat. Wenn man das denkt, dann liegt es nahe, irgendwie zu überbrücken, durchzuhalten, bis aus dem fernen Licht am Ende des albtraumhaften Tunnels ein Ausgang ins Freie wird. Das ist dann ja nur eine Frage der Zeit.
➞ Interessant an dieser Stelle ist, dass der Widerspruch gegen die Besuchsverbotsregelung diesmal aus den Einrichtungen bzw. deren Verbände vorgetragen wird, folgt man dem Artikel: »Wir verstehen nicht, warum Isolation von grundsätzlich gesunden älteren Menschen erzwungen wird, wenn sie nicht nötig ist. Wir fordern die sofortige Rücknahme der Verordnung“, sagte Alexander Slotty, Landesgeschäftsführer der Volkssolidarität. Thomas Böhlke, Geschäftsführer der Gesellschaften Altenzentrum Erfülltes Leben und Paritätisches Seniorenwohnen, sagte, er halte diese Regelungen für inakzeptabel: „Wir können wegen einer einzelnen infizierten Person nicht sämtliche Bewohner in Geiselhaft nehmen.“«
Aber schon im nunmehr vergangenen Jahr war mit Beginn der zweiten Welle klar, dass auf die Pflegeheime als Orte der Konzentration vieler besonders vulnerabler Menschen eine Menge zukommen wird und das man die Bewohner (und die dort arbeitenden Menschen) schützen muss, dass man sich nicht mehr herausreden kann, man sei durch die Entwicklung überrascht worden und hätte deshalb nicht schnell und adäquat genug reagieren können.
Und so, wie die Politik dann auch seit November 2020 mit einem sanften Teil-Lockdown und ab Mitte Dezember dann mit einem etwas härteren, weiterhin Teil-Lockdown für alle auf die rasant steigenden Fall- und Behandlungszahlen zu reagieren versuchte, wurden auch die Auflagen für die Heime erneut verschärft.
Dem Artikel über die Situation in Berlin kann man beispielsweise entnehmen:
»Seit Dezember gelten für Pflegeheime bereits verschärfte Auflagen. Angestellte müssen eine FFP2-Maske ohne Ventil tragen. Zudem sind sie verpflichtet, sich alle zwei Tage einem Schnelltest zu unterziehen. Die Organisation der umfangreichen Kontrollen bringt jedoch die Pflegeeinrichtungen „zunehmend an ihre Grenzen“, heißt es etwa aus der Alloheim Senioren-Residenz Kurt-Exner-Haus in Gropiusstadt. Dort will man Ehrenamtliche oder Minijobber zur Unterstützung bei den zahlreichen Tests gewinnen. Auch Interessenten ohne medizinischen Hintergrund wolle man auf die Liste setzen, denn perspektivisch sei ihr Einsatz aufgrund der angespannten Lage durchaus denkbar.«
Nun ist der Artikel am 15. Januar 2021 veröffentlicht worden – und offensichtlich diskutiert und überlegt man noch immer. Hätte die Frage, wer das machen soll, nicht schon längst gelöst sein müssen? Als man Anfang Dezember über die Verschärfungen diskutiert hat, da musste allen Verantwortlichen klar gewesen sein, dass die meisten Heime das nicht schaffen können, wenn. man die Testungen in dieser Schlagzahl einfach oben drauf packt bei dem, was die sowieso schon (und zusätzlich) erledigen sollen. Das kann keine behaupten, dass man das nicht hat „einschätzen“ können.
Und so war es ja auch nicht, der Personalbedarf in den wohlgemerkt am stärksten von den albtraumhaften Gefahren einer Covid-19-Infektion betroffenen Einrichtungen war den Verantwortlichen schon im vergangenen Jahr sehr wohl bewusst. Aber wieder wurden und werden wir Zeuge, was ein „ausdifferenzierter“ Föderalismus in Verbindung u.a. mit der Tatsache, dass manche Menschen auf sehr sicheren Jobs einen ausgedehnten Weihnachts- und Jahreswechselurlaub für eine gleichsam naturgesetzliche Selbstverständlichkeit halten, für Folgen haben kann.
Und die im folgenden zitierte Rekonstruktion der letzten Woche hat keinesfalls nur die Funktion einer Vergangenheitsbewältigung, weil ja jetzt alles anders wird durch die Impfungen. Allerdings kann man diesen Eindruck bekommen, dass viele hoffen, dass es so kommt, dass man dann die Heime „abhaken“ kann als problematische Baustelle. Nur – das wissen wir derzeit schlichtweg nicht. Was man derzeit sagen kann: Eine Impfung soll eine schwere Erkrankung bei den Geimpften verhindern, aber keiner kann uns zur Zeit versichern, dass die Geimpften auch nicht mehr ansteckend sein werden. Dazu fehlt die wissenschaftliche Evidenz. Das bedeutet aber, dass es sehr wohl noch lange Zeit so sein kann bzw. wird, dass die umfangreichen und personalintensiven Schutzmaßnahmen in den Heimen fortgeführt werden müssen.
