„Die meisten sind gut versorgt“ und gleichzeitig: Die Altersarmut wird weiter wachsen. Kein Widerspruch

»Wer bei Google das Wort Altersarmut eingibt, kommt auf mehr als 1,1 Millionen Treffer. Darin spiegelt sich wider, dass viele Menschen in Deutschland, vor allem die Jüngeren, ein finanziell unsicheres Leben im Ruhestand befürchten. Die meisten Rentner heute müssen sich deshalb wohl keine Sorgen machen. Dies zeigt der neue Alterssicherungsbericht 2020 der Bundesregierung. „Die heutige Rentnergeneration“, heißt es in der 275 Seiten starken Analyse, „ist überwiegend gut versorgt.“ Ihr Alterseinkommen habe sich in den vergangenen Jahren sogar „insgesamt günstig“ entwickelt«, so Thomas Öchsner unter einer endlich mal positiv daherkommenden Überschrift: Vielen Rentnern geht es gut. Und dann wird nachgeschoben: »In den vergangenen zehn Jahren stiegen … die Altersbezüge deutlich stärker als die Inflationsrate. Rentner gewannen zuletzt an Kaufkraft – auch das bestätigt der neue Alterssicherungsbericht … Ein älteres Ehepaar verfügt laut der Analyse im Durchschnitt über monatlich 2.907 Euro netto, alleinstehende Männer über 1.816 Euro, Frauen über 1.607 Euro.«

Wer noch mehr Zahlen haben möchte, der kann gleich in das Original reinschauen, in den alle vier Jahre von der Bundesregierung erstellten und veröffentlichten Alterssicherungsbericht:

➔ Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2020): Ergänzender Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht 2020 gemäß § 154 Abs. 2 SGB VI (Alterssicherungsbericht 2020), Berlin 2020

Altersarmut ist kein Problem in unserem Land, das hört und liest man immer wieder – und die zitierten Zahlen scheinen das auch unmittelbar zu bestätigen. Aber Schein bleibt Schein und wird nicht zum Sein, nur weil man es immer behauptet. Tatsächlich haben wir bereits in den zurückliegenden Jahren einen überdurchschnittlichen Anstieg der Armutsbetroffenheit bei den älteren Menschen. Wenn man „richtig“ rechnet. Und diese Entwicklung, die sich in den vor uns liegenden Jahren unter Fortschreibung der heutigen Bedingungen noch deutlich verstärken wird, wenn viele von Einkommensarmut bedrohten Senioren in das Rentenalter kommen, steht nicht im Widerspruch zu der gleichzeitig beobachtbaren Zunahme der Zahl und des Anteils älterer Menschen, die materiell sehr gut bestückt ihren Lebensabend werden verbringen können.

Altersarmut ist heute schon ein reales und leider an Gewicht gewinnendes Problem – das merkt man vor allem vor Ort, wo die konkreten Lebenslagen der Menschen sichtbar werden. Genau diese unmittelbare Betroffenheit ist sicher der Grund, warum – um nur eines von vielen Beispiele zu erwähnen – das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) das Thema aufgegriffen hat und zugleich versucht, Handlungsperspektiven aufzuzeigen: Altersarmut in Kommunen nimmt zu – frühzeitiges Handeln gefragt, so ist eine Mitteilung des Instituts überschrieben:

»Die Altersarmut in Deutschland wird zunehmen. Das Ausscheiden der „Babyboomer“ aus dem Erwerbsleben – nicht selten mit gebrochenen Arbeitsbiografien – sowie die Absenkung des Rentenniveaus bis zum Jahr 2030 werden erheblich dazu beitragen … Alte Menschen sind gleich mehrfach von Benachteiligungen betroffen, und Armut kann dies noch verstärken: Es ist schwieriger, altersgerechte und bezahlbare Wohnungen in einem passenden Wohnumfeld zu finden. Oft ist die Mobilität durch hohe Fahrtkosten eingeschränkt. Darüber hinaus benötigen alte Menschen häufig besondere Unterstützung, die zusätzliche Kosten verursacht – Mobilitätsunterstützung, Dienstleistungen, besonderer Sanitätsbedarf. Dazu reichen die meist geringen Einkommen nicht aus. Auch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist ohne ausreichenden finanziellen Spielraum eingeschränkt. Zudem ist Altersarmut oft ein Tabuthema. Scham und Schuldgefühle verhindern, dass alte Menschen auf ihre Not hinweisen und Hilfe von Ämtern und Wohlfahrtsverbänden annehmen. Diese Einschränkungen können zusätzlich dazu führen, dass alte Menschen vereinsamen.«