„Kriegsgebiet“ Altenheim? Wenn, dann hinsichtlich der Opferzahlen. Der Einsatz von Bundeswehrsoldaten und die Zuckungen des Föderalismus
»Warum Soldaten Pflegeheime beim Schutz vor dem Virus unterstützen – und nicht Freiwillige, die nur darauf gewartet hatten, zu helfen. Eine Rekonstruktion« – darum geht es in dem Artikel Bis jemandem der Kragen platzte von Jasper von Altenbockum in der Frankfurter Allgemeine Zeitung. Wir lernen hier so einiges über „Abläufe“, „Prozesse“ und vor allem, was so alles schief laufen kann.
Altenbockum beschreibt die Ausgangslage so: »Am Tag vor Heiligabend hatte es eine der vielen Telefonkonferenzen zur Lage an der Corona-Front gegeben. Hilfsorganisationen, kommunale Spitzenverbände und das Kanzleramt berieten über die Alten- und Pflegeheime. Seit Wochen, spätestens aber seit dem 13. Dezember stand fest, dass viele Heime mit ihrer Situation überfordert waren. Es fehlte schlichtweg das Personal dafür. Die Ansteckungen stiegen, die Zahl der Toten stieg, bald würden es mehr als tausend am Tag sein – viele davon in und aus den Alten- und Pflegeheimen.«
»Am 13. Dezember hatte die Bundesregierung verfügt, dass in den Heimen Schnelltests organisiert werden müssten, um das Sterben in den Heimen aufzuhalten. Ein Brandbrief aus den Reihen der Wohlfahrtsverbände an das Kanzleramt stellte kurze Zeit später fest, dass daran angesichts des Personalmangels in vielen Heimen nicht zu denken sei.«
Zwangsläufige Fragen in so einer Situation: Wo könnte dieses Personal herkommen, wie sollte es an die Heime vermittelt werden, wer stellt fest, wie hoch der Bedarf tatsächlich ist? Es ist naheliegend, dass man diese Fragen eigentlich nur vor Ort beantworten kann – und vor Ort sind auch die mehr oder weniger dichten Netzwerke an Helfern aus den unterschiedlichsten Bereichen, die man hätte einspannen können und müssen.
»Am 23. Dezember gab es wieder eine Telefonkonferenz. Die Landkreise boten an, den Bedarf festzustellen. Vom Landratsamt über Diakonie, Rotes Kreuz oder Caritas sollte die Kette der Rekrutierung von Helfern dann in die Pflegeheime reichen – unkompliziert und schnell.«
»Doch so einfach ist es dann doch nicht. Das Bundesgesundheitsministerium wedelte zwar mit fünf Euro pro Schnelltest, die es zu verdienen gab. Dennoch stellte sich die Frage, wer den Lohnausfall bezahlt, der entsteht, wenn die Schnelltests zu entsprechenden Zeiten anstehen.«
Und eine weitere bezeichnende Erfahrung musste man in diesen Tagen machen: »Über Weihnachten und Neujahr gab es außerdem ein anderes Problem: Aus den Ministerien der Länder, die das zu regeln hätten, herrschte Funkstille.« Weil schlichtweg wahrscheinlich keiner mehr da war.
Nun rutschen wir schon in das neue Jahr – und am Anfang sollte die große Runde der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin stattfinden. Die Infektionswellen und das Sterben in den Heimen gingen zwischenzeitlich weiter. Also nächster Versuch:
»Vor der Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin am 5. Januar lag deshalb ein neuer Vorschlag aus dem Kanzleramt auf dem Tisch: Die Bundesagentur für Arbeit sollte die Sache in die Hand nehmen.«
»Es folgte eine Telefonkonferenz nach der anderen. Wieso sollte die Bundesagentur für Arbeit die Sache unkomplizierter regeln können als die Kommunen? Wer würde Anrufer, die sich über eine Hotline melden sollten, darauf prüfen, ob sie überhaupt geeignet sind? Wer würde dafür sorgen, dass die richtigen Leute am richtigen Ort sind? Wer würde die Arbeitsverträge abschließen?«
Was macht man in so einer Situation – wenn viele ganz unterschiedliche Akteure irgendwie mit im Topf rühren wollen? Genau, man zimmert auf dem Papier einen Kompromiss: »Am 5. Januar einigten sich die Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin auf eine Formulierung, die alles offenließ. „Die kommunalen Spitzenverbände werden dabei koordinieren, um den regionalen Bedarf zu klären, und die Bundesagentur für Arbeit wird die Vermittlung unterstützen.“ Die Hilfsorganisationen sollten „die Schulungen“ übernehmen.«
Der weitere Verlauf wird von Altenbockum dann so beschrieben: »Danach passierte viel, geschah aber erst einmal nichts. Es gab wieder Telefonkonferenzen. Am 8. Januar stand noch immer nicht fest: Wer rekrutiert nun, die Bundesagentur, die Hilfsorganisationen? Aus den Ländern war weiterhin nichts zu hören. Aus einzelnen Kreisen wurde berichtet, dass die Freiwilligen bereitstünden. Das Kanzleramt trommelte weiter für die Bundesagentur. Die Kanzlerin telefonierte mit dem Roten Kreuz: Was denn gegen die Bundesagentur spreche? Währenddessen liefen Gespräche, wie das alles bezahlt werden könne, ohne ganz neue bürokratische Wege gehen zu müssen. Über einen Topf des Gesundheitsministeriums? Über die Länder? Und wieder gab es Telefonkonferenzen. Die Nerven lagen blank.«
Das muss der Zeitpunkt gewesen sein, als irgendjemandem der Kragen platzte.
Laut Altenbockum »spricht viel dafür, dass dieser Jemand Ralph Brinkhaus gewesen ist. Am Dienstag dieser Woche gab der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion vor der Online-Sitzung der Bundestagsfraktion bekannt, der Bund werde zusätzliche personelle Unterstützung „etwa durch die Bundeswehr“ anbieten. Das war auch etlichen Beteiligten neu, aber mit Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer abgestimmt.«
»Die hohen Sterberaten in Pflegeheimen und unter Hochbetagten bezeichnete Brinkhaus als „tragisch“ – und fügte hinzu: Man müsse sich die Frage stellen, „ob wir darauf in den vergangenen Wochen angemessen reagiert haben“.« Nein, das war und ist nicht tragisch, sondern eine Katastrophe und „angemessen“ kann man gar nicht reagieren, sondern die Anstrengungen müssten weit, sehr weit über einen angemessenen Umgang liegen. Also eigentlich. Aber egal, nun also die Bundeswehr. Aus deren Corona-Kontingent von insgesamt 20.000 Soldaten soll immerhin die Hälfte für die Heime zur Verfügung gestellt werden.
Nicht vergessen – wir sind jetzt schon in der Mitte des Januar 2021: »Merkel telefonierte mit den dreizehn Landräten, den dreizehn Vorsitzenden der Landkreistage in den Flächenländern, und bot ihnen die Hilfe der Bundeswehr an. Ein einmaliger Vorgang. Noch immer hatten sich die Sozial- und Gesundheitsministerien der Länder nicht gemeldet, in deren Zuständigkeit die Sache eigentlich fällt.«
Aber auch diese Verengung der Bundesperspektive, erst die Bundesagentur für Arbeit (BA), jetzt die Bundeswehr, kann und muss kritisch gesehen werden: »Von den Freiwilligen der Hilfsorganisationen, von Katastrophenschutz und Feuerwehr, die seit Wochen bereitgestanden hätten, war nun gar nicht mehr die Rede.«
Apropos BA: »Was aber wurde aus dem Gedanken mit der Bundesagentur für Arbeit, der eigentlich schon verworfen war? Das war zu diesem Zeitpunkt auch der Bundeswehr und den Landkreisen noch nicht ganz klar. Sollten sie oder sollten die Agentur und deren Außenstellen die Koordinierung übernehmen, welche Soldaten wo eingesetzt würden? Die meisten Kreise sehen sich nicht in der Lage, auch noch die Aufgabe der Hilfsorganisationen zu übernehmen. Da die Verbände aber aus dem Rennen waren, musste nun jemand anderes gefunden werden, die Soldaten an die Heime zu vermitteln, also dafür zu sorgen, dass die richtigen Leute an die richtigen Orte kommen. Die personellen Kapazitäten der Kreisverwaltungen sind schließlich erschöpft.«
Der Chef des Bundeskanzleramtes, Helge Braun, hat zwischenzeitlich klar gestellt (also auf dem Papier), »dass die Bundeswehr nur vorübergehend, maximal drei Wochen, tätig werden soll. Parallel soll „Testpersonal“ rekrutiert werden – über eine Hotline der Bundesagentur mit anschließender Schulung durch die Hilfsorganisationen.«
Jetzt kommen die zahlreichen Schleifen, die der Vorgang über Wochen im föderalen Dickicht gezogen hat, wieder unten an: »Die Heime und ihre Träger bekommen neun Euro pro Test, die freiwilligen Tester zwanzig Euro Stundenlohn. Darüber wird sich ein Feuerwehrmann freuen, der am Ort helfen möchte; nicht aber darüber, dass er sich dafür erst über die Hotline bewerben muss, um anschließend von seinen Bekannten beim Kreis-DRK geschult zu werden.«
Ach ja, der Glaube, der so oft enttäuschte, darf auch nicht fehlen: »Das Problem in den Heimen werde sich durch die Impfungen erledigen, hieß es in den Beratungen. Aber es dauere noch acht Wochen bis zur Immunisierung durch die Zweitimpfung«, berichtet Altenbockum in seinem Artikel über die Sichtweise der Verantwortlichen. Nein, wie gesagt, selbst nach der Zweitimpfung ist es eben nicht klar, dass sich das Problem in den Heimen „erledigt.“ Und das können und sollten die Verantwortlichen nicht nur wissen, das müssen sie berücksichtigen, wenn sie halbwegs professionell arbeiten würden.
Man ahnt schon, es wird bald eine mögliche Fortsetzungsgeschichte geben, mit vielen Telefon- und Videokonferenzen.