Dieser kurzen, völlig zutreffenden Diagnose muss man nichts hinzufügen. Das Deutsche Institut für Urbanistik hat in drei Fallstudienstädten – konkret Bielefeld, Hamm und Kiel – untersucht, wie Kommunen auf diese zunehmenden Notlagen reagieren (können). »Es zeigt sich, dass es bislang nicht üblich ist, die wachsende Altersarmut zu einem gesonderten Handlungsfeld zu machen. Städte sind daher bislang wenig darauf vorbereitet, solche Armutssituationen durch ausgleichende Maßnahmen zu entschärfen. Zudem verfügen die Kommunen nicht über gesicherte Daten über alte Menschen, die von Armut betroffen sind.«

Und dann kommt eine bedeutsame Feststellung, die man nicht oft genug wiederholen und unterstreichen kann:

»Das Merkmal „Grundsicherung im Alter“ ist nicht aussagekräftig, da sich die erhebliche versteckte Altersarmut nicht darin widerspiegelt. Denn viele Bezugsberechtigte stellen aus Scham oder Unwissenheit keinen Antrag auf Grundsicherung im Alter.«

So ist das. Auch hier wurde in den vielen Beiträgen zum Thema Altersarmut immer wieder eindringlich davor gewarnt, Altersarmut auf den Bezug von Grundsicherung im Alter nach SGB XII zu reduzieren. Aber genau auf dieses Phänomen trifft man immer wieder, seitens der Politik und auch in vielen Medienberichten: »Altersarmut, die sich in den amtlichen Statistiken oft nicht ausreichend widerspiegelt, weil sich viele alten Menschen immer noch nicht beim Sozialamt melden, ist nach wie vor allem weiblich«, so beispielsweise Thomas Öchsner in seinem Artikel Vielen Rentnern geht es gut. Er spricht sie wenigstens an, die „Dunkelziffer“ der Nicht-Inanspruchnahme der Sozialhilfe-Leistung Grundsicherung im Alter (zu der erheblichen Größenordnung vgl. beispielsweise den Beitrag Ein weiteres Schlaglicht auf die Menschen hinter der Dunkelziffer der harten Altersarmut: Zur Nicht-Inanspruchnahme der Grundsicherung im Alter vom 8. Dezember 2019.) Aber letztendlich wird auch hier die Altersarmut verknüpft mit dem Grundsicherungsbezug.

Dabei ist der „richtige“ Maßstab für die Quantifizierung von Altersarmut die Verwendung einer relativen Einkommensarmutskonzeption, also die offizielle Definition einer „Armutsgefährdung“, wenn man als Alleinstehender oder als Haushalt mit zwei oder mehr Personen über weniger als 60 Prozent des Median-EInkommens verfügt. In Zahlen aus dem vergangenen Jahr: Wenn man als alleinstehende Person weniger als 1.074 Euro im Monat für alles – also Wohnen, Lebenshaltung, Teilhabe an der Gesellschaft – zur Verfügung hat, dann gilt man als „von Armut gefährdet“. Bei solchen Beträgen ist man angesichts der heutigen Preisverhältnisse einkommensarm. Aber selbst das wird von interessierter Seite immer wieder gerne bestritten – das würde „nur“ Ungleichheit“ in einer Gesellschaft abbilden, aber nicht „Armut“. Na ja.

Und wenn man den „richtigen“ Maßstab zugrundelegt, dessen Werte man übrigens seit Jahren auf den Seiten der amtlichen Sozialberichterstattung von Bund und Ländern abrufen kann, dann zeigt sich für die Jahre seit 2005 bis 2019 dieses Bild:

Und um das an dieser Stelle zu visualisieren, was damit gemeint ist, wenn hier davon gesprochen wird, dass es schon in den zurückliegenden Jahren einen überdurchschnittlichen Anstieg bei der Armutsquote der älteren Menschen gegeben hat:

Seit 2005 ist die „Armutsgefährdungsquote“ bei den „Rentnern und Pensionären“ als Teilgruppe der 65 Jahre und älteren Menschen um mehr als 60 Prozent angestiegen (wobei man berücksichtigen muss, dass bei der seitens der Statistiker zusammengefassten Gruppe die Pensionäre den Durchschnittswert nach unten drücken, denn es gibt so gut wie keine altersarmen Pensionäre), während die Armutsquote insgesamt „nur“ um 8 Prozent nach oben geklettert ist.

Und zum Abschluss, wenn hier schon mit Visualisierung gearbeitet wird, soll die folgende Abbildung aus dem Beitrag Die Dynamik des Anstiegs der Altersarmut in den vergangenen Jahren macht Sorgen vom 1. Oktober 2020 erneut aufgerufen werden, denn die verdeutlicht, wie erheblich die Differenz ist zwischen der Zahl derjenigen, die tatsächlich Sozialhilfe-Leistungen aus der Grundsicherung im Alter beziehen und der Gesamtzahl an altersarmen Senioren: